<68> die unsren. In diesem Falle danken wir ihnen für die ebenso neue wie tiefe Bemerkung, mit der sie uns beehren. Allerdings erinnere ich mich, schon so etwas gehört zu haben, und täuscht mich mein Gedächtnis nicht — denn ich bin nicht unfehlbar —, so ist das ein Diebstahl an Vaugelas1, den sie bei aller ihrer mathematischen Würde begangen haben. Nun aber frage ich sie: ist's ein Verbrechen, wenn die Poesie vor der Prosa den Vorrang hat? Dann müßte ja auch eine Melodie in drei Takten für schlecht gelten, weil sie nicht in vier Takten komponiert ist. Zum Glück denken wir nicht so, oder — wie man uns wohl vorwerfen könnte — wir sind keine Mathematiker und haben keine Ahnung davon, was philosophischer Geist ist. Die Mathematiker aber dürfen sich so viel Paradorien leisten, wie sie wollen. Jede Sophisterei wird durch den mathematischen Sinn sanktioniert.

Eine neue Entdeckung: sie machen uns darauf aufmerksam, daß der Geschmack an der Ode erkaltet. Dann wollen wir ihn doch wieder aufwärmen! Indes prüfen wir erst einmal, ob das zutrifft. Ich sehe Horaz und Rousseau2 in aller Händen; geistvolle Leute finden ihren Hochgenuß daran. Die Herren Mathematiker haben die Antwort bereit: „Schade um die Leute! Sie haben keinen philosophischen Sinn.“ Das ist der Kern des ganzen Streites, und diese Formel führt zu bündigen Schlüssen.

Unsre neuen Schulmeister dozieren: die Ode muß von Anfang bis zu Ende erhaben sein. Bitte lesen Sie doch die Abhandlung über das Erhabene von Longinus3, die Sie sicherlich nicht kennen. Aber solche raschen Richtersprüche haben etwas Imponierendes, das Sie mehr befriedigt als die Erörterung von so kindischem Zeug. Wollten wir es uns indes herausnehmen, Sie unsrerseits zu schulmeistern, so würden wir Ihnen submissest vorhalten, daß es mehr als eine Art von Oden gibt. Es gibt Pindarische, die man mit erhabenen Gedanken so vollpfropft, wie man kann, und andre, weniger erhabene, die auch ihren Reiz besitzen. Kurz, bei uns muß der Stil dem Gegenstand entsprechen. Wir ziehen alle Register des Pathos auf, wenn wir Zeus die Titanen stürzen lassen. Wir setzen einen Dämpfer auf, wenn Apoll die Daphne verfolgt, und stimmen unsren Sang vollends auf piano bei der Geschichte des Argus. Welcher Aufwand von Bescheidenheit! Unsre kurvenzeichnenden Despoten gestehen, sie wüßten nicht, was die schöne Regellosigkeit der Ode sei. Daraus schließe ich, daß es mit ihrer Kenntnis in der Poetik auch sonst nicht weit her ist. Um Ihnen jedoch die schöne Regellosigkeit der Ode klarzumachen, so gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, daß Apollo ehedem seine Orakel durch den Mund einer Priesterin, der Pythia, verkündete. Die geriet in Ekstase und stieß die heiligen Worte begeistert hervor. Man nimmt nun an, der Dichter sei gleich ihr des Gottes voll. Sein verzückter Geist überspringt die verbindenden Gedanken, die zur Verkettung der gewöhnlichen


1 Claude Favre de Vaugelas (1585—1650), berühmter Grammatiker und Mitarbeiter am „Dictionnaire de I'Académie française“.

2 Jean Baptiste Rousseau (1671—1741).

3 Aus dem Griechischen übersetzt von Boileau.