<35> sie eine Art von Folter, die weniger hart ist als die gewöhnliche, aber doch fast auf das gleiche hinausläuft.

Man verzeihe mir, wenn ich mich gegen die Folter ereifre. Ich wage die Partei der Menschlichkeit gegen einen Brauch zu nehmen, der für christliche und kultivierte Völker entehrend, ja, ich setze dreist hinzu, ebenso unnütz wie grausam ist. Quintilian, der weiseste und beredteste Rhetor, sagt von der Folter, es komme dabei ganz auf die Leibesbeschaffenheit an. (Buch V, „Über Beweise und Verteidigung.“) Ein robuster Bösewicht leugnet sein Verbrechen. Ein Unschuldiger von schwächlichem Körper bekennt etwas, das er nicht getan hat. Jemand wird angeklagt. Indizien sind vorhanden. Der Richter ist ungewiß und will sich Klarheit verschaffen. Der Unglückliche wird gefoltert. Ist er unschuldig — welche Barbarei, ihn solche Martern erleiden zu lassen! Zwingt ihn die Starke der Qual zum Zeugnis gegen sich selbst —welche schreckliche Unmenschlichkeit ist es dann, einen tugendhaften Bürger auf bloßen Verdacht hin nicht nur den grausamsten Schmerzen auszusetzen, sondern ihn auch noch zum Tode zu verurteilen! Es ist besser, zwanzig Schuldige freizusprechen, als einen Unschuldigen aufzuopfern! Sollen die Gesetze zum Wohle des Volkes da sein — wie darf man dann solche dulden, die den Richter in die Lage bringen, methodisch Handlungen zu begehen, die zum Himmel schreien und die Menschlichkeit empören? In Preußen ist die Folter seit acht Jahren abgeschafft1. Man ist nun sicher, Unschuldige und Schuldige nicht zu verwechseln, und die Rechtspflege geht nichtsdestoweniger ihren Gang.

Betrachten wir nun die unklaren Gesetze und die verbesserungsbedürftigen Arten des gerichtlichen Verfahrens. In England bestand ein Gesetz gegen die Bigamie. Ein Mann wurde angeklagt, er habe fünf Frauen. Da das Gesetz über diesen Fall nichts bestimmte und man es buchstäblich auslegte, so ward das Verfahren eingestellt. Um klar und deutlich zu sein, hätte das Gesetz lauten müssen: „Wer mehr als eine Frau nimmt, soll bestraft werden.“ Die unklaren Gesetze in England und ihre buch, stäbliche Auslegung haben zu den lächerlichsten Mißbräuchen geführt. So erzählt Muralt2: Jemand schnitt seinem Feinde die Nase ab. Er sollte wegen Verstümmelung des Gliedes eines Bürgers bestraft werden, behauptete aber, was er abgeschnitten


1 Sofort nach Antritt seiner Regierung, durch Kabinettsorder vom 3. Juni 1740, schaffte der König die Folter ab; doch blieb sie für einige Ausnahmefälle zunächst noch bestehen und wurde dann 1754 bzw. 1756 ganz beseitigt. Da man aber, statt den modernen Indizienbeweis zuzulassen, den alten Grundsatz des Inquisitionsverfahrens beibehielt, wonach entweder das Zeugnis zweier Nassischer Zeugen oder das Geständnis des Schuldigen zur Verurteilung nötig war, entstanden nun, falls die Zeugen fehlten, allerlei Unzuträglichleiten. So brauchte der zweifellos festgestellte Mörder nur nicht zu gestehen, um der Verurteilung zu entgehen.

2 „Lettres sur les Anglais et Ies Français et sur d'autres sujets.“ Nouvelle édition 1728, I, 148.