Über den Nutzen der Künste und Wissenschaften im Staate (1772)1
Wenig aufgeklärte und wahrheitsliebende Leute haben den Künsten und Wissenschaften den Krieg zu erklären gewagt. War ihnen die Verlästerung dessen gestattet, was der Menschheit zur höchsten Ehre gereicht, so muß die Verteidigung erst recht gestattet sein. Sie ist die Pflicht aller, die die menschliche Gesellschaft lieben und ein dankbares Herz für das besitzen, was sie den Wissenschaften schulden. Unglücklicherweise machen widersinnige Behauptungen den Menschen oft größeren Eindruck als Wahrheiten. Es gilt also, ihnen die Augen zu öffnen und die Urheber solchen Aberwitzes zu beschämen — nicht durch Schmähungen, sondern durch triftige Gründe. Ich scheue mich, vor der Akademie zu sagen, daß jemand so frech gewesen ist, in Frage zu stellen, ob die Wissenschaften der menschlichen Gesellschaft nützlich oder schädlich sind. Darüber dürfte doch niemand im Zweifel sein! Wenn wir einen Vorzug vor den Tieren besitzen, so liegt er sicherlich nicht in unsern körperlichen Eigenschaften, sondern in dem größeren Verstande, den die Natur uns verliehen hat. Auch die Menschen untereinander scheidet der Geist und das Wissen. Woher käme wohl sonst der unendliche Abstand zwischen einem kultivierten und einem barbarischen Volke, wenn nicht daher, daß das eine aufgeklärt ist, das andre aber in Verdummung und Stumpfsinn dahinlebt?
Die Völker, die sich solcher Überlegenheit erfreuten, waren dankbar gegen die, die ihnen diesen Vorzug verschafften. Daher stammt der gerechte Ruhm jener Leuchten der Welt, jener Weisen, deren gelehrte Arbeiten ihre Landsleute und ihr Zeitalter aufgeklärt haben.
Der Mensch stellt an sich wenig vor. Er wird mit mehr oder minder entwicklungsfähigen Anlagen geboren, die der Ausbildung bedürfen. Seine Kenntnisse müssen vermehrt werden, damit seine Begriffe sich erweitem können. Sein Gedächtnis ist zu bereichern, damit der Vorrat die Einbildungskraft mit Stoff versieht, den sie verar-
1 Die Abhandlung wurde am 27. Januar 1772 in der Berliner Akademie verlesen. Sie richtet sich gegen die bekannte, 1750 von der Akademie zu Dijon preisgekrönte Abhandlung von Jean Jacques Rousseau: „Le progrès des arts et des sciences a-t-il contribué à amélioer ou a corrompre les mœurs“