<67> Wir Dichter bitten Sie submissest um Verzeihung, wenn Ihre Richtersprüche bei uns so wenig Geltung finden. Sie müssen irgend eine falsche Zahl in Ihre Rechnung eingesetzt haben; denn wenn Eure Hoheiten gütigst erlauben, machen wir Sie darauf aufmerksam, daß ein gewisser Chaulieu und ein Mann namens Gresset besagten Anakreon mit Glück nachgeahmt haben, daß ihre Werke manches Schöne enthalten, auf das Sie kein Auge geworfen haben, kurz, daß Sie von unsren Dichtern reden wie der Blinde von der Farbe. Die Poesie ist keineswegs eine bloße Phantastekunst, sondern eine Kunst der Nachbildung: Ut pictura poesis erit1.
Wie gesagt: die Poesie soll alle Gebilde der Natur und alle Regungen des Gemüts malen, soll das Gewaltige mit dem Lieblichen paaren, soll belehren und ergötzen. Und das gelingt den Dichtern, denen die Natur Genie und Talent verliehen hat. Und wenn es schlechten Dichtern wie z. B. mir nicht gelingt, so beweist das nichts gegen die Kunst. Die Schönheit bleibt ihr unzerstörbares Erbteil, auch wenn tausend Chapelains und Pradons2 dagegen sündigen.
Nachdem unsre Feinde uns soviel Anlaß zu Klagen gegeben, meine Brüder in Apoll, stellt sich hier ein Grund zur Dankbarkeit ein. Sie geruhen nämlich, die hehren Ausdrücke ihrer erhabenen Wissenschaft auf uns anzuwenden, und beehren uns — vielen Dank dafür — mit Formeln, um uns klarzumachen, daß unsre Formeln in der Prosa abgeschmackt sind. Die Poesie ist die Sprache der Götter und die Prosa die der Lastträger. Da nun so verschiedene Redeweisen auch verschiedene Ausdrücke haben müssen, so sehe ich nicht ein, warum sie sich ereifern. Sollten vielleicht gewählte Worte, wie „zuvor“, „verscheiden“, „Gewaffen“, „Roß und Reisige“, die zur Dichtersprache gehören, nicht in ihren Gleichungen vorkommen? Die Poesie besitzt ohne Zweifel Wendungen, die in der Prosa an anderer Stelle stehen als im Verse. So sagt Voltaire:
Mitrane, ja, geheimer Wink vom Thron
Führt dir Arsazes zu in Babylon3.
Der Prosaiker würde sagen: „Auf geheimen Befehl des Königs sollst du Arsazes in Babylon freien.“ Sollten wir aber nicht die Ehre haben, die Herren recht zu verstehen, so bitten wir sie inständigst, uns ihre erhabenen Gedanken klarzumachen, da wir sie sonst für dunkel halten müßten. Die Poesie hat ihre Regeln und die Prosa desgleichen, genau wie Athen und Sparta ihre Gesetze hatten, die dem Geiste des Volkes, für das sie geschaffen worden, angepaßt waren. Vielleicht aber wollten die neuen Gesetzgeber uns nur darüber belehren, daß die Regeln der Prosa andere sind als
1 Horaz, Ars poetica, 361: Die Poesie soll der Malerei gleichen.
2 Von Boileau verspottete Stümper.
3
Oui, Mitrane, en secret I'ordre émané du trône
Remet entre tes bras Arzace à BabyIone.