<84> Wirkung. Europa war der krassen Unwissenheit müde, in der es so viele Jahrhunderte geschmachtet hatte: es wollte sich aufklären. England, stets eifersüchtig auf Frankreich, strebte nach Hervorbringung eigner Schriftsteller, und da man zum Schreiben eine Sprache haben muß, fing es an, die seine zu vervollkommnen. Um schneller vorwärts zu kommen, eignete es sich aus dem Lateinischen, Französischen und Italienischen alle Ausdrücke an, die ihm notwendig erschienen. Es brachte berühmte Schriftsteller hervor, aber sie konnten die scharfen Laute ihrer Sprache, die jedes fremde Ohr verletzen, nicht mildern. Andre Sprachen verlieren in der Übersetzung; das Englische allein gewinnt. Bei dieser Gelegenheit fällt mir ein: als ich einmal mit Gelehrten zusammen war, fragte jemand, welche Sprache wohl die Schlange gesprochen hätte, die unsre Urmutter verführte. „Sie sprach Englisch,“ antwortete ein Gelehrter, „denn die Schlange zischt.“ Nehmen Sie den schlechten Scherz für das, was er wert ist.
Nachdem ich Ihnen dargelegt habe, auf welche Weise bei andren Völkern die Sprache ausgebildet und vervollkommnet wurde, werden Sie gewiß meinen, wir könnten mit den gleichen Mitteln dasselbe erreichen. Wir müssen also große Dichter und Redner haben, die uns diesen Dienst leisten. Von den Philosophen dürfen wir ihn nicht erwarten; ihnen kommt es zu, die Irrtümer auszurotten und neue Wahrheiten zu entdecken. Die Dichter und Redner aber sollen uns durch ihren Wohllaut entzücken, uns überzeugen und rühren.
Da sich indes kein Genie nach Belieben erzeugen läßt, wollen wir zusehen, ob wir nicht auch so einige Fortschritte machen können, indem wir uns an provisorische Hilfsmittel halten. Um unfern Stil gedrungener zu machen, ist jede unnütze Einschaltung fortzulassen. Um Energie zu erlangen, laßt uns die alten Autoren übersetzen, die den kraftvollsten und anmutigsten Ausdruck hatten. Nehmen wir von den Griechen Thukydides und Xenophon. Vergessen wir die Poetik des Aristoteles nicht. Bemühen wir uns vor allem, die Kraft des Demosthenes wiederzugeben. Von den Lateinern nehmen wir Epiktets Handbuch, die Selbsibetrachtungen des Kaisers Mark Aurel1, Cäsars Kommentarien, Sallust, Tacitus und die „Ars poetica“ des Horaz. Die Franzosen können uns die „Gedanken“ von Larochefoucauld2, die „Persischen Briefe“ und den „Geist der Gesetze“ von Montesquieu liefern. Alle diese vorgeschlagenen Bücher, meist in Spruchform geschrieben, werden die Übersetzer zur Vermeidung aller unnützen und überflüssigen Worte zwingen. Unsre Schriftsteller werden ihren ganzen Scharfsinn aufbieten, um ihre Gedanken zusammenzudrängen und ihrer Übersetzung die gleiche Kraft zu geben, die man an den Originalen bewundert. Indes werden sie bei allem Streben nach Energie darauf zu achten haben, daß sie nicht
1 Epiketos, griechischer Stoiker (geb. um 50 n. Chr.), lehrte meist in Rom, hinterließ aber nichts Schriftliches. Sein Schüler Arrianos (um 100—180 n. Chr.) gab das „Enchiridion Epicteti“ in griechischer Sprache heraus. Auch die Selbsibetrachtungen Mark Aurels sind griechisch geschrieben.
2 François de Larochefoucauld (1613—1680). Vgl. S. 46,