<VI> über die Literatur, der nach dem Zeugnis seines Gesellschafters Marquis Lucchesini während der Mittagstafel am 2. Oktober sich erhob, hat dem König offenbar die Feder in die Hand gedrückt. Am 31. Ottober konnte Lucchesini schon über die „Lektüre des ersten Teiles einer neuen Abhandlung“, eben des Literaturbriefes, berichten. Am 10. November wurde der Schluß an Hertzberg übersandt. Noch vor Ausgang des Monats war die Drucklegung beendet.
Triftige Gründe sprechen nun aber dafür, daß es sich damals nur um eine Überarbeitung und Erweiterung der Schrift handelte, daß ihre Entstehungszeit dagegen fast dreißig Jahre früher fällt.
Im Mai 1752 hatte Baron Bielfeld, ein Genosse der Rheinsberger Zeit, ein Werk veröffentlicht, das den Titel führte: „Progrès des Allemands dans les sciences, les bellez-lettres et les arts, particulièrement dans la poésie, l'eloquence et le théâtre.“ Der König nahm den Fehdehandschuh auf und setzte dieser Apologie der Deutschen seine eigne scharfe Kritik entgegen: in ihr haben wir die erste Fassung des Literaturbriefes von 1780 zu sehen. Trefflich passen dazu die Eingangsworte: „Sie wundern sich, mein Herr, daß ich nicht in Ihren Beifall über die Fortschritte einstimme, die nach Ihrer Meinung die deutsche Literatur täglich macht.“ Danach wäre es Bielfeld, den der König anredet, aber nicht Hertzberg, wie dieser fälschlich meinte.
Ein weiteres Moment, das für diese Hypothese spricht, bilden die mehrfachen Wiederholungen innerhalb des Aufsatzes von 1780; sie erklären sich leicht bei der Annahme einer späteren Überarbeitung.
Noch stärker fällt der Umstand in die Wagschale, daß das Bild, das Friedrich von dem Zustand der deutschen Literatur entwirft, weit mehr den fünfziger Jahren entspricht als dem späteren Zeitpunkt. Und so hat es denn auch nicht an Stimmen gefehlt, die nach Erscheinen der Schrift im Jahre 1780 sich in diesem Sinne äußerten, wie Justus Moser, der in seiner Entgegnung erklärte, der König habe seine Gedanken über die Literatur „wahrscheinlich weit früher niedergeschrieben als gedruckt“.
Den Ausschlag gibt indessen die Tatsache, daß Friedrichs Auffassung durchaus dem Gedankenkreise jener früheren Zeit angehört. Man vergleiche seine Ausführungen in der „Geschichte meiner Zeit“ von 17461, in dem zwei Jahre später geschriebenen Kapitel „Über die Sitten, Gebräuche, die Industrie und die Fortschritte des menschlichen Geistes in den Künsten und Wissenschaften“ in den „Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Hauses Brandenburg“.2 Das gleiche lehren die Äußerungen in seinen Briefen, die im „Anhang“ des Bandes übersichtlich zusammengestellt sind.
Dies führt uns zur Beurteilung der Abhandlung selber. Vom ersten Erscheinen an hat man in ihr nur einen ungerechtfertigten Angriff des Königs auf die deutsche Literatur erblickt. Man warf ihm vor, ein Zerrbild gegeben zu haben. In der Tat fehlen die Namen ihrer bedeutendsten damaligen Vertreter, wie Klopstock, Lessing
1 Vgl. die entsprechende Stelle der Ausgabe von 1775 (Bd. II, S. 46f.), die auf der Fassung von 1746 beruht.
2 Vgl. Bd. I.