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I. Literarisch-philosophische Schriften

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Vorrede zu Voltaires Henriade (1739)3-1

Ganz Europa kennt das Heldengedicht „Die Henriade“. Durch zahlreiche Ausgaben ist es bei allen Völkern verbreitet, die Bücher haben und Kultur genug besitzen, um etwas Geschmack an der Literatur zu finden.

Voltaire ist unter allen Schriftstellern vielleicht der einzige, der die Vollendung seiner Kunst dem Eigennutz und der Eigenliebe vorgezogen und seine Fehler unermüdlich verbessert hat. Von der ersten Auflage, in der die „Henriade“ als „Poème de la Ligue“3-2 erschien, bis auf die heutige Ausgabe hat der Verfasser sich in unermüdlichem Fleiße bis zu der Vollendung emporgeschwungen, die den großen Genies und den Meistern der Kunst gewöhnlich mehr vorschwebt als erreichbar ist.

Die heutige Ausgabe ist bedeutend erweitert — ein deutliches Zeichen für die Fruchtbarkeit des Verfassers. Sein Genie gleicht einer unerschöpflichen Quelle, und nie wird in seiner Hoffnung betrogen, wer sich neue Schönheiten und Vollkommenheiten aus der vorzüglichen Feder Voltaires verspricht.

Zahllose Schwierigkeiten hatte dieser Fürst der französischen Dichtkunst bei der Abfassung seines Epos zu überwinden. Zunächst hatte er die vorgefaßte Meinung ganz Europas und seiner eignen Landsleute gegen sich. Die Franzosen glaubten, ein Heldengedicht könnte in ihrer Sprache nie gelingen. Er hatte das traurige Beispiel seiner Vorläufer vor Augen, die auf diesem schwierigen Wege sämtlich gestrauchelt waren. Er hatte ferner den abergläubischen Respekt der gelehrten Welt vor Virgil und Homer zu überwinden. Vor allem aber besaß er eine schwache Gesundheit, eine zarte Konstitution, die jedem anderen, für den Ruhm seines Volkes minder Begeisterten die Arbeitskraft geraubt hätte. Trotz all dieser Hindernisse hat Voltaire sein Vorhaben durchgeführt, obwohl unter Verzicht auf eine glänzende Laufbahn und oft auch auf Kosten seiner Ruhe.

Ein so umfassendes Genie, ein so scharfer Geist, ein so emsiger Arbeiter, wie Voltaire, hätte sich gewiß den Weg zu den höchsten Ämtern erschlossen, hätte er nur den Kreis der von ihm gepflegten Wissenschaften verlassen, um sich Geschäften zu widmen, die der Eigennutz und Ehrgeiz der Menschen „ernste Beschäftigungen“ zu<4> nennen beliebt. Jedoch er folgte lieber dem unwiderstehlichen Drang seines Genius als den Vorteilen, die er dem Schicksal gewiß abgerungen hätte. Seine Erfolge haben seine Erwartungen vollauf gerechtfertigt. Er ehrt die Wissenschaften ebenso, wie sie ihn ehren. In der „Henriade“ tritt er zwar nur als Dichter hervor. Aber er ist auch ein tiefer Philosoph, ein gelehrter Historiker.

Die Künste und Wissenschaften sind ungeheure Länder. Sie alle zu erobern, wie Cäsar oder Alexander die Welt erobert haben, ist uns schier unmöglich. Schon zur Unterwerfung eines kleinen Gebietes ist viel Talent, viel Streben nötig, und so gehen die meisten denn auch bei der Eroberung jener Länder den Gang der Schildkröte. Es gibt aber auch in den Wissenschaften Reiche, die unter eine Unzahl kleiner Herr, scher aufgeteilt sind, genau wie in der Welt. Diese großen Herrscherbünde haben sogenannte Akademien gebildet. Aber wie sich in Ländern mit aristokratischer Ver, fassung oft Leute mit überlegenem Geiste finden, die sich über die anderen hinaus, geschwungen haben, so haben auch die aufgeklärten Zeitalter Menschen hervorgebracht, die in sich das Wissen vereinigten, das vierzig denkenden Köpfen4-1 Beschäftigung genug gegeben hätte. So zu ihrer Zeit Leibniz und Fontenelle4-2, so heute Voltaire. Es gibt keine Wissenschaft, die nicht in sein Arbeitsgebiet fiele: von der höheren Mathematik bis zur Poesie hat er sie alle durch die Kraft seines Genius unterjocht.

Wer die Welt kennt und Voltaires Werke gelesen hat, wird leicht begreifen, daß der Neid ihn nicht verschonen tonnte. Große Begabung im Verein mit europäischem Rufe pflegt die Halbgelehrten, die Zwitter von Gelehrsamkeit und Unwissenheit, zu empören. Da die armen Schelme selbst talentlos sind, so schlagen sie dreist auf die los, denen sie sich überlegen wähnen, und verfolgen hartnäckig die strahlenden Geister, deren Licht sie verdunkelt. Und so haben denn alle finsteren Mächte, Bosheit und Verleumdung, Undank und Haß, sich gegen Voltaire verschworen. Keine Art von Verfolgung blieb ihm erspart. Machthaber, die ihn im Interesse ihres eignen Ruhmes hätten schützen sollen, haben ihn feig im Stich gelassen und ihn dem Haß seiner ver, brecherischen Feinde preisgegeben.

Trotz einiger zwanzig Wissenschaften, die Voltaires Schaffen zersplittern, trotz seines häufigen Krankseins und des Kummers, den ihm unwürdige Neider bereiten, hat er seine „Henriade“ zu einem Grad der Vollkommenheit gebracht, den meines Wissens wohl nie eine Dichtung erreicht hat. Die Führung der Handlung, die Stoffverteilung sind so weise durchdacht, wie nur möglich. Der Verfasser hat sich die Vorwürfe zunutze gemacht, die gegen Homer und Virgil erhoben worden sind. Die ein, zelnen Gesänge der Ilias haben wenig oder gar keinen Zusammenhang; man hat sie deshalb Rhapsodien genannt. In der „Henriade“ sind alle Gesänge aufs innigste miteinander verknüpft. Ein und dieselbe Handlung zerfällt durch den zeitlichen Ver, lauf in zehn Hauptereignisse. Der Schluß ist natürlich: Heinrichs IV. Übertritt4-3<5> und sein Einzug in Paris setzen den Bürgerkriegen der Ligue, die Frankreich zerrütteten, ein Ende. Darin ist der Franzose dem Lateiner weit überlegen, der seine Äneis nicht so fesselnd schließt, wie er sie begonnen hat. Am Ende verflackert das schöne Feuer, das den Leser im Anfang jener Dichtung entzückte. Man möchte sagen, Virgil habe die ersten Gesänge in der Blüte der Jugend verfaßt, aber die letzten im Alter, wo das Hinschwinden der Einbildungskraft und das allmähliche Verlöschen des geistigen Feuers den Kriegern das Heldentum und den Dichtern die Eingebung raubt.

Voltaire ahmt zwar hier und da Virgil und Homer nach, aber doch stets in selbständiger Weise. Man merkt dabei, daß das kritische Urteil des Franzosen dem lateinischen und griechischen Dichter unendlich überlegen ist. Man vergleiche das Hinabsteigen des Odysseus in die Unterwelt5-1 mit dem VII. Gesang der „Henriade“, und man wird sehen, daß den letzteren eine Fülle von Schönheiten ziert, die Voltaire ganz allein sich verdankt. Schon der Gedanke, Heinrich IV. im Traume all das sehen und hören zu lassen, was er im Himmel und in der Hölle erblickt und was ihm im Schicksalstempel geweissagt wird, wiegt die ganze Ilias auf. Denn der Traum Heinrichs IV. führt alles, was er erlebt, auf die Regeln der Wahrscheinlichkeit zurück, wogegen die Unterweltsszene der Odyssee all der Reize bar ist, die Homers genialer Fiktion den Schein der Wahrheit hätten geben können. Auch stehen alle Episoden in der „Henriade“ am rechten Fleck. Der Verfasser hat seine Kunst so geschickt verborgen, daß sie nicht zu sehen ist und als natürlich erscheint. Ja, man möchte sagen, all die Schönheiten, die seine fruchtbare Phantasie hervorgebracht hat und die das ganze Gedicht Seite für Seite zieren, fügen sich ganz notwendig ein. Nirgends findet man die kleinlichen Details, in die so viele Schriftsteller versinken, bei denen Trockenheit und Schwulst an Stelle des Genies treten. Die pathetischen Szenen weiß Voltaire packend zu gestalten. Er besitzt die große Kunst, die Herzen zu rühren. Solche ergreifenden Stellen sind Colignys Tod5-2, Valois' Ermordung5-3, der Kampf des jungen d'Ailly, Heinrichs IV. Abschied von der schönen Gabrielle d'Estrées und der Tod des tapfern Chevalier d'Aumale5-4. Jedesmal, wenn man das liest, ist man ergriffen. Mit einem Worte: der Verfasser verweilt nur bei den fesselndsten Stellen und geht leicht über alles hinweg, was sein Gedicht in die Länge ziehen würde. In der „Henriade“ ist nichts zu viel und nichts zu wenig.

Die Wunder, die der Verfasser benutzt, können keinen vernünftigen Leser stören. Alles kommt durch das Religionssysiem der Wahrscheinlichkeit nahe. Solche Macht besitzen Poesie und Beredsamkeit. Sie vermögen selbst Gegenstände ehrwürdig zu machen, die es an und für sich nicht sind, und sie so glaubhaft zu gestalten, daß sie den Leser verführen.

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Alle Allegorien in diesem Gedicht sind neu. Die Politik, die im Vatikan haust, der Tempel der Liebe, die wahre Religion, die Tugenden, die Zwietracht, die Laster — alles lebt, alles regt sich unter Voltaires Griffel. Lauter Bilder, die nach dem Urteil der Kenner den geschickten Pinsel Poussins und der Caracci6-1 übertreffen.

Es bleibt mir nur noch ein Wort über die Poesie des Stiles — das, worin sich der Dichter als solcher erweist. Nie war die französische Sprache so kraftvoll wie in der „Henriade“, überall herrscht Adel. Mit unendlichem Feuer erhebt sich der Dichter zum Erhabenen, und steigt er herab, so geschieht es mit Anmut und Würde. Welche Lebhaftigkeit in der Darstellung, welche Kraft in den Charakteren und Schilderungen, welche Vornehmheit in den Einzelheiten! Der Kampf des jungen Turenne6-2 wird zu allen Zeiten die Bewunderung der Leser herausfordern. Hier, in der Schilderung des Degenkampfes, bei den Stößen, Paraden, Gegenstößen und Treffern fand Voltaire das Haupthindernis in seiner Sprache. Trotzdem hat er die Schwierigkeit glänzend überwunden. Er versetzt den Leser auf das Schlachtfeld, und man glaubt mehr, einem Kampfe beizuwohnen, als dessen Beschreibung in Versen zu lesen.

Die gesunde Moral, die Schönheit der Gefühle findet in diesem Gedicht ihren wünschenswertesten Ausdruck. Heinrichs IV. besonnene Tapferkeit, sein Edelmut, seine Menschlichkeit sollten allen Königen und Helden zum Vorbild dienen. Wie oft verfahren sie hart und roh gegen die, die das Schicksal der Staaten oder das Kriegsglück in ihre Hand gegeben hat! Ihnen sei im Vorübergehen gesagt: wahre Größe liegt nicht in der Unbeugsamkeit und Tyrannei, sondern in den Gefühlen, die der Verfasser so edel kennzeichnet:

Freundschaft, du Himmelsgabe, großer Seelen Lust,
Freundschaft, nie heimisch in der Herrscher Brust —
Zum Unglück der erlauchten Undankbaren6-3.

Zu den Meisterstücken der „Henriade“ gehört der Charakter Philipps von Mornay6-4. Ein ganz neuer Charakter: ein philosophischer Krieger, ein menschlicher Soldat, ein Hofmann, wahr und ohne Schmeichelei. Ein solcher Ausbund seltener Tugend verdient unsern Beifall. Und so bildet er denn auch für den Dichter einen reichen Quell edler Gefühle. Wie gern sehe ich diesen Philipp von Mornay, den treuen, stoischen Freund, an der Seite seines jungen, tapfern Herrn, wie er überall den Tod abwehrt und ihn doch nie austeilt6-5. Welcher Abstand zwischen diesem weisen Philosophen und den heutigen Sitten! Ja, für das Wohl der Menschheit ist es tief zu beklagen, daß ein so schöner Charakter nur in der Phantasie existiert.

Übrigens atmet die ganze „Henriade“ nichts als Menschlichkeit. Unablässig hebt Voltaire diese Tugend hervor, die den Fürsten so nötig, ja ihre einzige Tugend ist.<7> Er zeigt uns einen siegreichen König, der den Besiegten vergibt. Er führt den Helden bis vor die Mauern von Paris, aber statt die rebellische Stadt zu plündern, gibt er den von furchtbarer Hungersnot heimgesuchten Einwohnern die nötigen Lebens, Mittel. Umgekehrt braucht der Dichter die grellsten Farben für die scheußliche Metzelei der Bartholomäusnacht und die unerhörte Grausamkeit Karls IX., der mit eigener Hand gegen seine kalvinistischen Untertanen wütete. Die düstre Politik Philipps II., die Ränke und Kunstgriffe Sirtus' V., die schlaffe Untätigkeit Valois' und die Sünden, die Heinrich IV. aus Liebe begeht, werden beim rechten Namen genannt. Der Dichter umrankt alle seine Schilderungen mit kurzen, treffsicheren Bemerkungen, die das Urteil der Jugend bilden und den rechten Begriff von Tugend und Lasier geben müssen. Immer wieder mahnt Voltaire die Völker zur Treue gegen Gesetz und Herrscher. Er verewigt den Namen des Präsidenten Harlay7-1, dessen unerschütterliche Treue gegen seinen Herrn solchen Lohn wohl verdiente. Ein gleiches gilt von den Räten Brisson, Larcher, Tardif, die von den Rebellen umgebracht wurden. Hier macht der Dichter folgende Bemerkung:

Unsterblichkeit sich euer Ruf erwirbt:
Mit Ruhm stirbt, wer für seinen König stirbt7-2.

Poliers Rede vor den Rebellen7-3 ist gleich schön durch die Richtigkeit der Empfindungen wie durch die Kraft der Beredsamkeit. Der Dichter läßt einen ernsten Beamten vor der Ratsversammlung der Ligue reden. Mutig tritt er den Plänen der Rebellen entgegen, die einen König aus ihrer Mitte wählen wollen. Er mahnt sie, sich ihrem rechtmäßigen Gebieter7-4 zu unterwerfen, dessen Herrschaft sie sich entziehen wollen, verurteilt alle Mannstugend der Aufständischen, all ihre kriegerische Tapferkeit, die sich gegen ihren König richtet und dadurch zum Verbrechen wird. Aber was ich auch über diese Rede sage, ich reiche doch nicht an sie heran. Man muß sie aufmerksam lesen. Ich will ja auch nur die Leser auf die Schönheiten hinweisen, die sie übersehen könnten.

Ich gehe zu dem Religionskrieg über, der den Gegenstand der „Henriade“ bildet. Der Dichter mußte natürlich die Mißbräuche geißeln, die durch Aberglauben und Fanatismus in der Religion eingerissen sind. Hat man doch stets bemerkt, daß Glaubenskriege — das ist ihr besonderes Verhängnis — stets blutiger und erbitterter waren als Kriege, die der Ehrgeiz der Fürsten oder die Widerspenstigkeit der Untertanen hervorrief. Da nun Fanatismus und Aberglaube stets die Triebfedern der abscheulichen Politik der Großen und der Geistlichen waren, so mußte ihnen unbedingt ein Damm entgegengesetzt werden. Mit der ganzen Glut seiner Einbildungskraft, der ganzen Macht der Poesie und Beredsamkeit hat der Dichter die Torheiten unsrer Vorfahren der Gegenwart vor Augen gestellt, um uns für immer davor zu<8> bewahren. Er möchte die Krieger und Feldlager von den Spitzfindigkeiten und Haarspaltereien der Schulweisheit säubern und diese dem Pedantenvolt der Scholastiker überlassen. Er möchte den Menschen für alle Zeiten das geweihte Schwert entwinden, das sie vom Altar reißen, um ihre Mitbrüder erbarmungslos abzuschlachten. Mit einem Worte: die Wohlfahrt und Ruhe der Gesellschaft ist das Hauptziel der Dichtung. Darum mahnt der Dichter so oft, die gefährliche Klippe des Fanatismus und des falschen Eifers zu meiden.

Indes scheint die Mode der Religionskriege zum Segen der Menschheit jetzt überwunden. Wir hätten damit einen Wahn weniger auf der Welt. Aber ich wage zu behaupten: das verdanken wir zum guten Teil dem philosophischen Geiste, der seit einigen Jahren in Europa die Vorherrschaft erlangt hat. Je mehr Aufklärung, desto weniger Aberglaube. Ganz anders war es im Zeitalter Heinrichs IV. Die alle Begriffe übersteigende mönchische Unwissenheit und die Barbarei der Menschen, die keine andre Beschäftigung kannten als Jagen und Einandertotschlagen, ebnete den handgreiflichsten Irrtümern den Boden. Katharina von Medici8-1 und die aufständischen Großen konnten also damals die Leichtgläubigkeit der Menge um so leichter mißbrauchen, als das Volk roh, blind und unwissend war.

Die gebildeten Zeitalter, in denen die Wissenschaften erblühten, haben uns keine Beispiele von Religionskriegen und Bürgerzwist zu bieten. In den schönen Zeiten des Römischen Reichs, gegen Ende der Regierungszeit des Augustus, war das ungeheure Reich, das fast zwei Drittel der bekannten Welt umfaßte, friedlich und ohne Aufruhr. Die Menschen überließen die Glaubensinteressen den Dienern der Religion und zogen den ruhigen Genuß und das Studium der ehrgeizigen Wut vor, sich für Worte, für den Eigennutz oder für verderbliche Ruhmsucht gegenseitig zu schlachten.

Das Zeitalter Ludwigs XIV., das ohne Schmeichelei dem augusteischen an die Seite gestellt werden darf, ist gleichfalls ein Beispiel für stille, glückliche innere Zustände. Aber leider wurde diese Ruhe am Ende seiner Regierungszeit getrübt durch den Einfluß, den der Pater Le Tellier auf den altersschwachen Geist des Königs gewann. Indes war das nur das Wert eines Einzelnen, und es wäre offenbar unrecht, das ganze Zeitalter dafür verantwortlich zu machen, das im übrigen so reich an großen Männern war.

Die Wissenschaften haben also stets zur Vermenschlichung der Menschen beigetragen. Sie machen sie milder, gerechter und weniger gewalttätig. Sie haben am Wohl der Gesellschaft und am Glück der Völker mindestens den gleichen Anteil wie die Gesetze. Die sanfte und liebenswürdige Gesinnung derer, die die Künste und Wissenschaften pflegen, teilt sich unmerklich dem großen Haufen mit. Sie dringt vom Hof in die Hauptstadt, von der Hauptstadt in die Provinzen. Dann gehen den Menschen die Augen auf, daß die Natur sie gewiß nicht dazu schuf, sich gegenseitig auszurotten, sondern daß wir uns in unsern gemeinsamen Nöten beistehen sollen, daß Unglück,<9> Krankheit und Tod uns schon unablässig verfolgen und daß es der Gipfel des Wahnsinns ist, die Ursachen unsres Elends und unsrer Vernichtung noch zu mehren. Trotz aller Standesunterschiede gelangt man zur Einsicht, daß wir von Natur alle gleich sind, daß wir in Frieden und Eintracht miteinander leben müssen, welchem Volke, welchem Glauben wir auch angehören mögen, daß Freundschaft und Mitgefühl allgemeine Pflichten sind. Kurz, die Vernunft verbessert alle Fehler unsres Temperaments.

Das ist der wahre Nutzen der Wissenschaften, und daraus ergibt sich die Dankespflicht gegen alle, die sie pflegen und sie bei uns einzubürgern suchen. Voltaire, der alle diese Wissenschaften übt, schien mir stets um so mehr den Dank der Welt zu verdienen, als er nur für das Wohl der Menschheit lebt und arbeitet.

Solche Gedankengänge und mein lebenslänglicher Wunsch, der Wahrheit Ehre zu erweisen, haben mich bestimmt, der Öffentlichkeit diese Ausgabe vorzulegen. Ich habe versucht, sie Voltaires und seiner Leser möglichst würdig zu gestalten. Mit einem Worte: mich deuchte, daß ich durch Ehrung dieses bewundernswerten Schriftstellers gleichsam unser Jahrhundert selbst ehre. Jedenfalls kann die Nachwelt dann von Zeitalter zu Zeitalter wiederholen: jene Zeit hat nicht nur große Männer hervorgebracht, sondern auch ihre ganze Trefflichkeit erkannt, und Neid und Kabale haben nichts gegen die vermocht, die durch Talente und Verdiensie aus dem großen Haufen hervorragten, ja selbst Große übertrafen.

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Über die Unschädlichkeit des Irrtums des Geistes
(1738)10-1

Ich halte mich für verpflichtet, Ihnen Rechenschaft über meine Muße und die Anwendung meiner Zeit zu geben. Sie kennen meine Neigung zur Philosophie. Sie ist meine Leidenschaft und begleitet mich treulich auf all meinen Wegen. Einige Freunde kennen diese meine herrschende Neigung und unterhalten sich oft mit mir über spekulative Fragen der Physik, Metaphysik oder Moral, sei es, weil sie selbst Vergnügen daran finden, sei es, um sich nach meinem Geschmack zu richten. Gewöhnlich sind unsere Unterhaltungen ziemlich bedeutungslos, da sie sich um bekannte Dinge drehen oder ihr Gegenstand unter dem Niveau der hohen Gelehrsamkeit liegt.

Mehr Beachtung scheint mir die Unterhaltung zu verdienen, die ich gestern abend mit Philant hatte. Das Thema ist von allgemeinem Interesse, und die Meinungen darüber sind geteilt. Sogleich dachte ich an Sie. Ihnen glaubte ich diesen Bericht schuldig zu sein. Sofort nach dem Spaziergang begab ich mich in mein Zimmer und brachte die noch frischen Ideen, deren mein Kopf voll war, so gut es ging, zu Papier. Ich bitte Sie, lieber Freund, mir Ihre Meinung darüber zu sagen. Bin ich so glücklich, mit Ihnen übereinzustimmen, so wird Ihre Aufrichtigkeit der Lohn meiner<11> Mühe sein. Ich werde mich für reichlich belohnt halten, wenn meine Arbeit Ihnen nicht mißfällt.

Gestern war das schönste Wetter von der Welt. Die Sonne strahlte Heller denn je. Der Himmel war so heiter, daß man weithin kein Wölkchen erblickte. Ich hatte den ganzen Morgen lang studiert, und zur Erholung machte ich einen Spaziergang mit Philant. Ziemlich lange unterhielten wir uns über das Glück, das die Menschen genießen, und über die Fühllosigkeit der meisten gegen die sanften Freuden heitren Sonnenscheins und reiner, stiller Luft. Wir kamen von einer Betrachtung in die andre und merkten schließlich, daß das Gespräch unsern Spaziergang sehr in die Länge gezogen hatte. Es war Zeit, heimzukehren, wenn wir noch vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause kommen wollten. Philant merkte es zuerst und neckte mich damit. Ich verteidigte mich mit den Worten, seine Unterhaltung erschiene mir so angenehm, daß ich in seiner Gesellschaft die Minuten nicht zählte und geglaubt hätte, es wäre früh genug, an unsere Rückkehr zu denken, wenn wir die Sonne sinken sähen.

„Wie? Die Sonne sinken sehen?“ wiederholte er. „Sie sind Kopernikaner und richten sich doch nach dem Volksmund und nach den Irrtümern Tycho de Brahes?“

„Nur ruhig Blut“, antwortete ich. „Sie sind zu hitzig. Erstens kam es hier beim vertraulichen Gespräch nicht auf Philosophie an, und wenn ich gegen Kopernikus gesündigt habe, so ist mein Fehler mir ebenso leicht zu verzeihen wie Iosua, da er die Sonne stillstehen hieß. Er mußte doch über die Geheimnisse der Natur Bescheid wissen, da er ja von Gott erleuchtet war. In jenem Augenblick sprach Iosua wie das Volk. Ich aber rede mit einem aufgeklärten Manne, der mich versteht, mag ich nun so oder so mich ausdrücken. Weil Sie aber hier Tycho de Brahe angreifen, so gestatten Sie mir einen Augenblick, daß ich Sie angreife. Ihr Eifer für Kopernikus scheint sehr lebhaft. Sie schleudern gleich Bannsirahlen gegen alle, die nicht seiner Meinung sind. Ich will glauben, daß er recht hat. Ist das aber ganz sicher? Wer bürgt Ihnen dafür? Hat die Natur, hat ihr Schöpfer Ihnen etwas von der Unfehlbarkeit des Kopernikus offenbart? Ich für mein Teil sehe nur ein System, d. h. eine zusammenhängende Darstellung der Ansichten des Kopernikus, die sich auf Naturerscheinungen stützen.“

„Und ich“, erwiderte Philant sich ereifernd, „ich sehe die Wahrheit.“

„Die Wahrheit? Was nennen Sie denn Wahrheit?“

„Wirkliche Evidenz dessen, was ist und geschieht.“

„Und Erkenntnis der Wahrheit?“ fragte ich weiter.

Er antwortete: „Die Herstellung genauer Beziehungen zwischen dem, was wirklich existiert oder existiert hat, und unsern Ideen, zwischen den vergangenen oder gegenwärtigen Tatsachen und den Begriffen, die wir davon haben.“

„Demzufolge, lieber Philant,“ sagte ich, „dürfen wir uns kaum schmeicheln, Wahrheiten zu erkennen. Sie sind fast alle zweifelhaft, und nach der Definition, die Sie<12> mir eben selbst gaben, gibt es höchstens zwei bis drei unumstößliche Wahrheiten. Das Zeugnis der Sinne, fast das sicherste, das wir haben, ist nicht völlig zuverlässig. Unsre Augen täuschen uns. Sie lassen uns in der Ferne einen Turm als rund erscheinen, und bei näherem Herankommen sehen wir, daß er viereckig ist. Bisweilen glauben wir Töne zu hören, die aber nur in unserer Einbildung erklingen und aus einem tonlosen Eindruck auf unser Ohr entstehen. Ebenso unzuverlässig wie die andren Sinne ist der Geruch. Bisweilen glauben wir in Wald und Feld Blumen zu riechen, und doch sind keine da. Und in diesem Augenblick, wo ich mit Ihnen rede, merke ich an dem Blutstropfen auf meiner Hand, daß mich eine Mücke gestochen hat. Die Lebhaftigkeit unsres Gesprächs hat mich gegen den Schmerz unempfindlich gemacht. Das Gefühl hat mich im Stiche gelassen. Wenn nun schon das Zuverlässigste, was wir haben, so zweifelhaft ist, wie können Sie dann mit solcher Gewißheit von den abstrakten Dingen der Philosophie reden?“

„Weil sie evident sind“, erwiderte Philant, „und das Kopernikanische System durch die Erfahrung bestätigt wird. Die Planetenumläufe sind darin mit wunderbarer Genauigkeit bestimmt, die Finsternisse mit staunenswerter Richtigkeit berechnet. Kurz, dies System erklärt die Geheimnisse der Natur vollkommen.“

„Was würden Sie nun aber sagen,“ wandte ich ein, „wenn ich Ihnen ein System nenne, das von dem Ihren gewiß sehr verschieden ist, aber bei offenbar falscher Voraussetzung die gleichen Wunder erklärt wie das Kopernikanische?“

„Sie meinen gewiß die Irrtümer der Malabaren?“ erwiderte er.

„Gerade von dem Berge der Malabaren wollte ich reden, lieber Philant. Allein, soviel Irrtum in jenem System stecken mag, es erklärt doch die astronomischen Naturerscheinungen vollkommen. Ja, es ist wunderbar, daß jene Astronomen dieselben Bewegungen der Gestirne und die Finsternisse so genau vorhersagen konnten wie Ihr Kopernikus, obwohl sie von einer so widersinnigen Voraussetzung ausgingen, wonach die Sonne weiter nichts tut, als einen großen Berg auf der Insel jener Barbaren zu umkreisen, Der Irrtum der Malabaren ist grob, der des Kopernikus ist vielleicht weniger sinnfällig. Vielleicht entwickelt ein neuer Philosoph von der Höhe seines Ruhmes herab eines Tages ein neues Dogma, und in seinem Dünkel über eine unwichtige Entdeckung, die aber immerhin als Grundlage eines neuen Systems dienen kann, behandelt er die Kopernikaner und Newtonianer als eine Rotte von Stümpern, die zu widerlegen unter seiner Würde ist.“

„Allerdings“, sagte Philant, „haben die neuen PHUosophen sich stets das Recht genommen, über die alten zu triumphieren. Descartes schmetterte die Heiligen der Schulweisheit nieder. Newton schlug ihn seinerseits zu Boden und wartet selbst nur auf einen Nachfolger, der ihn ebenso behandelt.“

„Sollte das nicht daran liegen,“ erwiderte ich, „daß die Eigenliebe schon hinreicht, um ein neues System zu erbauen? Der hohe Begriff von der eignen Bedeutung erzeugt beim Philosophen ein Gefühl der Unfehlbarkeit. Daraufhin zimmert er sich<13> sein System. Er glaubt zunächst blind an alles, was er beweisen will. Dann sucht er nach Gründen, die seinen Sätzen das Ansehen von Wahrscheinlichkeit geben, und daraus entspringt eine unerschöpfliche Quelle von Irrtümern. Gerade umgekehrt müßte er vorgehen. Mit Hilfe einer Anzahl von Beobachtungen müßte er von Folgerung zu Folgerung schreiten und bloß zusehen, wohin das führt und was daraus hervorgeht. Dann glaubte man ihm nicht so leicht, und indem man den behutsamen Schritten der Vorsicht folgt, lernte man weise zweifeln.“

„Sie müßten Engel zu Philosophen haben,“ versetzte Philant lebhaft; „denn welcher Mensch wäre vorurteilslos und völlig unparteiisch!“

„Mithin“, erwiderte ich, „ist der Irrtum unser Erbteil.“

„Behüte Gott!“ entgegnete mein Freund. „Wir sind für die Wahrheit geschaffen.“

„Ich will Ihnen gern das Gegenteil beweisen, wenn Sie mich geduldig anhören wollen“, sagte ich. „Und da wir hier nahe beim Hause sind, so lassen Sie uns auf dieser Bank Platz nehmen; denn ich glaube, der Spaziergang hat Sie ermüdet.“

Philant ist nicht gut zu Fuße und war mehr zur Zerstreuung und unwillkürlich, als mit Absicht spazieren gegangen. Er freute sich, jetzt sitzen zu können. Wir ließen uns ruhig nieder, und ich fuhr ungefähr so fort:

„Ich sagte Ihnen, Philant, der Irrtum sei unser Erbteil. Ich muß es Ihnen beweisen. Der Irrtum hat mehr als eine Quelle. Der Schöpfer scheint uns nicht dazu bestimmt zu haben, große Kenntnisse zu besitzen und im Reiche des Wissens große Fortschritte zu machen. Er hat die Wahrheiten in Abgründen verborgen, die unsre schwache Einsicht nicht durchforschen kann, und er hat sie mit einer dichten Dornenhecke umgeben. Der Weg der Wahrheit ist rings von Klüften eingefaßt. Man weiß nicht, welchen Pfad man einschlagen soll, um diese Gefahren zu meiden. Hat man sie dann glücklich überstanden, so gerät man in ein Labyrinth, in dem uns Ariadnes Wunderfaden nichts hilft und aus dem man nicht wieder herausfindet. Die einen laufen einem trügerischen Phantom nach, das sie mit seinem Blendwerk täuscht und ihnen statt guten Geldes falsche Münze gibt. Sie verirren sich gleich den Wanderern, die in der Dunkelheit Irrlichtern folgen, deren Schein sie verlockt. Andre erraten die verborgenen Wahrheiten und wähnen der Natur den Schleier abzureißen. Sie ergehen sich in Mutmaßungen, und man muß gestehen, daß die Philosophen in dem Lande große Eroberungen gemacht haben. Die Wahrheiten liegen uns so fern, daß sie zweifelhaft werden und just durch ihre Entfernung ein zweideutiges Ansehen erhalten. Fast keine Wahrheit ist unbestritten; denn es gibt keine, die nicht zwei Seiten hätte. Von der einen Seite gesehen scheint sie unumstößlich, von der andern ist sie der Irrtum selbst. Man nehme alles zusammen, was die Vernunft dafür und dagegen sagt, überlege, erörtere und erwäge es reiflich, und man wird nicht wissen, wofür man sich entscheiden soll. Das ist so wahr, daß nur die Zahl der Wahrscheinlichkeiten den Meinungen der Menschen Gewicht verleiht. Entgeht ihnen nur eine Wahrscheinlichkeit, die dafür oder dagegen spricht, so ergreifen sie den Irrtum, und da die<14> Vorstellungskraft ihnen das Für und Wider nie mit gleicher Stärke veranschaulichen kann, wird ihre Entscheidung stets durch Schwäche bestimmt, und die Wahrheit entzieht sich ihren Blicken.

„Gesetzt, eine Stadt läge in einer Ebene, wäre ziemlich lang und bestände nur aus einer Straße. Gesetzt, ein Reisender, der nie von dieser Stadt gehört hat, käme dahin und sähe sie in ihrer ganzen Länge. Er wird sie für ungeheuer halten, well er sie nur von einer Seite sieht, und sein UrteU wird grundfalsch sein, da wir ja wissen, daß sie nur aus einer Straße besieht. Ebenso geht es mit den Wahrheiten, weil wir sie nur stückweise betrachten und daraus auf das Ganze schließen. Die einzelnen Teile werden wir richtig beurteilen, aber über die Gesamtheit werden wir merklich irren. Um zur Erkenntnis einer allgemeinen Wahrheit zu gelangen, muß man sich zuvörderst einen Vorrat von Einzelwahrheiten geschaffen haben, die uns leiten oder als Stufen zur Erreichung der gesuchten zusammengesetzten Wahrheit dienen. Grade das fehlt uns. Ich rede nicht von Mutmaßungen, sondern von offenbaren, sicheren, unwiderruflichen Wahrheiten. Philosophisch genommen, kennen wir garnichts. Wir ahnen gewisse Wahrheiten, machen uns unklare Begriffe davon und bringen je nach unsren Sprachwerkzeugen gewisse Laute hervor, die wir als wissenschaftliche Ausdrücke bezeichnen. Ihr Schall befriedigt unser Ohr. Unser Geist glaubt sie zu erfassen, aber genau genommen bieten sie unsrer Vorstellungskraft nichts als wirre und unklare Begriffe. Unsre Philosophie ist also im Grunde nichts als die Gewohnheit, dunkle, uns unverständliche Ausdrücke zu brauchen, als ein tiefes Nachsinnen über Wirkungen, deren Ursachen uns völlig unbekannt und verborgen bleiben. Die klägliche Zusammenstellung solcher Träumereien wird mit dem schönen Namen „vortreffliche Philosophie“ beehrt, und der Verfasser preist sie mit der Prahlerei eines Marktschreiers als die seltenste, dem Menschengeschlecht nützlichste Entdeckung an. Die Wißbegier treibt uns zu näherem Eingehen auf diese Entdeckung, und wir glauben Tatsachen zu finden. Welch unbillige Erwartung! Nein! Die so seltene, so kostbare Entdeckung ist nichts als ein neugeprägtes Wort, das noch barbarischer ist als die alten. Dies Wort drückt nach der Behauptung unsres Marktschreiers eine bisher unbekannte Wahrheit vottrefflich aus und macht sie uns sonnenklar. Man sehe, prüfe und wickle seine Idee aus dem Wortgepränge, das sie umhüllt — und es bleibt nichts. Stets herrscht die gleiche Dunkelheit und Finsternis. Eine Theaterdekoration verschwindet, und das Blendwerk der Täuschung zerrinnt.

„Die echte Erkenntnis der Wahrheit muß ganz anders sein als die eben gezeichnete. Man müßte alle Ursachen angeben können, bis zu ihrem Ursprung zurückgehen, ihn kennen und sein Wesen entwickeln. Das fühlte Lukrez wohl, und darum sagte dieser Dichterphilosoph:

Felix qui potuit rerum cognoscere causas.14-1

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„Die Grundstoffe alles Seienden und die Triebfedern der Natur sind entweder zu zahllos oder zu klein, als daß der Philosoph sie wahrnehmen oder erkennen könnte. Daher der ewige Streit über die Atome, über die unendliche Teilbarkeit der Materie, über das Volle und das Leere, über die Bewegung, über die Art der Weltregierung — lauter dornenreiche Fragen, die wir nie lösen werden. Der Mensch scheint sich selbst anzugehören. Mich dünkt, daß ich mein eigener Herr bin, mich erforsche und kenne. Allein ich kenne mich nicht. Noch ist es unentschieden, ob ich eine Maschine bin, ein Automat, den die Hand des Schöpfers bewegt, oder ein freies, vom Schöpfer unabhängiges Wesen. Ich fühle, daß ich die Fähigkeit habe, mich zu bewegen, und weiß doch nicht, was Bewegung ist, ob ein Attribut oder eine Substanz. Der eine Gelehrte schreit mir entgegen: sie ist ein Attribut. Der andre schwört darauf, sie sei eine Substanz. Beide streiten, die Höflinge lachen, die Götter der Erde verachten sie, und das Volt weiß nichts von ihnen und vom Gegenstand ihres Streites. Heißt das nicht, die Vernunft aus ihrem Wirkungskreise reißen, indem man sie mit so unbegreiflichen abstrakten Dingen beschäftigt? Mir scheint, unser Geist ist zu so grenzenlosem Wissen nicht fähig. Wir sind wie Leute, die an einer Küste entlang segeln. Sie bilden sich ein, das Ufer bewege sich, nicht aber ihr Schiff, und doch ist es gerade umgekehrt: das Ufer sieht fest, sie aber werden vom Winde getrieben. Stets verführt uns unsre Eigenliebe. Alle Dinge, die wir nicht begreifen können, nennen wir dunkel, und alles heißt unverständlich, sobald es außer unsrer Sphäre liegt. Aber es ist nur die Beschränktheit unsres Verstandes, die uns zu tieferer Erkenntnis unfähig macht.

„Unleugbar gibt es ewige Wahrheiten. Allein, um sie zu begreifen, um auch ihre kleinsten Ursachen zu erforschen, müßte unser Gedächtnis millionenfach größer sein, müßte man sich ganz der Erkenntnis einer einzigen Wahrheit widmen, müßte so alt werden wie Methusalem, ja noch älter, müßte beständig spekulieren und Erfahrungen sammeln, müßte schließlich eine geistige Anspannung haben, deren wir nicht fähig sind. Urteilen Sie nun, ob der Schöpfer die Absicht hatte, uns zu weisen Geschöpfen zu machen. Denn diese Hindernisse scheinen doch aus seinem Willen hervorzugehen, und die Erfahrung lehrt, daß wir wenig Fassungsvermögen, wenig Streben besitzen, daß unser Geist zur Erkenntnis der Wahrheit nicht durchdringt, daß unser Gedächtnis nicht weit und zuverlässig genug ist, um all die Weisheit zu fassen, die ein so schönes und mühseliges Forschen erfordert.

„Es gibt aber noch ein andres Hindernis für die Erkenntnis der Wahrheit. Ja, die Menschen haben es sich selbst in den Weg gelegt, als wäre dieser an sich nicht schon schwierig genug. Das Hindernis liegt in den Vorurteilen unsrer Erziehung. Die überwiegende Mehrheit der Menschen hat offenbar falsche Grundsätze. Ihre Physik ist sehr mangelhaft, ihre Metaphysik taugt garnichts, ihre Moral besieht aus schmutzigem Eigennutz und grenzenlosem Hängen an den irdischen Gütern. Was sie große Tugend nennen, ist kluger Vorbedacht für die Zukunft und Sorge für die künftige Wohl<16>fahrt ihrer Familie. Sie werden sich leicht sagen können, daß die Logik dieser Art Menschen zu ihrer Philosophie paßt. Sie ist denn auch erbärmlich. Ihre ganze Dialektik besieht darin, daß sie allein das Wort führen, über alles selbst entscheiden und keinen Einwand dulden. Diese kleinen Hausgesetzgeber sind von Anfang an darauf erpicht, ihren Sprößlingen ihre eignen Ideen einzuprägen. Eltern und Verwandte streben nach Verewigung ihrer Irrtümer. Kaum verläßt das Kind seine Wiege, so ist man schon bemüht, ihm einen Begriff vom Knecht Ruprecht und vom Werwolf zu geben. Auf diese schönen Lehren folgen dann gewöhnlich andre von gleichem Werte. Die Schule trägt das ihre dazu bei. Man wird von den Visionen Platos zu denen des Aristoteles geführt. Dann wird man mit einemmal in die Geheimnisse der Descartesschen Wirbeltheorie eingeweiht. So verläßt man die Schule. Das Gedächtnis ist mit Worten belastet, der Geist voller abergläubischer Vorurteile und voller Ehrfurcht vor alten Hirngespinsien. Das vernünftige Alter kommt. Entweder schüttelt man das Joch des Irrtums ab oder man überbietet die Eltern noch. Waren sie einäugig, so wird man selbst blind. Haben sie gewisse Dinge geglaubt, weil sie sich einbildeten, sie zu glauben, so glaubt man sie nun aus Starrsinn. Dazu kommt noch das Beispiel so vieler, die zäh an einer Meinung hängen. Ihr Beifall besitzt für uns hinreichende Autorität; ihre große Zahl fällt in die Wagschale. Der im Volk verbreitete Irrtum macht Proselyten und feiert Triumphe. Schließlich werden die eingewurzelten Vorurteile durch die Zeitdauer riesengroß. Denken Sie sich einen jungen Baum, dessen dünner Stamm sich vor der Gewalt der Winde biegt. Er wächst und erstarkt, bietet mit seinem stolzen Wipfel den Wolken Trotz und setzt der Axt des Holzfällers einen unerschütterlichen Stamm entgegen. „Wie!“ sagt man. „So hat mein Vater gedacht, und seit sechzig, siebzig Jahren denke ich ebenso. Mit welchem Rechte kannst du verlangen, daß ich mein Denken jetzt ändere? Soll ich etwa wieder zum Schüler werden und mich von dir gängeln lassen? Laß ab! Ich will lieber auf der allgemeinen Heerstraße dahinschleichen, als mich mit dir wie ein neuer Ikarus in die Lüfte schwingen. Denke an seinen Sturz! Das ist der Lohn für die neuen Lehren, die Strafe, die deiner harrt!“ Oft tritt zum Vorurteil noch Starrsinn, und eine gewisse Barbarei, die man falschen Eifer nennt, stellt unfehlbar ihre tyrannischen Grundsätze auf.

„Das sind die Wirkungen der vorgefaßten Meinungen der Kindheit. Bei der Aufnahmefähigkeit des Gehirns in jenem zarten Alter schlagen sie um so tiefer Wurzel. Die ersten Eindrücke sind die lebhaftesten. Alle Urteilskraft erscheint dagegen nur schwach.

„Sie sehen also, lieber Philant, der Irrtum ist das Erbteil der Menschheit. Nach allen meinen Ausführungen werden Sie gewiß begreifen, daß man von seinen Ansichten sehr aufgeblasen sein muß, um sich über den Irrtum erhaben zu wähnen, und daß man selbst sehr fest im Sattel sitzen muß, will man es wagen, andre aus dem Sattel zu heben.“

<17>

„Zu meinem großen Erstaunen“, erwiderte Philant, „beginne ich einzusehen, daß die meisten Irrtümer bei den einmal darin Befangenen unausrottbar sind. Ich habe Ihnen aufmerksam und mit Vergnügen zugehört und, wenn ich nicht irre, die Ursachen des Irrtums, die Sie mir angaben, wohl behalten. Es waren das, wie Sie sagten, der weite Abstand der Wahrheit von unsern Augen, das geringe Wissen, die Schwachheit und Unzulänglichkeit unsres Verstandes und die Vorurteile der Erziehung.“

„Vortrefflich, Philant! Sie haben ein ganz göttliches Gedächtnis. Gefiele es Gott und der Natur je, einen Sterblichen zu bilden, der ihre erhabenen Wahrheiten zu fassen vermag, so wären Sie es gewiß, Sie, der ein so umfassendes Gedächtnis mit so lebhaftem Geist und sicherem Urteil vereint.“

„Bitte, keine Komplimente!“ erwiderte PHUant. „Mir liegt mehr an philosophischen Gedankengängen als an Ihren Lobsprüchen. Es kommt hier garnicht darauf an, mir eine Lobrede zu halten, sondern für den Dünkel aller Gelehrten ehrlich Buße zu tun und unsre Unwissenheit in Demut zu bekennen.“

„Ich werde Ihnen wacker beistehen, Philant, wenn es gilt, unsre tiefe und krasse Unwissenheit aufzudecken. Ich gestehe sie gern ein, ja ich gehe bis zum Pyrrhonismus17-1 und finde, wir tun sehr gut daran, wenn wir den sogenannten Erfahrungswahrheiten mehr Zweifel als Glauben entgegenbringen. Sie sind da auf gutem Wege, Philant. Der Skeptizismus sieht Ihnen nicht übel an. Pyrrhon hätte im Lykeion17-2 nicht anders geredet als Sie. Ich muß Ihnen gestehen, daß ich ein ziemlicher Anhänger der Akademie17-3 bin. Ich betrachte die Dinge von allen Seiten. Ich zweifle und bleibe unentschieden: so allein kann man sich vor Irrtum bewahren. Bei diesem Skeptizismus mache ich zwar keine Riesenschritte, wie Okeanos bei Homer, der Wahrheit entgegen, aber er behütet mich doch vor den Schlingen der Vorurteile.“

„Und warum fürchten Sie den Irrtum,“ erwiderte Philant, „da Sie ihn ja so gut verteidigen?“

„Ach!“ versetzte ich, „manch holder Irrtum verdient den Vorzug vor der Wahrheit. Die Irrtümer erfüllen uns mit angenehmen Vorstellungen, überhäufen uns mit Gütern, die wir nicht besitzen und niemals genießen werden. Sie sind unsre Stütze im Unglück. Ja selbst im Tode, wenn wir schon im Begriff sind, alle Güter und das Leben selbst zu verlieren, eröffnen sie uns die Aussicht auf Güter, die den Vorzug vor denen verdienen, die wir aufgeben. Sie tauchen uns in Ströme von Seligkeiten, die uns den Tod selbst noch versüßen, ja ihn liebenswert machen könnten, wenn das möglich wäre. Dabei fällt mir die Geschichte eines Geisteskranken ein,<18> die mir erzählt wurde. Vielleicht wird sie Sie für meine lange, lehrhafte Erörterung schadlos halten.“

„Mein Stillschweigen“, entgegnete Philant, „zeigt Ihnen zur Genüge, daß ich Ihnen mit Vergnügen zuhöre. Ich bin begierig, Ihre Geschichte zu erfahren.“

„Ich will Ihre Neugier befriedigen, Philant. Aber Sie dürfen es dann nicht bereuen, mich zum Plaudern gereizt zu haben. Im Irrenhause zu Paris war also ein Mann von vornehmer Geburt, der alle seine Verwandten durch seine Geisteszerrüttung in tiefe Betrübnis versetzte. Er dachte über alles vernünftig, ausgenommen über seine Seligkeit. Er glaubte sich in Gesellschaft von lauter Cherubimen, Seraphimen und Erzengeln, sang den ganzen Tag im Konzert dieser unsterblichen Geister und wurde mit beseligenden Visionen beehrt. Das Paradies war sein Aufenthalt, die Engel seine Gefährten, das himmlische Manna seine Speise. Dieser glückliche Narr genoß im Irrenhause ein vollkommenes Glück — bis zu seinem Unglück ein Arzt oder Wundarzt die Geisteskranken besuchte. Der Arzt erbot sich der Familie gegenüber, den Seligen zu heilen. Sie können sich denken, daß man ihm alles mögliche versprach, wenn er seine ganze Kunst aufböte und womöglich Wunder täte. Genug! Um es kurz zu machen: es gelang dem Arzte durch Aderlässe oder andre Mittel, den Kranken wieder in den Vollbesitz seines gesunden Verstandes zu bringen. Er war tief erstaunt, sich nicht mehr im Himmel, sondern an einem Orte zu finden, der dem Gefängnis sehr ähnlich sah, und in einer Gesellschaft, die nichts Engelhaftes hatte. Er war wütend auf den Arzt. 'Ich fühlte mich wohl im Himmel', sagte er zu ihm. 'Sie hatten kein Recht, mich herunterzuholen. Zu Ihrer Strafe wünschte ich Ihnen, Sie würden verdammt und kämen leibhaftig in die Hölle18-1.' Sie sehen daraus, Philant, daß es beseligende Irrtümer gibt. Es wird mir nicht schwer fallen, Ihnen zu zeigen, daß sie auch unschuldig sind.“

„Das soll mir recht sein“, erwiderte er. „Da wir spät zu Nacht essen, haben wir noch mindestens drei Stunden vor uns.“

„Soviel“, entgegnete ich, „brauche ich nicht für das, was ich Ihnen zu sagen habe. Ich werde mit meiner Zeit und mit Ihrer Geduld sparsam umgehen. Sie gaben mir vorhin zu, daß der Irrtum bei den darin Befangenen unfreiwillig sei. Sie wähnen sich im Besitz der Wahrheit und täuschen sich doch. Sie sind in der Tat entschuldbar; denn nach ihrer Meinung haben sie die Wahrheit. Sie gehen ehrlich zu Werke, aber der Schein trügt sie; sie halten den Schatten für den Körper selbst. Bedenken Sie bitte ferner, daß sie aus einem löblichen Beweggrund in Irrtum versunken sind. Sie suchten die Wahrheit, verirrten sich aber auf dem Wege, und wenn sie sie auch nicht fanden, so besaßen sie doch wenigstens den guten Willen. Sie hatten keine, oder was noch schlimmer ist, schlechte Führer. Sie suchten den Weg zur Wahrheit, aber ihre Kräfte versagten vor dem Ziele. Kann man einen Menschen verur<19>teilen, der beim Durchschwimmen eines sehr breiten Stromes ertrinkt, weil er nicht die Kraft gehabt hat, ans andre Ufer zu kommen? Wenn man nicht ganz fühllos ist, wird man Mitleid mit seinem traurigen Geschick haben. Man wird einen Mann beklagen, der so mutig und eines so kühnen und edlen Vorsatzes fähig war, aber von der Natur nicht genug unterstützt wurde. Seine Kühnheit scheint ein besseres Schicksal verdient zu haben, und seine Asche wird mit Tränen benetzt werden. Jeder denkende Mensch muß sich anstrengen, die Wahrheit zu erkennen. Solche Anstrengungen sind unsrer würdig, auch wenn sie unsre Kräfte übersteigen. Es ist schon schlimm genug, daß die Wahrheit für uns unerforschlich ist. Wir dürfen das Elend nicht noch durch Verachtung derer mehren, die bei der Entdeckung dieser neuen Welt Schiffbruch erleiden. Sie sind hochherzige Argonauten, die sich für das Wohl ihrer Mitbürger Gefahren aussetzen. In den Ländern der Einbildung umherzuirren ist in der Tat eine harte Arbeit. Das Klima ist uns unzuträglich, wir kennen die Sprache der Einwohner nicht und verstehen uns nicht darauf, durch den Flugsand jener Gefilde zu schreiten.

„Glauben Sie mir, Philant, wir müssen duldsam gegen den Irrtum sein. Er ist ein feines Gift, das unvermerkt in unser Herz dringt. Ich, der ich mit Ihnen rede, bin nicht sicher, eine Ausnahme zu bilden. Verfallen wir nie in den lächerlichen Dünkel jener unfehlbaren Gelehrten, deren Worte als Orakelsprüche zu gelten haben. Seien wir nachsichtig auch gegen die Handgreiflichsien Irrtümer und rücksichtsvoll gegen die Ansichten derer, mit denen wir zusammen leben. Warum sollen wir die holden Bande, die uns vereinen, einer Meinung zuliebe zerreißen, von der wir selbst nicht recht überzeugt sind? Spielen wir uns nicht als Kämpen für eine unbekannte Wahrheit auf, und überlassen wir es der Einbildungskraft eines jeden, sich aus seinen Ideen einen Roman zu spinnen. Die Zeiten der fabelhaften Recken, die Wundertaten und Schwärmereien der fahrenden Ritter sind vorüber. Einen Don Quichotte bewundert man noch bei Cervantes, aber ein Pharamund, Roland, Amadis und Gandalin19-1 würden sich dem Gelächter aller Vernünftigen aussetzen, und die Ritter, die in ihre Fußtapfen träten, würde das gleiche Schicksal ereilen.

„Zu bemerken ist noch: um die Irrtümer der Welt auszurotten, müßte man das ganze Menschengeschlecht vertilgen. Für das Glück der Gesellschaft macht es wenig aus, wie wir über spekulative Fragen denken, aber viel, wie wir handeln. Ob Sie Anhänger des Systems Tycho de Brahes oder des der Malabaren sind, ich verzeihe es Ihnen gern, wenn Sie nur menschlich sind. Wären Sie aber der orthodoxeste aller Weltweisen und dabei von grausamem, hartem und barbarischem Charakter, so würde ich Sie stets verabscheuen.

<20>

„Ich bin vollkommen Ihrer Meinung“, sagte Philant.

Bei diesen Worten hörten wir nicht weit von uns ein dumpfes Gemurmel, als ob jemand Schmähworte vor sich hinbrummte. Wir drehten uns um und erblickten im hellen Mondschein zu unsrem Erstaunen den Hauskaplan, der nur ein paar Schritte von uns entfernt war und wahrscheinlich den größten Teil unsrer Unterhaltung gehört hatte.

„Sieh da! Mein Vater!“ rief ich. „Wie kommt's, daß wir Sie hier so spät antreffen?“

„Heute ist Sonnabend“, erwiderte er. „Ich war dabei, meine Predigt für morgen vorzubereiten. Da hörte ich mitten drin ein paar Worte von Ihrem Gespräch, die mich veranlaßten, auch den Rest anzuhören. Wollte Gott, ich hätte zum Heil meiner Seele nichts davon vernommen! Sie haben meinen gerechten Zorn erregt, haben meine frommen Ohren beleidigt, die heiligen Gefäße unsrer unaussprechlichen Wahrheiten. Unheilige, schlechte Christen, die ihr seid, ihr wollt Menschlichkeit, Erbarmen und Demut der Macht der Religion und der Heiligkeit unsres Glaubens vorziehen! Wohlan, ihr werdet verdammt und in Kesseln voll siedenden Öles gemartert werden, die für die Verdammten bestimmt sind — euresgleichen.“

„Verzeihung, mein Vater!“ erwiderte ich. „Wir haben keine religiösen Fragen berührt. Wir sprachen nur von höchst gleichgültigen philosophischen Problemen. Und falls Sie nicht Tycho de Brahe und Kopernikus zu Kirchenvätern erheben wollen, sehe ich nicht ein, worüber Sie sich zu beklagen hätten.“

„Schon gut!“ sagte er. „Ich werde Sie morgen abkanzeln. Gott weiß, wie glatt ich Sie zum Teufel schicken werde.“

Wir wollten ihm antworten, aber er verließ uns unwirsch und brummte im Fortgehen ein paar Worte, die wir nicht recht verstehen konnten. Ich hielt es für einen frommen Seufzer, aber Philant glaubte ein paar rhetorische Verwünschungen aus irgend einem Psalm Davids gehört zu haben.

Wir gingen ins Haus, sehr zerknirscht ob des Abenteuers, das wir gehabt hatten, und sehr verlegen, welche Maßregeln wir ergreifen sollten. Mich dünkte, ich hatte nichts gesagt, was irgendwen hätte beleidigen können. Was ich zugunsten des Irrtums behauptet hatte, war der gesunden Vernunft und folglich den Grundsätzen unsres allerheiligsien Glaubens gemäß; denn er befiehlt uns selbst Duldung gegen die Fehler unsrer Nächsien und verbietet uns, den Schwachen Ärgernis zu bereiten und sie zu verletzen. Ich fühlte mich bei meinen Ansichten also rein und fürchtete nichts als die Denkweise der Frömmler. Man weiß ja, wie weit ihr Glaubenseifer geht und wie leicht sie imstande sind, andre gegen die Unschuld einzunehmen, wenn sie Abscheu gegen jemand gefaßt haben und ihn in Verruf bringen möchten. Philant beruhigte mich, so gut er konnte, und wir trennten uns nach dem Abendessen, jeder in tiefem Sinnen, vermutlich über den Gegenstand unsrer Unterhaltung und den<21> unglücklichen Zwischenfall mit dem Pfaffen. Ich ging ungesäumt in mein Zimmer und brachte während des größten Teiles der Nacht zu Papier, was ich von unsrer Unterredung behalten hatte.

<22>

Über die Gründe, Gesetze einzuführen oder abzuschaffen (1749)22-1

Man erwirbt sich genaue Kenntnis über die Gründe zur Einführung oder Abschaffung von Gesetzen nur aus der Geschichte. Sie zeigt uns, daß alle Völker ihre eignen Gesetze hatten, daß sie nach und nach eingeführt wurden und daß die Menschen stets viel Zeit brauchten, um zu etwas Vernünftigem zu gelangen. Wir sehen ferner, daß die Gesetze am längsten bestanden haben, deren Urheber auf das Gemeinwohl bedacht waren und den Geist des Volkes am besten kannten. Diese Betrachtung nötigt uns zu näherem Eingehen auf die Geschichte der Gesetze und die Art ihrer Einführung in den kultiviertesten Ländern. Wahrscheinlich waren die Familienhäupter die ersten Gesetzgeber. Das Bedürfnis, Ordnung in ihren Familien zu schaffen, veranlaßte sie ohne Zweifel, Hausgesetze zu geben. Nach diesen ersten Zeiten, als die Menschen sich in Städten anzusiedeln begannen, reichten die Gesetze der Hausgerichtsbarkeit für die zahlreichere Gesellschaft nicht mehr aus. Die Bosheit des menschlichen Herzens, die in der Einsamkeit abzusterben scheint, lebt in der Geisellschaft wieder auf. Der Umgang mit seinesgleichen, der die verwandten Charaktere zusammenführt, gibt den Tugendhaften Gefährten, aber auch den Lasterhaften Mitschuldige.

Die Ausschreitungen in den Städten nahmen zu. Neue Lasier entstanden, und die Familienhäupter, denen am meisten an ihrer Unterdrückung lag, schlössen sich ihrer Sicherheit halber zusammen, um ihnen entgegenzutreten. Man erließ daher Gesetze<23> und ernannte Obrigkeiten, die über ihre Befolgung zu wachen hatten. So groß ist die Verderbtheit des Menschenherzens, daß man uns durch die Macht der Gesetze zwingen muß, in Glück und Frieden zu leben!

Die ersten Gesetze wehrten nur den gröbsten Unzuträglichkeiten. Die bürgerlichen Gesetze regelten den Dienst der Götter, die Teilung des Ackerlandes, die Ehevertrage und die Erbfolge. Die Strafgesetze verfuhren nur gegen die Verbrechen streng, deren Wirkungen man am meisten fürchtete. Entstanden dann in der Folge neue Unzuträglichkeiten und Unordnungen, so wurden neue Gesetze geschaffen.

Aus dem Bund der Städte entstanden Republiken, deren Regierungsform sich bei der Wandelbarkeit aller menschlichen Dinge oft veränderte. Das Volk wurde der Demokratie überdrüssig und ging zur Aristokratie über, an deren Stelle dann sogar die monarchische Regierungsform trat: entweder so, daß das Volk zur hervorragenden Tugend eines Mitbürgers Vertrauen hatte, oder daß irgend ein Ehrgeiziger durch Ränke die Herrschermacht an sich riß. Nur wenige Staaten haben diese verschiedenen Regierungsformen nicht durchgemacht, aber alle hatten verschiedene Gesetze.

Osiris23-1 ist der erste Gesetzgeber, den die Weltgeschichte erwähnt. Er war König von Ägypten und führte dort seine Gesetze ein, denen nicht nur die Untertanen, sondern auch die Herrscher selbst unterworfen waren. Die Könige erwarben sich nur so weit die Liebe des Volkes, als sie nach diesen Gesetzen regierten. Osiris (einige Schriftsieller nennen daneben auch Isis) setzte dreißig Richter ein. Ihr Oberhaupt trug an einer goldenen Halskette das Bild der Wahrheit. Wen er damit berührte, der hatte seine Sache gewonnen. (Herodot, Diodor.) Osiris regelte den Götterdiensi, die Teilung des Ackerlandes und den Unterschied der Stände. Er verbot die Schuldhaft und verbannte alle Verführungstünsie der Rhetorik aus den Gerichten. Die Ägypter verpfändeten ihren Gläubigern die Leichen ihrer Eltern, und der Schuldner, der sie vor seinem Tode nicht wiedereinlösie, galt für ehrlos. Der Gesetzgeber glaubte, es sei nicht genug, die Menschen bei Lebzeiten zu bestrafen. Er richtete auch Totengerichte ein, damit die Schande, die sich an ihre Verurteilung heftete, den Lebenden ein Ansporn zur Tugend würde.

Nächst den Gesetzen der Ägypter sind die der Kreter die ältesten. Ihr Gesetzgeber, Minos, gab sich für einen Sohn Jupiters aus und behauptete, seine Gesetze von seinem Vater empfangen zu haben, um ihnen mehr Ansehen zu verschassen.

Lykurg, König von Sparta, benutzte die Gesetze des Minos und fügte einige des Osiris hinzu, die er auf einer Reise nach Ägypten gesammelt hatte. (Plutarch.) Er verbannte Gold und Silber und alle Münzen, sowie alle nutzlosen Künste aus seinem Lande und verteilte die Äcker gleichmäßig unter die Bürger. (Plutarch.) Lykurg wollte Krieger heranbilden, deren Mut durch keine Art von Leidenschaft entnervt werden sollte. Daher gestattete er den Bürgern die Weibergemeinschaft. Auf diese Weise<24> wurde der Staat bevölkert, ohne daß der einzelne von den süßen Banden einer zärtlichen Ehe allzusehr gefesselt wurde. Alle Kinder wurden auf Staatskosten erzogen. Konnten die Eltern nachweisen, daß ihre Kinder bei der Geburt schwächlich waren, so durften sie sie töten. Lykurg dachte, ein Mensch, der nicht imstande sei, die Waffen zu führen, verdiene auch nicht das Leben. Er bestimmte, daß die Heloten, eine Art von Sklaven, das Land bebauen und daß die Spartaner sich nur mit Übungen beschäftigen sollten, die sie kriegstüchtig machten. Die Jugend beiderlei Geschlechts übte sich ganz nackt auf öffentlichen Plätzen im Ringen. Die Mahlzeiten waren geregelt. Alle Bürger aßen ohne Unterschied miteinander. Fremde durften sich in Sparta nicht aufhalten, damit ihre Sitten die von Lykurg eingeführten nicht verdarben. Nur ungeschickte Diebe wurden bestraft. Lykurg wollte eine kriegerische Republik gründen, und das gelang ihm.

Drako gab den Athenern zuerst Gesetze. Sie waren aber so streng, daß man von ihnen sagte, sie wären eher mit Blut als mit Tinte geschrieben. (Plutarch, „Leben Solons“.) Auf die geringsten Vergehen stand Todesstrafe. Ja, Drako machte sogar den leblosen Dingen den Prozeß. So ward eine Bildsäule, die im Herunterfallen einen Menschen verletzt hatte, aus der Stadt verbannt.

Wir haben gesehen, wie die Gesetze in Ägypten und Sparta eingeführt wurden. Jetzt wollen wir prüfen, wie man sie in Athen verbesserte. Die Mißstände, die in Attika herrschten, und die schlimmen Folgen, die man vorhersah, veranlaßten die Bürger, ihre Zuflucht zu einem Weisen zu nehmen, der allein so vielen Mißbräuchen abhelfen tonnte. Die verschuldeten Armen, die von den Reichen grausam bedrückt wurden, suchten nach einem Oberhaupte, das sie von der Tyrannei ihrer Gläubiger befreite. Infolge dieser inneren Zwistigkeiten ward Solon einstimmig zum Archonten und höchsten Schiedsrichter ernannt. Die Reichen, sagt Plutarch, hießen ihn als reichen und die Armen als rechtschaffenen Mann willkommen.

Solon entlastete die Schuldner und erlaubte den Bürgern, Testamente zu errichten. Die Frauen, die impotente Männer hatten, durften sich unter deren Verwandten andre wählen. Seine Gesetze bestraften den Müßiggang, sprachen den, der einen Ehebrecher erschlug, frei und verboten, die Vormundschaft über Kinder deren nächsten Erben zu übertragen. Wer einem Einäugigen sein Auge ausgestoßen hatte, verlor beide Augen. Sittenlose wagten in den Volksversammlungen nicht zu reden. Gegen den Vatermord gab Solon keine Gesetze. Dies Verbrechen erschien ihm unserhört, und er fürchtete, es durch ein Verbot eher zu lehren als zu verhindern.

Seine Gesetze ließ er im Areopag niederlegen. Dieser von Ketrops gestiftete Rat, der anfangs aus dreißig Richtern bestanden hatte, wurde auf fünfhundert gebracht. Er hielt seine Sitzungen bei Nacht, und die Advokaten verfochten ihre Rechtshändel rein sachlich. Sie durften die Leidenschaften nicht aufstacheln.

Die Gesetze Athens kamen dann nach Rom. Da aber das Römische Reich allen Völkern, die es unterwarf, seine Gesetze gab, so wird es nötig sein, näher darauf einzugehen. Der Gründer und erste Gesetzgeber Roms war Romulus. Das wenige,<25> was wir von seinen Gesetzen wissen, ist folgendes25-1: Romulus bestimmte, daß die Könige in Rechts- und Glaubenssachen unumschränkte Gewalt haben sollten. Die Fabeln, die von den Göttern erzählt wurden, sollte man nicht glauben, sondern fromm und heilig von ihnen denken und diesen seligen Wesen nichts Entehrendes zuschreiben. Plutarch setzt hinzu: weil die Annahme, die Götter könnten an den Reizen einer sterblichen Schönheit Gefallen finden, eine Gottlosigkeit sei. So wenig abergläubisch der König aber auch war, so befahl er doch, ohne vorherige Befragung der Auguren nichts zu unternehmen.

Romulus setzte die Patrizier in den Senat und teilte das Volk in Tribus. Die Sklaven rechnete er in seiner Republik für nichts. Die Ehemänner hatten das Recht, ihre Weiber mit dem Tode zu bestrafen, wenn sie sie beim Ehebruch oder im Rausche betrafen. Den Vätern gab er unumschränkte Gewalt über ihre Kinder. Sie durften sie töten, wenn sie mißgestaltet zur Welt kamen. Vatermörder wurden mit dem Tode bestraft. Ein Patron, der seinen Klienten betrog, wurde verabscheut. Eine Schwiegertochter, die ihren Schwiegervater schlug, überließ man der Rache der Hausgötter. Die Mauern der Städte wurden für heilig erklärt. Romulus tötete seinen eignen Bruder Remus, weil er das Gesetz durch einen Sprung über die Mauern der von ihm gegründeten Stadt übertreten hatte. Er errichtete Freistätten, deren eine am Tarpejischen Fels lag.

Numa vermehrte die Gesetze des Romulus. (Plutarch, „Leben Numas“.) Da er sehr fromm und von tiefer Religiosität war, so verbot er, die Götter in Menschenoder Tiergestalt darzustellen. Daher kam es, daß es in den ersten 160 Jahren nach der Gründung Roms keine Götterbilder in den Tempeln gab.

Um die Bürger zur Vermehrung des Geschlechts aufzumuntern, bestimmte Tullus Hostilius: wenn eine Frau Drillinge zur Welt brächte, sollten sie bis zur Großjährigkeit auf Staatskosten erzogen werden. (Danet, Dictionnaire des Antiquitès.)

Unter den Gesetzen des Tarquinius Priscus heben wir hervor, daß jeder Bürger dem König ein Verzeichnis seiner Güter geben mußte und bestraft wurde, wenn er es unterließ. Ferner bestimmte Tarquinius die Opfer, die jeder in den Tempeln darzubringen hatte, und gestattete, die Freigelassenen in die städtischen Tribus aufzunehmen. Die Gesetze dieses Königs brachten auch den Schuldnern Erleichterung.

Das sind die wichtigsten Gesetze, die die Römer von ihren Königen erhielten. Sie wurden von Sertus Papirius gesammelt und nach ihm Codex Papirianus genannt. Die meisten wurden, da sie für einen monarchischen Staat bestimmt waren, bei der Vertreibung der Könige abgeschafft.

Valerius Publicola, der Mitkonsul des Brutus, eines der Werkzeuge der römischen Freiheit, war dem Volke gewogen. Er gab neue Gesetze, die sich der eben begründeten Regierungsform anpaßten. Diese Gesetze gestatteten gegen die Urteile der<26> Richter die Berufung ans Volk. Die Annahme von Ämtern ohne Zustimmung des Volkes war bei Todesstrafe verboten. Publicola verminderte die Auflagen und erlaubte die Ermordung der Bürger, die nach der Alleinherrschaft strebten.

Erst nach ihm kamen die Wucherzinsen auf, die von den Großen Roms bis auf acht Prozent getrieben wurden. (Livius, Buch II; Tacitus, „Annalen“.) Konnte der Schuldner nicht bezahlen, so ward er ins Gefängnis geworfen und kam mit seiner ganzen Familie in die Sklaverei. Dies harte Gesetz erschien den Plebejern, die oft seine Opfer wurden, unerträglich. Sie murrten gegen die Konsuln, aber der Senat blieb unerbittlich, und das aufgebrachte Volk wanderte auf den Heiligen Berg aus. Hier unterhandelte es mit dem Senat wie mit seinesgleichen und kehrte nur unter der Bedingung nach Rom zurück, daß seine Schulden getilgt und Tribunen eingesetzt würden, die seine Rechte vertraten. Die Tribunen setzten die Zinsen auf vier Prozent herab, und schließlich wurden sie für einige Zeit ganz abgeschafft.

Jeder der beiden Stände, die die römische Republik bildeten, schmiedete immerfort ehrgeizige Pläne, um sich auf Kosten des andren zu erheben. Daraus entstand Mißtrauen und Eifersucht. Einige Aufrührer schmeichelten dem Volke, indem sie seine Forderungen noch steigerten, und durch einige junge Senatoren von hitziger Gemütsart und großem Stolze fielen die Beschlüsse des Senats oft zu streng aus. Die Lex agraria über die Verteilung der eroberten Gebiete erregte in der Republik mehr als einmal Zwistigkeiten, so im Jahre 267 nach der Gründung Roms. Der Senat schuf zwar eine Ablenkung durch einige Kriege, aber der Zwist erwachte immer aufs neue und währte bis zum Jahre 300.

Endlich sah Rom die Notwendigkeit ein, seine Zuflucht zu Gesetzen zu nehmen, die beide Teile befriedigten. Nun wurden Spurius Posthumius Albus, Aulus Man, lius und Publius Sulpicius Camerinus nach Athen geschickt, um Solons Gesetze zu sammeln. Nach ihrer Rückkehr wurden sie unter die Dezemvirn aufgenommen. Sie verfaßten die Gesetze, die dann durch Senatsbeschluß und durch Volksabstimmung bestätigt wurden. Man ließ sie auf zehn eherne Tafeln eingraben, zu denen im folgenden Jahre noch zwei Tafeln traten. So entstand die unter dem Namen der Zwölf Tafeln bekannte Gesetzsammlung. (Livius, III., 31.)

Diese Gesetze beschränkten die väterliche Gewalt, straften die Vormünder, die ihre Mündel betrogen, und erlaubten jedem die beliebige Vererbung seines Vermögens. Später bestimmten die Triumvirn, daß die Erblasser den vierten Teil ihres Vermögens ihren natürlichen Erben hinterlassen sollten: das ist der Ursprung des sogenannten Pflichtteils26-1. Kinder, die innerhalb von zehn Monaten nach dem Tode ihres Vaters zur Welt kamen, sollten noch für eheliche Kinder gelten, ein Privileg, das Kaiser Hadrian später bis auf den elften Monat ausdehnte.

<27>

Die den Römern bisher unbekannte Ehescheidung wurde erst durch die Zwölf Tafeln gesetzlich. Auch wurden Strafen für tätliche, wörtliche und schriftliche Beleidigungen festgesetzt. Schon die bloße Absicht des Vatermordes wurde mit dem Tode bestraft. Die Bürger durften bewaffnete Diebe oder solche, die des Nachts in ihre Häuser ein, brachen, töten. Jeder falsche Zeuge sollte vom Tarpejischen Fels herabgestürzt werden. In Kriminalsachen hatte der Ankläger zwei Tage Frist zur Erhebung seiner Amklage und der Beklagte drei Tage zu seiner Verteidigung. (Der Angeklagte erschien als Bittflehender vor dem Richter mit seinen Verwandten und Klienten.) Fand es sich, daß der Ankläger den Beklagten verleumdet hatte, so traf ihn die gleiche Strafe, als ob er das Verbrechen, dessen er den andren zieh, selbst begangen hatte.

Das ist im wesentlichen der Inhalt der Zwölf Tafeln, die Tacitus das Ideal guter Gesetze nennt. Ägypten und Griechenland trugen mit dem Vollkommensten, was man dort kannte, zu ihnen bei. Diese gerechten und billigen Gesetze beschränkten die Freiheit der Bürger nur im Falle des Mißbrauchs, wenn sie der Ruhe der Familien oder der Sicherheit der Republik schadete.

Die Macht des Senats, die der des Volkes stets entgegenstand, der maßlose Ehrgeiz der Großen, die täglich wachsenden Ansprüche der Plebejer und viele andre Ur, fachen, die eigentlich in die Geschichte gehören, führten neue heftige Stürme herbei. Die Gracchen und Saturninus erließen einige revolutionäre Gesetze. Während der Wirren der Bürgerkriege entstand eine ganze Reihe von Bestimmungen, die die Er, eignisse wieder fortschwemmten. Sulla hob die alten Gesetze auf und führte andre ein, die Lepidus wieder abschaffte. Die Sittenverderbnis, die bei diesen inneren Zwistigkeiten immer mehr zunahm, führte zur unendlichen Vermehrung der Gesetze. Pompejus, der sie verbessern sollte, gab einige, die aber mit ihm untergingen. Während der fünfundzwanzig Jahre der Bürgerkriege gab es weder Recht noch Brauch noch Gerechtigkeit. In dieser Verwirrung blieb alles bis zur Regierung des Augustus, der in seinem sechsten Konsulat die alten Gesetze wiederherstellte und alle aufhob, die während der Unruhen in der Republik entstanden waren.

Endlich half Kaiser Justinian der Verwirrung ab, die durch die Menge der Gesetze in die Rechtsprechung gekommen war. Er ließ durch seinen Kanzler Tribonian ein vollständiges Corpus juris ausarbeiten. Tribonian brachte es in die drei Bände, die wir noch heute haben: die Digesten, eine Sammlung der Meinungen der berühmtesten Rechtsgelehrten, den Codex, der die Verordnungen der Kaiser enthält, und die Institutionen, die einen Abriß des römischen Rechts bilden. Diese Gesetze wurden für so trefflich befunden, daß sie nach dem Untergang des Römischen Reiches von den kultiviertesten Völkern übernommen wurden und die Grundlage ihrer Rechtsgelehr, samkeit bildeten.

Die Römer hatten ihre Gesetze in die von ihnen eroberten Länder mitgebracht. Die Gallier nahmen sie an, als Cäsar sie unterjochte und ihr Land zur römischen Provinz machte.

<28>

Im fünften Jahrhundert, als das römische Weltreich zerfiel, überschwemmten die nordischen Völker einen Teil Europas. Die Gallier wurden von den Westgoten, Burgundern und Franken unterjocht. Diese Barbarenvölker führten bei den Unterworfenen ihre Gesetze und Bräuche ein.

Chlodwig glaubte seinen neuen Untertanen eine Gnade zu erweisen, indem er ihnen die Wahl zwischen den Gesetzen der Sieger und der Besiegten ließ. Er erließ das Salische Gesetz (487, nach Daniel, Histoire de France). Von seinen Nachfolgern wurden oft neue Gesetze gegeben. Gundobald, König von Burgund, erließ eine Verordnung, worin er denen, die sich nicht mit dem Eide begnügten, den Zweikampf gestattete. (Hénault, „Abrégé chronologique“.)

Ursprünglich hatten die Grundherren die höchste Gerichtsbarkeit. Gegen ihren Spruch gab es keine Berufung. Unter der Regierung Ludwigs des Dicken ward in Frankreich die oberste Gerichtsbarkeit der Könige eingeführt. Später sehen wir Karl IX. bestrebt, die Justiz zu reformieren und das Verfahren abzukürzen, wie aus der Verordnung von Moulins hervorgeht. (De Thou, Histoire universelle depuis 1543 jusqu'en 1607.) Bemerkenswert ist, daß so weise Gesetze in so unruhiger Zeit erlassen wurden. Aber wie der Präsident Henault sagt, wachte der Kanzler L'hôpital über das Wohl des Vaterlandes. Endlich ließ Ludwig XIV. alle Gesetze von Chlodwig bis auf seine Zeit sammeln. Diese Sammlung wurde der Codex Ludovicianus genannt.

Die Briten, die wie die Gallier von den Römern unterworfen wurden, erhielten gleichfalls die Gesetze ihrer Überwinder. Vor ihrer Unterjochung waren diese Völker von Druiden regiert worden, deren Lehren Gesetzeskraft hatten. (Rapin-Thoyras, Histoire d'Angleterre. Einleitung.) Die Familienhäupter hatten Recht über Leben und Tod ihrer Frauen und Kinder. Aller Verkehr mit dem Ausland war verboten. Die Kriegsgefangenen wurden ermordet und den Göttern geopfert.

Die Römer behaupteten ihre Macht und ihre Gesetze in Britannien bis zur Zeit des Honorius, der den Briten im Jahre 410 durch feierlichen Akt ihre Freiheit wiedergab. Nun griffen die Pikten, ein aus Mecklenburg stammendes Volt, sie im Verein mit den Schotten an. Die Briten, von den Römern nur schwach unterstützt und von ihren Feinden stets besiegt, wandten sich um Hilfe an die Sachsen. Diese unterjochten die ganze Insel nach hundertfünfzigjährigen Kriegen und wurden aus den Bundesgenossen der Briten zu ihren Herren.

Die Angelsachsen führten in Britannien die Gesetze ein, die ehedem in Deutschland bestanden. Sie teilten England in sieben Königreiche, deren jedes besonders regiert wurde. Sie hatten sämtlich allgemeine Versammlungen, die aus den Großen, dem Volk und den Bauern bestanden. (Sie hießen Vitena gernôt oder Rat der Weisen.) Dies Gemisch von monarchischer, aristokratischer und demokratischer Regierung hat sich bis auf die Gegenwart erhalten. Noch heute ist die höchste Gewalt zwischen dem König und den beiden Parlamentshäusern geteilt.

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Alfred der Große gab England die erste Gesetzsammlung. So mild diese Gesetze auch waren, der König war unerbittlich gegen die Beamten, die sich hatten bestechen lassen. Die Geschichte berichtet, er habe in einem Jahre vierundvierzig pflichtvergessene Richter hängen lassen. Nach dem Gesetzbuch Alfreds des Großen (890,Rapin-Thoyras) muß jeder Engländer, der eines Verbrechens angeklagt ist, von seinesgleichen gerichtet werden. Dies Vorrecht hat die Nation noch heute.

Eine neue Gestalt erhielt England, als Wilhelm, Herzog der Normandie, das Land eroberte (1066). Er setzte neue oberste Gerichtshöfe ein, deren einer, der des Erchequer, noch besieht. Diese Gerichtshöfe folgten dem König allenthalben. Er trennte die geistliche Gerichtsbarkeit von der weltlichen. Seine Gesetze waren in normannischer Sprache verfaßt. Das strengste richtete sich gegen das Wildern, auf das Verstümmelung, ja Tod stand.

Die Nachfolger Wilhelms des Eroberers gaben verschiedene Charters. Heinrich I., genannt Beauclerc, gestattete (II00) den Adligen, ihr Erbe ohne Erbschaftssteuer anzutreten. Ja er erlaubte dem Adel, ohne seine Einwilligung zu heiraten. Im Jahre 1136 erklärte König Stephan in einer Charter, seine Macht vom Volk und von der Geistlichkeit zu haben. Er bestätigte die Vorrechte der Kirche und schaffte die strengen Gesetze Wilhelms des Eroberers ab.

Dann gab Johann ohne Land seinen Untertanen die sogenannte Magna (Charta (1215), die aus 62 Artikeln besieht. (Rapin-Thoyras, Buch VIII.) Die Hauptartikel regeln das Lehnswesen und das Erbteil der Witwen. Verboten wird, die Witwen zu einer zweiten Ehe zu zwingen. Sie müssen sich aber durch Bürgschaft verpflichten, ohne Erlaubnis ihres Lehnsherrn nicht wieder zu heiraten. Die Magna Charta weist den Gerichtshöfen ständige Sitze an und verbietet dem Parlament die Erhebung von Auflagen ohne Zustimmung der Gemeinden, außer wenn der König loszukaufen, sein Sohn zum Ritter zu schlagen oder seine Tochter auszustatten ist. Sie verbietet irgend jemand ins Gefängnis zu werfen, ihn seiner Güter zu berauben oder hinzurichten, ohne daß seinesgleichen ihn nach den Landesgesetzen gerichtet haben. Auch verpflichtet sich der König, niemandem die Gerechtigkeit zu verkaufen noch zu verweigern.

Die Westminstergesetze, die Eduard I. erließ (1274), waren nur eine Erneuerung der Magna Charta, außer daß er den Kirchen und Klöstern den Erwerb von Gütern verbot und die Juden des Landes verwies.

England hat zwar viele weise Gesetze, aber sie werden vielleicht in keinem Lande Europas weniger befolgt. Wie Rapin-Thoyras sehr richtig bemerkt, hat die Reglerungsform den Fehler, daß die Königsgewalt im Parlament stets einen Gegner hat. Beide Teile beobachten einander, um ihre Autorität zu wahren oder zu erweitern. Das aber hindert sowohl den König wie die Volksvertretung, gehörig für die Aufrechterhaltung der Rechtspflege zu sorgen. Diese unruhige, stürmische Regierung ändert in einem fort die Gesetze durch Parlamentsakte, wie gerade die Umstände und Ereig<30>nisse es erfordern. Daraus folgt, daß England mehr als jeder andre Staat der Reform seiner Rechtsverhältnisse bedarf.

Wir haben nun noch ein paar Worte von Deutschlands sagen. Als die Römer unser Land eroberten, erhielten wir römisches Recht und behielten es auch, da die Kaiser Italien verließen und den Sitz ihres Reichs nach Deutschland verlegten. Trotzdem gibt es keinen Kreis, kein Fürstentum, so klein es auch sei, wo nicht irgend ein Gewohnheitsrecht herrschte. Diese Rechte haben mit der Zeit Gesetzeskraft erlangt.

Nachdem wir gezeigt haben, wie die Gesetze bei den meisten kultivierten Völkern zur Einführung gelangten, wollen wir noch bemerken, daß sie überall, wo sie unter Zustimmung der Bürger eingeführt wurden, von der Notwendigkeit diktiert worden sind. In den eroberten Ländern dagegen gaben die Sieger den Besiegten ihre Gesetze. Überall aber wurden sie in gleicher Weise nach und nach vermehrt. Erstaunt man auf den ersten Blick, daß die Völker nach so verschiedenen Gesetzen regiert werden können, so legt sich doch die Verwunderung, wenn man erkennt, daß die Gesetze dem Wesen nach einander fast gleichen: ich meine die Strafgesetze zum Schutz der Gesellschaft.

Untersuchen wir das Verfahren der weisesten Gesetzgeber, so sehen wir ferner, daß die Gesetze der Regierungsform und dem Geiste des Volkes, für das sie bestimmt sind, angepaßt sein müssen, daß die besten Gesetzgeber das Gemeinwohl im Auge hatten und daß im großen und ganzen, einige Ausnahmen abgerechnet, die Gesetze die besten sind, die der natürlichen Billigkeit am nächsten kommen.

Lykurg, der einem ehrgeizigen Volk vorstand, gab ihm Gesetze, die es eher zu Kriegern als zu Bürgern erzogen. Er verbannte das Gold aus seiner Republik, weil die Gewinnsucht von allen Lastern der Ruhmbegierde am stärksten entgegensieht.

Solon sagte selbst, er habe den Athenern nicht die vollkommensten Gesetze gegeben, sondern die besten, die sie vertragen könnten. (Plutarch, „Leben Solons“.) Er zog nicht nur den Geist des Volkes, sondern auch die Lage Athens am Meer in Betracht. Deshalb setzte er Strafen auf Müßiggang, ermunterte den Gewerbfieiß und verbot Gold und Silber nicht, weil er voraussah, daß sein Freistaat nur durch blühenden Handel groß und mächtig werden könnte.

Die Gesetze müssen zum Geiste der Nation passen oder man darf nicht auf ihre Dauer hoffen. Das römische Volk verlangte eine Demokratie und haßte alles, was diese Regierungsform ändern konnte. Daher entstand so mancher Aufruhr, um die Lex Agraria durchzusetzen; denn das Volk hoffte, durch die Verteilung des Grundbesitzes würde wieder eine Art von Gleichheit in den Wohlstand der Bürger gebracht werden. Daher auch die häufigen Aufstände wegen der Schuldentilgung; denn die Gläubiger, die römischen Patrizier, behandelten ihre Schuldner, die Plebejer, unmenschlich. Nichts aber macht den Unterschied der Stände verhaßter als Tyrannei, die die Reichen ungestraft gegen die Armen ausüben.

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In allen Ländern gibt es drei Arten von Gesetzen: erstens das Staatsrecht, das die Regierungsform bestimmt, zweitens das Strafrecht, das die Sitten betrifft und Verbrechen bestraft, drittens das Zivilrecht, das die Erbschaften, Vormundschaften, Zinsen und Kontrakte regelt.

Die Gesetzgeber der Monarchien sind gewöhnlich die Fürsien selbst. Sind ihre Gesetze mild und gerecht, so erhalten sie sich von selber, da jeder Bürger seinen Vorteil dabei findet. Sind sie aber hart und tyrannisch, so werden sie bald abgeschafft, weil man sie mit Gewalt aufrechterhalten muß und der Tyrann allein gegen ein ganzes Volk sieht, das nichts so sehr wünscht, als sie zu beseitigen.

In mehreren Republiken, wo die Gesetzgeber Bürger waren, hielten sich die Staatsgesetze nur dann, wenn sie ein richtiges Gleichgewicht zwischen der Macht der Regierung und der Freiheit der Bürger schufen.

Nur bei den Sittengesetzen befolgen die Gesetzgeber im allgemeinen den gleichen Grundsatz, jedoch mit der Ausnahme, daß sie gegen dies oder jenes Verbrechen bald mehr, bald weniger sireng sind, jedenfalls weil sie wissen, zu welchen Lastern ihr Volk am meisten neigt. Die Sittengesetze sind Dämme, die man dem Lasier entgegensetzt. Man muß ihnen also durch Furcht vor Strafe Respekt verschaffen. Aber es trifft doch zu, daß die Gesetzgeber, die am wenigsten harte Strafen verhängen, immerhin der Menschlichkeit ihren Tribut zollen.

Die bürgerlichen Gesetze zeigen die größte Mannigfaltigkeit. Bei ihrer Einführung fanden die Gesetzgeber gewisse, allgemein bestehende Gebräuche und wagten sie nicht abzuschaffen, um die Vorurteile des Volkes nicht zu verletzen. Sie ehrten das Herkommen, kraft dessen man sie für gut hielt, und ließen sie, auch wenn sie unbillig waren, lediglich ihres Alters wegen bestehen.

Wer sich die Mühe gibt, die Gesetze mit philosophischem Blick zu studieren, der wird jedenfalls viele finden, die der natürlichen Billigkeit auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen. Und doch ist das nicht der Fall. Ich begnüge mich mit einem Beispiel: dem Erstgeburtsrecht. Nichts scheint billiger, als die Hinterlassenschaft des Vaters gleichmäßig unter alle seine Kinder zu verteilen. Gleichwohl lehrt die Erfahrung, daß die reichsten Familien trotz des größten Besitzes mit der Zeit verarmen, wenn dieser in viele Teile zerfällt. Daher haben die Väter lieber ihre jüngeren Söhne enterbt, als ihre Familien dem sicheren Verfall geweiht. Ebenso sind Gesetze, die einigen Privatleuten hart und lästig erscheinen, doch nicht minder weise, sobald sie auf den Vorteil der Gesellschaft abzielen. Der Gesamtheit wird ein aufgeklärter Gesetzgeber stets die einzelnen aufopfern.

Die Schuldgesetzgebung erfordert zweifellos die meiste Vorsicht und Klugheit. Werden die Gläubiger begünstigt, so kommen die Schuldner in eine zu üble Lage, und ein unglücklicher Zufall kann ihre Wohlfahrt auf immer zugrunde richten. Sind hingegen die Schuldgesetze für diese vorteilhaft, so schädigen sie das öffentliche Vertrauen und heben die Verträge auf, die sich auf Ehrlichkeit gründen. Die rechte Mittelstraße<32> ergibt sich, wenn man zwar die Gültigkeit der Verträge aufrechterhält, aber die zahlungsunfähigen Schuldner nicht zu sehr drückt: das scheint mir in der Rechtspflege der Stein der Weisen. Indessen wollen wir auf diesen Gegenstand nicht weiter eingehen, da die Art unsres Aufsatzes keine größere Ausführlichkeit gestattet. Wir begnügen uns mit allgemeinen Betrachtungen.

Ein vollkommenes Gesetzbuch wäre das Meisterstück des menschlichen Verstandes im Bereiche der Regierungskunst. Man müßte darin Einheit des Planes und so genaue und abgemessene Bestimmungen finden, daß ein nach ihnen regierter Staat einem Uhrwerke gliche, in dem alle Triebfedern nur einen Zweck haben. Man fände darin ferner tiefe Kenntnis des menschlichen Herzens und des Nationalcharakters. Die Strafen wären mäßig, sodaß sie die guten Sitten erhielten, ohne zu streng noch zu milde zu sein. Die einzelnen Bestimmungen müßten so klar und genau sein, daß jeder Streit um die Auslegung ausgeschlossen wäre. Sie würden in einer erlesenen Auswahl des Besten bestehen, was die bürgerlichen Gesetze ausgesprochen haben, und in einfacher und sinnreicher Weise den heimischen Gebräuchen angepaßt sein. Alles wäre vorausgesehen, alles in Einklang gebracht, nichts würde zu Unzuträglichkeiten führen. Aber das Vollkommene liegt außerhalb der menschlichen Sphäre.

Die Völker könnten schon zufrieden sein, wenn die Gesetzgeber die Gesinnungen jener FamUienhäupter teilten, die zuerst Gesetze gaben. Die liebten ihre Kinder, und die Vorschriften, die sie ihnen gaben, bezweckten nur das Wohl der Ihren.

Wenige, aber weise Gesetze machen ein Volk glücklich; viele verwirren das Recht. Wie ein guter Arzt seine Kranken nicht mit Arzneien überlädt, so soll auch ein geschickter Gesetzgeber das Volk nicht mit überflüssigen Gesetzen beschweren. Zu viele Arzneien schaden einander und heben sich in ihren Wirkungen gegenseitig auf. Zu viele Gesetze sind wie ein Labyrinth, in dem die Rechtsgelehrten und die Justiz sich verirren.

Bei den Römern entstanden zahlreiche Gesetze, als die Revolutionen häufig wurden. Jeder Ehrgeizige, der zur Macht gelangte, warf sich zum Gesetzgeber auf. Dieser Rechtswirrwarr dauerte, wie gesagt, bis zur Zeit des Augustus, der alle ungerechten Verordnungen aufhob und die alten Gesetze wieder in Kraft setzte.

In Frankreich vermehrten sich die Gesetze, als die Franken das Land eroberten und ihre Rechtsbräuche mitbrachten. Ludwig IX. wollte alle diese Gesetze vereinigen und, wie er selbst sagte, in seinem Reich ein Gesetz, ein Gewicht und ein Maß einführen.

An manchen Gesetzen hängen die Menschen bloß, well sie meist Gewohnheitstiere sind. Obwohl man bessere einführen könnte, wäre es vielleicht doch gefährlich, sie anzutasten. Die Verwirrung, die eine solche Reform in der Justiz anrichten würde, schadete vielleicht mehr, als die neuen Gesetze nützten. Immerhin gibt es Fälle, wo die Verbesserung ein Gebot der Notwendigkeit scheint, nämlich wenn die Gesetze dem öffentlichen Wohl und der natürlichen Billigkeit zuwiderlaufen, wenn sie in dunklen<uc_13><33> und unbestimmten Ausdrücken gefaßt sind und schließlich, wenn sie im Sinn oder Ausdruck Widersprüche enthalten. Auf diesen Punkt wollen wir etwas näher ein, gehen.

Die Gesetze des Osiris zum Beispiel gehören zur ersten Kategorie. Nach ihnen mußte, wer das Diebshandwerk ergreifen wollte, sich bei seinem Hauptmann einschreiben lassen und ihm alles Geraubte sofort abgeben. Die Bestohlenen gingen dann zu dem Hauptmann der Diebsbande, um ihr Eigentum zurückzufordern, und erhielten es auch, wenn sie den vierten Teil des Wertes erlegten. (Diodor.) Auf diese Weise glaubte der Gesetzgeber den Bürgern ein Mittel zu geben, um gegen geringen Tribut das Ihrige wiederzuerlangen. Aber das war ein Mittel, alle Ägypter zu Dieben zu machen. Daran dachte Osiris gewiß nicht, als er sein Gesetz gab. Man müßte denn behaupten, er habe den Diebstahl als ein nicht zu verhinderndes Übel angesehen, ebenso wie die Regierung in Amsterdam die Speelhuysen duldet und die in Rom privilegierte Freudenhäuser. Aber die guten Sitten und die öffentliche Sicherheit würden erfordern, daß man das Gesetz des Osiris abschaffte, wenn es unglücklicherweise irgendwo bestände.

Die Franzosen sind darin das Gegenteil der Ägypter. Wo diese zu milde waren, sind sie zu streng, ja von grausamer Härte, da sie alle Hausdiebe mit dem Tode bestrafen. Zu ihrer Rechtfertigung sagen sie, durch sirenge Bestrafung der Beutelschneider rotte man den Samen der Räuber und Mörder aus.

Die natürliche Billigkeit verlangt ein rechtes Verhältnis zwischen Verbrechen und Strafe. Diebstähle unter erschwerenden Umständen verdienen den Tod. Bei solchen, die keinen gewalttätigen Charakter besitzen, kann man Mitleid mit dem Täter haben. Zwischen dem Schicksal eines Reichen und eines Armen gähnt eine Kluft. Jener strotzt von Gütern und schwimmt im Überfluß. Dieser ist vom Glück verlassen und entbehrt selbst das Nötigste. Wenn nun ein Unglücklicher, um sein Leben zu fristen, ein paar Goldstücke, eine goldne Uhr oder ähnliche Kleinigkeiten einem Manne entwendet, der bei seinem Reichtum den Verlust garnicht merkt, muß dieser Unglückliche dafür mit dem Tode büßen? Ist es nicht ein Gebot der Menschlichkeit, eine so übertriebene Strafe zu mildern? Offenbar haben die Reichen jenes Gesetz gemacht. Hätten nun die Armen nicht das Recht, zu sagen: „Warum erbarmt man sich nicht unsres kläglichen Loses? Wäret ihr mitleidig und menschlich, so stündet ihr uns in unserm Elend bei, und wir würden euch nicht bestehlen. Sagt selbst: ist es wohl billig, daß alles Glück in der Welt nur für euch da ist und daß alles Unglück uns niederdrückt?“

Die preußische Gesetzgebung hat den rechten Mittelweg zwischen der Nachsicht der Ägypter und der Strenge der Franzosen gefunden. Sie bestraft einfachen Diebstahl nicht mit dem Tode und begnügt sich, den Schuldigen für einige Zeit ins Gefängnis zu setzen. Vielleicht aber wäre es noch besser, das jüdische Vergeltungsrecht33-1 wieder ein<34>zuführen, wonach der Dieb dem Bestohlenen den doppelten Wert des Geraubten ersetzen oder sich ihm als Leibeigner übergeben mußte. Begnügt man sich, leichte Vergehen mit gelinden Strafen zu belegen, so bleibt die Todesstrafe für Räuber, Mörder und Totschläger aufgespart, und die Strafen stehen im Verhältnis zum Verbrechen.

Kein Gesetz empört die Menschlichkeit mehr als das Recht über Leben und Tod, das die Väter in Sparta und Rom über ihre Kinder hatten. In Griechenland brachte ein Vater, der zu arm war, um die Bedürfnisse einer zahlreichen Familie zu bestreiten, die Überzahl seiner Kinder ums Leben. Kam in Rom und Sparta ein mißgestaltetes Kind zur Welt, so war der Vater berechtigt, es zu töten. Wir empfinden die ganze Barbarei dieser Gesetze, weil sie nicht die unseren sind. Aber sehen wir doch einmal zu, ob es bei uns nicht ebenso ungerechte Gesetze gibt.

Wird das Abtreiben der Leibesfrucht bei uns nicht sehr hart bestraft? Gott verhüte, daß ich die Greuel jener Medeen entschuldige, die grausam gegen sich selbst und taub gegen die Stimme des eignen Blutes, das künftige Geschlecht ersticken, noch ehe es — wenn ich so sagen darf — das Licht der Welt erblicken durfte! Aber der Leser streife einmal alle hergebrachten Vorurteile ab und schenke den folgenden Betrachtungen einige Aufmerksamkeit.

Ist durch die Gesetze nicht eine Art von Schande mit der heimlichen Niederkunft verknüpft? Kommt ein Mädchen von zu zärtlichem Gemüt, das sich durch die Schwüre eines Wüstlings hat verführen lassen, infolge ihrer Leichtgläubigkeit nicht in die Notlage, zwischen dem Verlust ihrer Ehre und ihrer unglücklichen Leibesfrucht zu wählen? Ist es nicht Schuld der Gesetze, daß sie in eine so grausame Lage gerät? Und raubt die Strenge der Richter dem Staate nicht zwei Untertanen zugleich: die abgetriebene Frucht und die Mutter, die den Verlust durch eheliche Geburten reichlich wettmachen könnte? Hierauf erwidert man: es gibt ja Findelhäuser. Ich weiß wohl, daß sie einer Unmenge unehelicher Kinder das Leben retten. Aber wäre es nicht besser, das Übel mit der Wurzel auszurotten und so viele arme Geschöpfe, die jetzt elend umkommen, zu erhalten, indem man die Folgen einer unvorsichtigen und flatterhaften Liebe nicht mehr mit Schande bedeckt34-1?

Aber nichts ist grausamer als die Folter. Die Römer beschränkten sie auf ihre Sklaven, die sie als eine Art von Haustieren betrachteten. Nie durfte ein freier Bürger gefoltert werden. (Cicero, „Pro Cluentio“.) In Deutschland foltert man nur überführte Missetäter, damit sie ihr Verbrechen selbst bekennen. In Frankreich geschieht es zur Feststellung der Tat oder zur Entdeckung Mitschuldiger. Die Engländer hatten in früheren Zeiten das Ordal oder die Feuer- und Wasserprobe34-2. Jetzt haben<35> sie eine Art von Folter, die weniger hart ist als die gewöhnliche, aber doch fast auf das gleiche hinausläuft.

Man verzeihe mir, wenn ich mich gegen die Folter ereifre. Ich wage die Partei der Menschlichkeit gegen einen Brauch zu nehmen, der für christliche und kultivierte Völker entehrend, ja, ich setze dreist hinzu, ebenso unnütz wie grausam ist. Quintilian, der weiseste und beredteste Rhetor, sagt von der Folter, es komme dabei ganz auf die Leibesbeschaffenheit an. (Buch V, „Über Beweise und Verteidigung.“) Ein robuster Bösewicht leugnet sein Verbrechen. Ein Unschuldiger von schwächlichem Körper bekennt etwas, das er nicht getan hat. Jemand wird angeklagt. Indizien sind vorhanden. Der Richter ist ungewiß und will sich Klarheit verschaffen. Der Unglückliche wird gefoltert. Ist er unschuldig — welche Barbarei, ihn solche Martern erleiden zu lassen! Zwingt ihn die Starke der Qual zum Zeugnis gegen sich selbst —welche schreckliche Unmenschlichkeit ist es dann, einen tugendhaften Bürger auf bloßen Verdacht hin nicht nur den grausamsten Schmerzen auszusetzen, sondern ihn auch noch zum Tode zu verurteilen! Es ist besser, zwanzig Schuldige freizusprechen, als einen Unschuldigen aufzuopfern! Sollen die Gesetze zum Wohle des Volkes da sein — wie darf man dann solche dulden, die den Richter in die Lage bringen, methodisch Handlungen zu begehen, die zum Himmel schreien und die Menschlichkeit empören? In Preußen ist die Folter seit acht Jahren abgeschafft35-1. Man ist nun sicher, Unschuldige und Schuldige nicht zu verwechseln, und die Rechtspflege geht nichtsdestoweniger ihren Gang.

Betrachten wir nun die unklaren Gesetze und die verbesserungsbedürftigen Arten des gerichtlichen Verfahrens. In England bestand ein Gesetz gegen die Bigamie. Ein Mann wurde angeklagt, er habe fünf Frauen. Da das Gesetz über diesen Fall nichts bestimmte und man es buchstäblich auslegte, so ward das Verfahren eingestellt. Um klar und deutlich zu sein, hätte das Gesetz lauten müssen: „Wer mehr als eine Frau nimmt, soll bestraft werden.“ Die unklaren Gesetze in England und ihre buch, stäbliche Auslegung haben zu den lächerlichsten Mißbräuchen geführt. So erzählt Muralt35-2: Jemand schnitt seinem Feinde die Nase ab. Er sollte wegen Verstümmelung des Gliedes eines Bürgers bestraft werden, behauptete aber, was er abgeschnitten<36> habe, sei kein Glied. Nun setzte das Parlament fest, die Nase sei künftig als Glied zu betrachten.

Deutliche Gesetze geben keine Gelegenheit zu Rechtsverdrehungen und müssen buchstäblich vollstreckt werden. Sind sie aber unbestimmt oder dunkel, so muß man die Absicht des Gesetzgebers ergründen, und statt über Tatsachen zu richten, beschäftigt man sich mit ihrer Auslegung. Gewöhnlich nährt sich die Schikane nur von Erbschaftssachen und Verträgen. Darum müssen die Gesetze hierüber die größte Deutlichkeit haben. Grübelt man schon bei belanglosen Schreibereien über den Ausdruck nach, um wieviel mehr muß man ihn bei einem Gesetze gewissenhaft abwägen.

Die Richter haben zwei Fallstricke zu befürchten: Bestechung und Irrtum. Vor dem ersten muß sie ihr Gewissen schützen, vor dem zweiten der Gesetzgeber. Deutliche Gesetze, die keine verschiedene Auslegung zulassen, sind das erste Hilfsmittel dagegen, Begrenzung der Verteidigungsreden das zweite. Man kann die Reden der Verteidiger auf Darlegung des Tatbestandes, Unterstützung durch einige Beweise und ein Nach, wort oder eine kurze Zusammenfassung beschränken. Nichts wirkt stärker als der Vor, trag eines beredten Mannes, der die Leidenschaften aufzustacheln weiß. Der Ver, leidiger bestrickt den Geist der Richter, erregt ihre Teilnahme und ihr Gefühl, reißt sie hin, und das Blendwerk des Mitgefühls verdunkelt die Wahrheit. Sowohl Lykurg wie Solon verboten den Advokaten diese Art von Überredung. Wir finden zwar der, gleichen in den „Philippiken“ von Demosihenes oder in der Rede „Über die Krone“ von Aschines, aber diese Reden wurden nicht vor dem Areopag, sondern vor dem Volte gehalten, und die erstgenannten Reden gehörten eher zu der beratenden, die zweite mehr zur belehrenden Gattung als zur forensischen Beredsamkeit.

Die Römer hielten es mit den Reden ihrer Advokaten nicht so genau. Es gibt keine Rede Ciceros, die nicht voller Leidenschaft wäre. Es tut mir leid um ihn, aber aus seiner Rede für Cluentius ersehen wir, daß er vorher die Gegenpartei verteidigt hatte. Die Sache des Cluentius scheint nicht ganz einwandfrei, aber die Kunst des Redners gewann sie. Ciceros Meisterstück ist jedenfalls der Schluß der Rede für Fontejus. Dank ihm ward er freigesprochen, obwohl er schuldig scheint. Welcher Mißbrauch der Beredsamkeit, wenn man ihren Zauber benutzt, um die weisesten Gesetze zu entkräften!

In Preußen hat man das Vorbild Griechenlands befolgt. Aus unsern Verteidigungsreden sind die gefährlichen Kunstgriffe der Beredsamkeit verbannt. Das verdanken wir der Weisheit des Großkanzlers Cocceji36-1. Durch seine Rechtschaffenheit, seine Einsicht und seinen unermüdlichen Fleiß hätte er der griechischen und römischen Republik zu der Zeit, wo sie an großen Männern am fruchtbarsten waren, zur Ehre gereicht.

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Zur Dunkelheit der Gesetze gehört noch eins, nämlich das ganze Gerichtsverfahren und die vielen Instanzen, die die Parteien durchmachen müssen, bis ihr Prozeß ein Ende findet. Mögen schlechte Gesetze ihnen Unrecht tun oder rabulistische Advokaten ihr Recht verdrehen oder lange Formalitäten den Kern der Sache verdunkeln und sie um ihren rechtmäßigen Vorteil bringen — es läuft alles auf das gleiche hinaus. Ist auch ein Übel größer als das andere, so erfordern doch alle Mißbräuche Besserung. Das Hinausziehen der Prozesse gibt den Wohlhabenden einen beträchtlichen VorteU über die Armen. Indem sie Mittel und Wege finden, den Prozeß von einer Instanz zur andren zu schleppen, setzen sie ihren Gegner matt und richten ihn zugrunde, sodaß sie schließlich allein auf dem Kampfplatze bleiben.

Früher währten die Prozesse bei uns über hundert Jahre. War eine Sache auch schon von fünf Gerichten entschieden, so appellierte die Gegenpartei der Justiz zum Trotz an die Universitäten, und die Rechtslehrer änderten die gefällten Urteile nach ihrem Gutdünken ab. Nun aber mußte eine Partei schon sehr viel Pech haben, wenn sie bei fünf Gerichtshöfen und Gott weiß wieviel Universitäten keine feile und bestechliche Seele fand. Diese Mißbräuche sind jetzt abgeschafft. Die Prozesse kommen bei der dritten Instanz endgültig zum Austrag, und die Richter müssen auch die strittigsten Sachen innerhalb eines Jahres erledigen.

Wir haben nun noch einige Worte über die Gesetze zu sagen, die im Sinn oder im Ausdruck Widersprüche enthalten. Sind die Gesetze eines Staates nicht kodifiziert, so müssen sich einige notwendig widersprechen. Da sie von verschiedenen Gesetzgebern stammen und nicht nach dem gleichen Plane entstanden sind, so fehlt ihnen die bei allen wichtigen Dingen so notwendige Einheit. Davon handelt Quintilian in seiner Schrift vom Redner (Buch VII, Kap. 7). Auch in Ciceros Reden sehen wir, daß er oft ein Gesetz einem andren entgegenstellt. Ebenso finden wir in der französischen Geschichte bald Edikte für die Hugenotten, bald gegen sie37-1. Solche Verordnungen zusammenzutragen ist um so notwendiger, als die Majestät der Gesetze, von denen man doch stets annimmt, daß sie mit Weisheit gegeben sind, durch nichts mehr herabgewürdigt wird als durch offenbare und handgreifliche Widersprüche.

Die Verordnung gegen die Duelle37-2 ist sehr gerecht, sehr billig und sehr richtig abgefaßt, führt aber nicht zu dem Ziel, das die Fürsten sich bei deren Veröffentlichung setzten. Vorurteile, die älter sind als diese Verordnung, setzen sich dreist darüber hinweg, und das von falschen Begriffen erfüllte Publikum scheint stillschweigend übereingekommen zu sein, ihr nicht zu gehorchen. Ein mißverstandenes, aber allgemein verbreitetes Ehrgefühl bietet der Macht der Fürsten Trotz, und sie können das Gesetz nur mit einer gewissen Grausamkeit aufrecht erhalten. Wer immer das Unglück hat, von einem<38> Rüpel beleidigt zu werden, gilt in der ganzen Welt für feig, wenn er den Schimpf nicht mit dem Tode des Beleidigers rächt. Stößt dergleichen einem Manne von Stand zu, so betrachtet man ihn als seines Adels unwürdig. Ist er Soldat und endigt seine Sache nicht durch ein Duell, so jagt man ihn mit Schimpf und Schande aus dem Offizierkorps, und er findet in ganz Europa nicht wieder Dienste. Was soll also ein Mann in einer so kritischen Lage tun? Soll er sich entehren, indem er dem Gesetz gehorcht, oder soll er nicht lieber Leben und Glück aufs Spiel setzen, um seinen guten Ruf zu retten?

Die Schwierigkeit besieht darin, ein Mittel zu finden, das die Ehre des Privatmannes wahrt und das Gesetz in voller Kraft aufrechterhält. Die Macht der größten Herrscher hat gegen diese barbarische Mode nichts vermocht. Ludwig XIV., Friedrich I. und Friedrich Wilhelm I. erließen strenge Edikte gegen das Duell, bewirkten damit aber nichts, als daß die Sache einen andren Namen bekam. Die Duelle wurden als Rencontres ausgegeben und viele im Zweikampf gefallene Edelleute als plötzlich gestorben begraben.

Wenn nicht alle Fürsten Europas einen Kongreß veranstalten und übereinkommen, die mit Schande zu belegen, die sich trotz ihrer Verbote im Zweikampf umzubringen suchen, wenn sie, sage ich, sich nicht zusammentun, um dieser Art von Mördern jede Freistätte zu verweigern und alle, die ihre Nächsten in Wort, Schrift oder Tat beleidigen, streng zu bestrafen, so werden die Duelle nie aufhören.

Man wende mir nicht ein, ich hätte wohl die Träumereien des Abbe St. Pierre geerbt38-1. Ich sehe nichts Unmögliches darin, daß Privatleute ihre Ehrensachen der richterlichen Entscheidung ebenso unterwerfen wie ihre Vermögensstreitigkeiten. Und warum sollten die Fürsten keinen Kongreß zum Besten der Menschheit veranstalten, da sie so viele fruchtlose Kongresse über Dinge von geringerer Bedeutung berufen haben? Ich wiederhole es und behaupte dreist: dies ist das einzige Mittel zur Abschaffung des mißverstandenen Ehrgefühls in Europa, das so vielen Ehrenmännern das Leben gekostet hat, von denen das Vaterland die größten Dienste erwarten konnte.

Dies sind in Kürze die Betrachtungen, zu denen die Gesetze mich veranlassen. Ich habe mich auf eine Skizze anstatt eines Gemäldes beschränkt und fürchte, schon zuviel gesagt zu haben. Zum Schluß noch eine Bemerkung. Mir scheint, die kaum der Barbarei entwachsenen Völker brauchen sirenge Gesetzgeber, kultivierte Völker dagegen mit sanfteren Sitten haben milde Gesetzgeber nötig.

Wer sich alle Menschen als Teufel vorstellt und grausam gegen sie wütet, der sieht sie mit den Augen eines wilden Menschenfeindes. Wer alle Menschen für Engel hält und ihnen die Zügel schießen läßt, der träumt wie ein schwachsinniger Kapuziner. Wer<39> aber glaubt, daß weder alle gut noch alle böse sind, wer gute Handlungen über Verdienst belohnt und schlechte milder bestraft, als ihnen gebührt, wer Nachsicht mit den Schwächen hat und menschlich gegen jedermann ist, der handelt, wie ein vernünftiger Mann handeln muß.

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Vorrede zum Auszug aus dem historisch-kritischen Wörterbuch von Bayle (1764)40-1

Der dem Publikum hier vorgelegte Auszug aus Bayles Wörterbuch findet hoffentlich Anklang. Besonders hat man darauf gesehen, die philosophischen Artikel dieses Wörterbuches zusammenzustellen, in denen Bayle äußerst glücklich war. Trotz den Vorurteilen der Schulweisheit und der Eigenliebe der zeitgenössischen Schriftsieller wagen wir dreist die Behauptung: Bayle hat durch die Kraft seiner Logik alles übertroffen, was die Alten und Neueren in diesem Fache geleistet haben. Man vergleiche seine Werke mit den uns überkommenen Schriften Ciceros „Über die Natur der Götter“ und mit den „Tuskulanen“. Bei dem römischen Redner findet man zwar den gleichen Skeptizismus, mehr Beredsamkeit, einen korrekteren und eleganteren Stil. Dafür zeichnet sich Bayle, obwohl er wenig von Mathematik verstand, durch mathematischen Sinn aus. Seine Beweisführung ist bündiger, schärfer. Er geht gerade auf die Sache los und hält sich nicht mit Plänkeleien auf, wie es Cicero in den genannten Werken bisweilen tut. Auch im Vergleich zu seinen Zeitgenossen, Descartes, Leibniz,die freilich schöpferische Geister waren, oder mit Malebranche40-2, erscheint er, wie wir zu behaupten wagen, als der Größere. Nicht als hätte er neue Wahrheiten entdeckt, sondern weil er stets der exakten logischen Methode treu geblieben ist und die Folgerungen aus seinen Prinzipien am besten entwickelt hat. Er war so klug, sich nie durch ein System festzulegen, wie jene berühmten Männer. Descartes und Malebranche nahmen bei ihrer starken und regen Einbildungskraft die bloßen Fiktionen ihres Geistes bisweilen für bare Wahrheiten. Der eine schuf sich eine Welt, die nicht die wirkliche ist. Der andre verlor sich in Spitzfindigkeiten, verwechselte die Geschöpfe mit dem Schöpfer und machte den Menschen zum Automaten, der durch den höchsten Willen in Bewegung gesetzt wird. Auch Leibniz geriet auf ähnliche Abwege, wenn anders man nicht annehmen will, er habe sein Monadensystem und die prästabilierte Harmonie nur zum Zeitvertreib erfunden und um den Metaphysikern Stoff zum Dis<41>putieren und Streiten zu geben41-1. Bayle hat alle philosophischen Träume der Alten und Neueren mit scharfem und strengem Geiste geprüft und, wie Bellerophon in der Sage, die Chimäre vernichtet, die dem Hirn der Denker entsprang. Er hat nie die weise Lehre vergessen, die Aristoteles seinen Schülern einprägte: „Der Zweifel ist der Vater aller Weisheit.“ Er hat nie gesagt: „Ich will beweisen, daß dies oder jenes wahr oder falsch ist.“ Stets sieht man ihn getreulich dem Wege folgen, den Analyse und Synthese ihm weisen.

Sein Wörterbuch, dies schätzbare Denkmal unsres Zeitalters, war bisher in großen Bibliotheken vergraben. Der hohe Preis verbot den Gelehrten und den wenig begüterten Liebhabern der Wissenschaft seine Anschaffung. Wir nehmen diese Medaille aus ihrem Kabinett und prägen sie zu gangbarer Münze um. Ein Unbekannter veröffentlichte vor einigen Jahren einen „Esprit de Bayle“. Ihm scheint der Plan, den wir heute ausführen, vorgeschwebt zu haben, nur mit dem Unterschiede, daß er nicht alle philosophischen Artikel vereinigt und mehrere geschichtliche in seine Sammlung aufgenommen hat. In der vorliegenden Auswahl ist alles Geschichtliche fortgelassen, well Bayle sich in einigen Anekdoten und Tatsachen irrte, die er auf das Zeugnis schlechter Gewährsmänner hin erzählte, und weil man Geschichte ganz gewiß nicht in Wörterbüchern studieren soll.

Der Hauptzweck dieses Auszuges ist die allgemeinere Verbreitung von Bayles bewundernswerter Logik. Er ist ein Brevier des gesunden Menschenverstandes und die nützlichste Lektüre für Personen jedes Ranges und Standes. Denn es gibt für den Menschen kein wichtigeres Studium als die Bildung seiner Urteilskraft. Wir berufen uns auf alle, die etwas Weltkenntnis besitzen. Sie werden oft bemerkt haben, welche nichtigen und unzulänglichen Gründe das Motiv zu den wichtigsten Handlungen bilden.

Wir sind nicht so einfältig, zu wähnen, man brauche nur Bayle gelesen zu haben, um richtig zu denken. Wie billig, unterscheiden wir die Gaben, die die Natur den Menschen geschenkt oder versagt hat, von dem, was die Kunst an ihnen vervollkommnen kann. Aber ist es nicht schon etwas wert, wenn man den guten Köpfen Hilfsmittel liefert, die unmäßige Neugier der Jugend zügelt und den Dünkel der hochmütigen Leute demütigt, die so leicht dazu neigen, Systeme zu zimmern? Welcher Leser sagt, wenn er die Widerlegung der Systeme des Zeno und Epikur liest, nicht zu sich selbst: „Wie? Die größten Philosophen des Altertums, die zahlreichsten Sekten waren dem Irrtum unterworfen? Um wieviel mehr bin ich also in Gefahr, mich oft zu täuschen! Wie? Ein Bayle, der sein ganzes Leben lang mit philosophischen Disputen zugebracht hat, zog, aus Furcht, sich zu irren, so vorsichtig seine Schlüsse? Um wieviel mehr muß ich also mich hüten, voreilig zu urteilen!“ Nachdem man die Widerlegung so vieler menschlicher Meinungen gesehen hat — wie sollte man da nicht<42> überzeugt werden, daß die metaphysische Wahrheit fast stets jenseits der Grenzen unsrer Vernunft liegt? Man treibe seinen wilden Renner in diese Laufbahn — er wird bald von unüberschreitbaren Abgründen gehemmt. Solche Hindernisse offenbaren uns die Schwäche unsres Geistes und stoßen uns weise Scheu ein. Das ist der größte Nutzen, den man sich von der Lektüre dieses Buches versprechen kann.

Aber wozu, wird man sagen, soll ich meine Zeit mit dem Suchen nach Wahrheit vergeuden, wenn sie doch über unsren Horizont geht? Auf diesen Einwand antworte ich: es ist eines denkenden Wesens würdig, sich wenigstens anzustrengen, ihr näherzukommen. Und wenn man sich ernstlich darum bemüht, hat man zum mindesten den Gewinn, einer Unzahl von Irrtümern ledig zu werden. Trägt euer Acker auch nicht viele Früchte, so trägt er doch wenigstens keine Dornen mehr und ist zum Anbau geeigneter. Ihr werdet den Spitzfindigkeiten der Logiker weniger trauen und unvermerkt etwas von Bayles Geist bekommen. Ihr werdet beim ersten Blick die schwache Seite einer Beweisführung entdecken und auf den dunklen Pfaden der Metaphysik fortan weniger Gefahr laufen.

Sicherlich wird mancher im Publikum anders denken als wir und sich wundern, daß wir Bayles Schriften so vielen Werken über Logik vorziehen, die den Markt überschwemmen. Die Antwort ist leicht. Die Anfangsgründe der Wissenschaften sind von einer gewissen Trockenheit, die sich aber verliert, wenn sie von einem geschickten Meister behandelt werden.

Da unser Gegenstand uns auf diesen Punkt führt, so ist es vielleicht nicht unangebracht, wenn wir der Jugend einen Fingerzeig geben, welchen verschiedenen Gebrauch Redner und Philosophen von der Logik machen. Ihr Ziel ist völlig verschieden. Der Redner begnügt sich mit Wahrscheinlichkeit, der PHUosoph verwirft alles, was nicht Wahrheit ist. Vor Gericht bietet der Redner, der seine Klienten zu verteidigen hat, alles auf, um sie zu retten. Er macht den Richtern etwas vor, gibt den Dingen andre Namen. Lasier sind ihm nur Schwächen und Vergehen beinahe Tugenden. Er beschönigt und bemäntelt die Nachteile seiner Sache, und reicht das noch nicht aus, so nimmt er die Leidenschaften zu Hilfe und wendet alle Macht der Beredsamkeit an, um sie aufzustacheln. Die Kanzelberedsamkeit hat zwar Ernsteres zum Gegenstand als die gerichtliche, aber ihre Methode ist die gleiche. Fromme Seelen seufzen darum oft genug über die wenig scharfsinnige Wahl der Beweise, die der Redner — jedenfalls aus Mangel an Urteilskraft — vorbringt. Leider gibt er dadurch den streitsüchtigen und spitzfindigen Geistern gewonnenes Spiel, die sich nicht mit schwacher Beweisführung und prunkhaften Worten abspeisen lassen.

Solches Wortgeklingel, solche Spitzfindigkeiten, solche seichten Begründungen — nichts von alledem wird in der strengen, exakten Beweisführung der guten Philosophen geduldet. Sie wollen nur durch Evidenz und Wahrheit überzeugen. Sie prüfen ein System mit gerechtem, unparteiischem Geiste, führen alle Beweise zu seinen Gunsten an, ohne sie zu beschönigen oder abzuschwächen, erschöpfen alle Gründe, die<43> dafür sprechen, und bekämpfen es danach mit gleichem Nachdruck. Zuletzt fassen sie alle Wahrscheinlichkeiten dafür und dagegen zusammen, und da bei diesen Fragen selten völlige Evidenz erzielt wird, so lassen sie die Entscheidung in der Schwebe, um kein unbesonnenes Urteil zu fällen.

Ist der Mensch, wie die Schulweisheit behauptet, ein vernunftbegabtes Wesen, so müssen die Philosophen mehr Menschen sein als andre. Darum hat man sie auch stets als Lehrer des Menschengeschlechts betrachtet, und ihre Werke, der Katechismus der Vernunft, können sich zum Nutzen der Menschheit nie genug verbreiten.

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Die Eigenliebe als Moralprinzip (1770)44-1

Jugend ist das festeste Band der Gesellschaft und die Quelle der öffentlichen Ruhe. Ohne sie wären die Menschen den wilden Tieren gleich, blutdürstiger als Löwen, grausamer und tückischer als Tiger, oder Ungeheuer, deren Umgang man meiden müßte.

Um die rohen Sitten zu mildern, schufen Gesetzgeber Gesetze, lehrten Weise die Moral, zeigten die Vorteile der Tugend und bewiesen so ihren Wert.

Die philosophischen Schulen des Orients und der Griechen stimmten über das Wesen der Tugend im großen und ganzen überein. Sie unterschieden sich eigentlich nur durch die Wahl der Motive, mit denen sie ihre Schüler zu tugendhaftem Wandel bestimmten. Die Stoiker betonten, ihren Grundsätzen gemäß, die der Tugend innewohnende Schönheit. Daraus schlossen sie, man müsse die Tugend um ihrer selbst willen lieben, und sahen das höchste menschliche Glück im unveränderlichen Besitz der Tugend. Die Platoniker sagten, man nähere sich den unsterblichen Göttern und werde ihnen ähnlich, wenn man nach ihrem Vorbild die Tugend übe. Die Epikuräer schrieben der Erfüllung der sittlichen Pflichten ein höchstes Lustgefühl zu. Wenn man ihre Grundsätze richtig versieht, so fanden sie im Genusse der reinsten Tugend unaussprechliche Glückseligkeit und Wonne. Moses kündigte seinen Juden, um sie zu guten und löblichen Handlungen anzuspornen, zeitlichen Lohn und zeitliche Strafen an. Die christliche Religion, die sich auf den Trümmern des Judentums erhob, schlug die Lasier durch ewige Strafen nieder und ermunterte die Tugend durch Verheißung ewiger Seligkeit. Mit diesen Triebfedern noch nicht zufrieden, wollte sie den größtmöglichen Grad von Vollkommenheit erreichen, indem sie behauptete: allein die Liebe zu Gott solle die Menschen zu guten Handlungen treiben, auch wenn sie in einem andren Leben weder Lohn noch Strafe zu erwarten hätten.

Unstreitig haben die philosophischen Schulen Männer von größtem Verdienst hervorgebracht, und ebenso sind aus dem Schoße des Christentums reine, wahrhaft heilige Seelen hervorgegangen. Trotzdem sind die Philosophen und Theologen erschlafft, und durch die Verderbtheit des menschlichen Herzens ist es soweit gekommen,<45> daß die verschiedenen Beweggründe zur Tugend nicht mehr die guten Wirkungen hervorrufen, die man erwarten sollte. Wie viele Heiden waren nur dem Namen nach Philosophen! Man braucht nur bei Lucian zu lesen, in wie schlechtem Rufe die Philosophen zu seiner Zeit standen. Wie viele Christen arteten aus und verderbten die alte Sittenreinheit! Habgier, Ehrgeiz und Fanatismus erfüllten die Herzen derer, die der Welt zu entsagen gelobt hatten, und untergruben das, was die schlichte Tugend begründet hatte. Die Geschichte ist voll von solchen Beispielen. Mit Ausnahme von einigen frommen, aber für die Gesellschaft unnützen Klausnern geben die heutigen Christen den Römern zur Zeit des Marius und Sulla nichts nach. Wohlgemerkt beschränke ich mich bei diesem Vergleich nur auf die Sitten.

Diese und ähnliche Betrachtungen haben mich veranlaßt, den Ursachen nachzuspüren, die eine so seltsame Verderbnis des Menschengeschlechts herbeigeführt haben. Ich weiß zwar nicht recht, ob ich meine Mutmaßungen über eine so schwerwiegende Frage äußern darf. Es scheint mir jedoch, als hätte man vielleicht eine falsche Wahl der Beweggründe getroffen, die die Menschen zur Tugend antreiben sollen. Diese Beweggründe haben nach meiner Ansicht den Mangel, daß sie der großen Masse nicht faßlich sind.

Die Stoiker bedachten nicht, daß die Bewunderung ein erzwungenes Gefühl ist, dessen Eindruck sich schnell verwischt, und dem die Eigenliebe sich nur widerwillig fügt. Daß die Tugend schön sei, gesieht man leicht zu, well dies Geständnis nichts kostet. Da wir es aber mehr aus Gefälligkeit als aus Überzeugung ablegen, so bestimmt es uns nicht zur eignen Besserung, zur Bezwingung unsrer schlechten Neigungen, zur Bezähmung unsrer Leidenschaften.

Die Platoniker hätten an die unermeßliche Kluft zwischen dem höchsten Wesen und dem gebrechlichen Geschöpf denken sollen. Wie tonnten sie diesem Geschöpf zumuten, seinen Schöpfer nachzuahmen, von dem es sich bei seinem beschränkten und begrenzten Verstande nur eine unbestimmte, schwankende Vorstellung bilden konnte? Unser Geist ist der Herrschaft der Sinne unterworfen. Unser Verstand befaßt sich nur mit Dingen, bei denen die Erfahrung uns erleuchtet. Ihm abstrakte Gegenstände vorlegen, heißt ihn in ein Labyrinth führen, aus dem er nie herausfinden wird. Stellt man ihm aber greifbare Gegenstände vor Augen, so kann man ihm Eindruck machen und ihn überzeugen. Nur wenige große Geister vermögen den gesunden Verstand zu bewahren, wenn sie in die Finsternisse der Metaphysik eindringen. Der Mensch ist im allgemeinen mehr sinnlich als vernünftig veranlagt.

Die Epikuräer wiederum mißbrauchten den Begriff der Lust und schwächten dadurch unbewußt das Gute ihrer Grundsätze. Durch dies zweideutige Wort gaben sie ihren Schülern Waffen zur Entstellung ihrer Lehre in die Hand.

Die christliche Religion — ich verehre das Göttliche, das man ihr zuschreibt, und rede hier bloß als Philosoph — bot dem Verstand nur abstrakte Begriffe. Um sie ihm begreiflich zu machen, hätte man also jeden Katechumenen zum Metaphysiker<46> verwandeln müssen und nur solche auswählen dürfen, deren Einbildungskraft stark genug war, um in dies Gebiet einzudringen. Aber nur der Geist Weniger ist dazu imstande. Wie die Erfahrung lehrt, hat das Gegenwärtige, Sinnfällige bei der großen Masse das Übergewicht über das Fernliegende, nur schwächer Wirkende. Darum wird sie die irdischen Güter, deren Genuß sie mit Händen greift, stets den imaginären Gütern vorziehen, deren Besitz sie sich nur undeutlich und in weiter Ferne vorstellt.

Aber was sollen wir erst von dem Motiv der Liebe zu Gott sagen, das die Menschen zur Tugend anspornen soll? Jener Liebe, die nach der Forderung der Quietisten von Höllenfurcht und Paradieseshoffnung frei sein soll? Ist eine derartige Liebe wohl möglich? Das Endliche kann das Unendliche nicht begreifen. Folglich können wir uns keine genaue Vorstellung von der Gottheit machen, sondern uns nur allgemein von ihrem Dasein überzeugen. Und das ist alles. Wie kann man da von einer schlichten Seele verlangen, ein Wesen zu lieben, das sie garnicht zu erkennen vermag? Begnügen wir uns also damit, es im stillen anzubeten, und beschränken wir unsre Herzensregungen auf das Gefühl tiefer Dankbarkeit gegen das höchste Wesen, in dem und durch das alles existiert.

Je mehr man diesen Gegenstand untersucht und erörtert, desto klarer wird es, daß man ein allgemeineres und einfacheres Prinzip anwenden muß, um die Menschen zur Tugend zu bewegen. Wer sich in das Studium des Menschenherzens vertieft hat, wird gewiß schon die Triebfeder entdeckt haben, die man in Tätigkeit setzen muß. Diese mächtige Triebfeder ist die Eigenliebe, die Wächterin unsrer Selbsterhaltung, die Schöpferin unsres Glücks, die unversiegliche Quelle unsrer Tugenden und Laster, der verborgene Grund alles menschlichen Tuns und Lassens. Sie findet sich bei Menschen von Geist in hervorragendem Grade und klärt noch den Stumpfsinnigsten über seinen Vorteil auf. Was ist nun schöner und bewundernswerter als ein Prinzip, das zum Lasier führen kann, just zur Quelle des Guten, des Glücks und der öffentlichen Wohlfahrt zu machen? Das aber würde geschehen, wenn ein geschickter Philosoph den Gegenstand in die Hand nähme. Er würde der Eigenliebe Grenzen ziehen, sie zum Guten lenken, eine Leidenschaft gegen die andre setzen und die Menschen durch den Nachweis, daß die Tugend ihr eigner VorteU ist, wirklich tugendhaft machen.

Larochefoucauld46-1 hat in seinen Untersuchungen über das menschliche Herz die Triebfeder der Eigenliebe sehr glücklich aufgedeckt, aber leider nur, um unsre Tugenden zu lästern und zu zeigen, daß sie nur Schein sind. Ich wünschte, man benutzte diese Triebfeder, um den Menschen zu beweisen, daß es ihr eigner Vorteil erheischt, gute Staatsbürger, gute Väter, gute Freunde zu sein, kurz, alle moralischen Tugenden zu besitzen. Und da es sich wirklich so verhält, würde es nicht schwer fallen, sie davon zu überzeugen.

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Weshalb sucht man die Menschen bei ihrem eignen Vorteil zu fassen, wenn man sie zu diesem oder jenem Entschluß bewegen will? Doch nur, weil der eigne Vorteil von allen Gründen der stärkste und überzeugendste ist. Brauchen wir also dasselbe Argument für die Moral. Machen wir den Menschen klar, daß sie sich durch lasterhaften Wandel unglücklich machen, daß aber mit guten Handlungen gute Folgen unzertrennlich verknüpft sind. Wenn die Kreter ihren Feinden fluchten, so wünschten sie ihnen lasterhafte Leidenschaften, das heißt, sie wünschten ihnen, sie möchten sich selber in Unglück und Schande stürzen47-1. Diese einleuchtenden Wahrheiten können bewiesen werden und sind für Weise, für Leute von Verstand und für den Pöbel gleich faßlich.

Man wird mir ohne Zweifel einwenden: meine Behauptung, daß mit guten Handlungen Glück verknüpft ist, sei schwer in Einklang zu bringen mit den Verfolgungen der Tugend und mit der Art von Wohlstand, in der sich viele verderbte Menschen befinden. Der Einwand ist leicht zu beheben, wenn wir unter dem Worte Glück nichts andres verstehen als vollkommene Seelenruhe. Sie gründet sich auf Zufriedenheit mit sich selbst und darauf, daß wir mit gutem Gewissen unsre Handlungen gutheißen können und uns keine Vorwürfe zu machen haben. Nun ist es ja klar, daß diese Empfindung in einem sonst unglücklichen Menschen herrschen kann, nicht aber in einem rohen und wilden Herzen; denn ein solches Herz muß, wenn es sich betrachtet, sich selbst verabscheuen, so glänzend auch sein äußeres Geschick scheinen mag.

Wir wollen nicht gegen die Erfahrung streiten, sondern zugeben, daß es eine Menge Beispiele unbestrafter Verbrechen gibt, daß viele Bösewichter ein Ansehen genießen, das vom blöden Volke bewundert wird. Aber fürchten diese Verbrecher nicht, daß die für sie so schreckliche Wahrheit eines Tages ans Licht kommt, daß die Zeit ihre Schande enthüllt? Konnte wohl der eitle Glanz, der die gekrönten Ungeheuer, einen Nero, Caligula, Domitian oder Ludwig XI. umgab, die geheime Stimme ihres Gewissens ersticken, die sie verurteilte? Konnte er verhindern, daß sie von Gewissensbissen verzehrt und von der unsichtbaren Rachegeißel zerfleischt wurden? Welche Seele kann in solcher Lage ruhig bleiben? Empfindet sie nicht schon im Leben alles Gräßliche, was die Höllenqual haben kann? Übrigens urteilt man sehr falsch, wenn man das Glück eines andren nur nach dem äußeren Schein bemißt. Es läßt sich nur nach der Denkart dessen schätzen, der es empfindet: die aber ist sehr verschieden. Der eine liebt den Ruhm, der andre das Vergnügen. Dieser hängt sein Herz an Kleinigkeiten, jener an Dinge, die man für wichtig hält. Ja, einige verabscheuen das, was andre sich wünschen oder als das höchste Gut ansehen.

Es gibt also keine feste Norm zur Beurtellung dessen, was von einem willkürlichen und oft phantastischen Geschmack abhängt. Daher kommt es oft, daß man laut das Glück und den Wohlstand von Leuten bewundert, die im Stillen bitter unter der Last ihres Kummers seufzen. Da wir nun also das Glück weder in äußeren Dingen noch<48> in den Glücksgütern finden können, die wir im wechselnden Spiele des Lebens bald gewinnen, bald verlieren, so müssen wir es in uns selbst suchen. Es gibt aber — ich wiederhole es — kein andres als Seelenruhe. Deshalb muß unser eigner Vorteil uns antreiben, nach einem so kostbaren Gute zu streben und die Leidenschaften zu zügeln, wenn sie es stören.

Wie ein Staat nicht glücklich sein kann, der von Bürgerkriegen zerrüttet wird, so kann auch der Mensch kein Glück genießen, wenn seine empörten Leidenschaften der Vernunft die Herrschaft streitig machen. Alle Leidenschaften ziehen eine Züchtigung nach sich, die mit ihnen verknüpft zu sein scheint. Davon sind selbst die unsren Sinnen am meisten schmeichelnden nicht ausgenommen. Die einen zerrütten die Gesundheit, die andern bescheren uns ewig wiederkehrende Sorge und Unruhe. Bald bringen sie den Verdruß über das Mißlingen gewaltiger Pläne, die wir entworfen haben, bald den Kummer, nicht die Achtung zu erringen, die wir zu verdienen glauben. Der eine schäumt vor Wut, sich an seinen Beleidigern nicht rächen zu können; ein zweiter empfindet Gewissensbisse über zu barbarische Vergeltung oder fürchtet, nach hundert Betrügereien entlarvt zu werden.

Den Geizigen zum Beispiel quält unaufhörlich der Durst nach Reichtümern. Alle Mittel sind ihm recht, wenn er diesen nur stillt! Aber die Angst, das mit so vieler Mühe Zusammengeraffte wieder zu verlieren, raubt ihm den Genuß seines Besitzes. Der Ehrsüchtige verliert die Gegenwart aus den Augen, um sich blindlings in die Zukunft zu stürzen. Er gebiert unaufhörlich neue Pläne und tritt alles, auch das Heiligste, herrisch mit Füßen, um sein Ziel zu erreichen. Die Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellen, reizen und erbittern ihn. Ewig schwankend zwischen Furcht und Hoffen, ist er in der Tat unglücklich, und selbst der Besitz dessen, was er begehrt, ist mit Überdruß und Ekel gepaart. Dieser unerquickliche Zustand läßt ihn neue Glücksplane schmieden, aber das Glück, das er sucht, findet er nie. Soll man in einem so kurzen Leben so weitschauende Pläne entwerfen? Der Verschwender, der doppelt so viel verschleudert, als er zusammenrafft, ist wie das Faß der Danaiden, das niemals voll wurde. Stets sinnt er auf Mittel zur Befriedigung seiner zahlreichen Begierden. Die aber vermehren seine Bedürfnisse immerfort, und so arten seine Lasier schließlich in Verbrechen aus. Der Liebestolle wird zum Spielball der Weiber, die ihn betrügen. Der flatterhaft Liebende verführt sie nur dadurch, daß er wortbrüchig ist. Der Ausschweifende zerstört seine Gesundheit und verkürzt sein Leben.

Aber welche Vorwürfe hat sich nicht erst der Hartherzige, Ungerechte, Undankbare zu machen! Der Hartherzige hört auf, ein Mensch zu sein, well er die Vorrechte seiner Gattung nicht ehrt und in seinesgleichen seine Brüder verkennt. Er hat kein Herz im Busen, und da er selbst kein Mitleid empfindet, so verwirkt er auch das Mitleid der andren. Der Ungerechte bricht den Gesellschaftsvertrag. Er zerstört, soviel er vermag, die Gesetze, unter deren Schutze er lebt. Er würde sich gegen jede Bedrückung auflehnen, maßt sich selbst aber das ausschließliche Vorrecht an, Schwächere zu unterdrücken.<49> Sein Fehler ist schlechte Logik. Seine Grundsätze stehen miteinander in Widerspruch. Muß nicht auch das Gefühl für Recht und Billigkeit, das die Natur in aller Herzen gelegt hat, sich gegen seine Übergriffe auflehnen? Doch das abscheulichste, schwärzeste und ruchloseste von allen Lastern ist der Undank. Der Undankbare, gegen Wohltaten Unempfindliche begeht ein Majestätsverbrechen an der Gesellschaft. Denn er verdirbt, vergiftet und zerstört die Süßigkeit der Freundschaft. Beleidigungen empfindet er, aber Dienstleistungen nicht. Indem er Gutes mit Bösem vergilt, setzt er der Niedertracht die Krone auf. Aber eine so entartete, unter die Menschheit herabgesunkene Seele handelt gegen ihren eigenen Vorteil; denn jeder Mensch ist — so hoch er auch stehen mag — von Natur schwach und bedarf des Beistandes seiner Nächsten. Ein Undankbarer aber, den die Gesellschaft ausstößt, macht sich durch seine Herzlosigkeit unwürdig, je wieder Wohltaten zu empfangen. Unablässig sollte man den Menschen zurufen: „Seid sanft und menschlich, weil ihr schwach seid und des Beistandes bedürft! Seid gerecht gegen andre, damit die Gesetze auch euch gegen fremde Gewalttat schützen! Tut andren das nicht an, was sie euch nicht antun sollen.“

Ich will in dieser flüchtigen Skizze nicht all die Gründe auseinandersetzen, die die Eigenliebe den Menschen an die Hand gibt, um ihre schlechten Neigungen zu besiegen und ein tugendhaftes Leben zu führen. Bei den engen Grenzen meiner Abhandlung kann ich den Gegenstand nicht erschöpfen. Ich begnüge mich mit der Behauptung, daß alle, die neue Beweggründe zur Verbesserung der Sitten ausfindig machen, der Gesellschaft, ja selbst der Religion einen wichtigen Dienst leisten.

Nichts ist wahrer und handgreiflicher, als daß die Gesellschaft nicht bestehen kann, wenn ihre Mitglieder keine Tugend, keine guten Sitten besitzen. Sittenverderbnis, herausfordernde Frechheit des Lasters, Verachtung der Tugend und derer, die sie ehren, Mangel an Redlichkeit in Handel und Wandel, Meineid, Treulosigkeit, Eigennutz an Stelle des Gemeinsinns — das sind die Vorboten des Verfalls der Staaten und des Untergangs der Reiche. Denn sobald die Begriffe von Gut und Böse verwirrt werden, gibt es weder Lob noch Tadel, weder Lohn noch Strafe mehr.

Ein so wichtiger Gegenstand wie die Moral geht die Religion ebensoviel an wie den Staat. Die christliche, jüdische, mohammedanische und chinesische Moral haben beinahe die gleiche Sittenlehre. Die christliche hat trotz ihrer langen Geltung noch zwei Arten von Feinden zu bekämpfen. Die einen sind die Philosophen, die nur den gesunden Menschenverstand und die streng exakte logische Beweisführung gelten lassen und alle Ideen und Systeme verwerfen, die nicht mit den Regeln der Logik übereinstimmen; doch davon reden wir hier nicht. Die andren sind die Freigeister49-1, deren Sitten, durch lange Gewöhnung an das Laster verderbt, sich gegen das harte Joch<50> aufbäumen, das die Religion ihren Leidenschaften auflegen will. Sie streifen ihre Fesseln ab, sprechen sich stillschweigend von einem Gesetze los, das ihnen Zwang antut, und suchen in völligem Unglauben eine Freistätte. Ich behaupte nun: alle Beweggründe, die man zur Besserung solcher Charaktere anwenden kann, gereichen der christlichen Religion offenbar zum größten Vorteil. Ja, ich glaube, der eigne Vorteil des Menschen ist das mächtigste Motiv, mit dem man sie von ihren Verirrungen abbringen kann. Ist der Mensch einmal davon überzeugt, daß es in seinem eignen Interesse liegt, tugendhaft zu sein, so wird er sich auch lobenswerter Handlungen befleißigen, und da er dann der Moral des Evangeliums tatsächlich gemäß lebt, wird man ihn auch leicht dahin bringen, aus Liebe zu Gott das zu tun, was er schon aus Liebe zu sich selbst getan hat. Das nennen die Theologen: heidnische Tugenden in christliche, geheiligte verwandeln.

Doch hier stellt sich ein neuer Einwand dar. Man wird mir gewiß entgegenhalten: „Du widersprichst dir selbst. Du denkst nicht daran, daß man die Tugend als einen Trieb der Seele zu größter Selbstlosigkeit definiert. Wie kannst du also wähnen, man könne zu dieser völligen Selbstaufgabe durch den eigenen Vorteil gelangen, das heißt, durch den ihr strikt entgegengesetzten Seelenzustand?“

Der Einwurf ist stark, aber doch leicht zu widerlegen, wenn man die verschiedenen Triebfedern der Selbstliebe betrachtet. Bestünde sie nur aus dem Verlangen nach Gütern und Ehren, so hätte ich nichts zu erwidern. Aber ihr Trachten beschränkt sich nicht auf so wenig. Sie umfaßt zunächst Liebe zum Leben und zur Selbsterhaltung, dann Begierde nach Glück, Furcht vor Tadel und Schmach, Verlangen nach Ansehen und Ruhm und schließlich die Leidenschaft für alles, was man für nützlich hält. Dazu tritt noch Abscheu vor allem, was man der Selbsierhaltung schädlich glaubt. Man braucht also nur die Urteile der Menschen zu berichtigen. Wonach muß ich trachten, was muß ich meiden, um die sonst rohe und schädliche Eigenliebe nützlich und lobenswert zu machen?

Die Beispiele der größten Uneigennützigkeit, die wir haben, rühren aus der Eigenliebe her. Die hochherzige Aufopferung der beiden Decius50-1, die ihr Leben freiwillig Hingaben, um dem Vaterland den Sieg zu erringen — woraus entsprang sie, wenn nicht daraus, daß sie ihr Leben weniger hoch einschätzten als den Ruhm? Weshalb widerstand Scipio im Jünglingsalter, wo die Leidenschaften so gefährlich sind, der Versuchung, in die ihn die Schönheit seiner Gefangenen brachte? Warum gab er sie als Jungfrau ihrem Verlobten zurück und überhäufte beide mit Geschenken50-2? Können wir zweifeln, daß der Held gemeint hat, sein edles, großmütiges Benehmen werde<51> ihn mehr ehren als die rohe Sättigung seiner Begierde? Er zog also den guten Ruf der Wollust vor.

Wie viele Züge von Tugend, wie viele unsterbliche Ruhmestaten hat man nicht tatsächlich dem Instinkt der Selbstliebe zu verdanken? Aus einem geheimen, fast unmerklichen Gefühl beziehen die Menschen alles auf sich selbst. In sich sehen sie einen Mittelpunkt, in dem alle Strahlen ihres Umkreises zusammenlaufen. Welche gute Tat sie auch tun mögen, sie selbst sind deren verborgener Gegenstand. Das stärkere Gefühl überwiegt bei ihnen das schwächere, und oft bestimmt ihr Handeln ein falscher Schluß, dessen Mängel sie nicht einsehen. Man darf ihnen also nur das wahre Gute zeigen, ihnen dessen Wert klarmachen und ihre Leidenschaften in den Dienst der Tugend stellen, indem man sie lenkt und eine gegen die andre setzt.

Gilt es ein Verbrechen zu verhüten, das jemand begehen will, so findet man ein Abschreckungsmittel in den Gesetzen, die es bestrafen. Man muß dann den Selbsterhaltungstrieb jedes Menschen wachrufen und ihn den schlimmen Absichten entgegenstellen, die ihn den strengsten Strafen, ja dem Tode aussetzen. Der Selbsterhaltungstrieb kann auch Wüstlinge bessern, die durch ihre Ausschweifungen ihre Gesundheit zerrütten und ihr Leben verkürzen. Ein gleiches gilt von denen, die sich vom Jähzorn hinreißen lassen; denn es gibt Beispiele dafür, daß diese Leidenschaft bei großer Heftigkeit epileptische Anfälle zur Folge hat.

Die Furcht vor Tadel bringt fast die gleichen Wirkungen hervor wie der Selbsterhaltungstrieb. Wie viele Frauen verdanken ihre Keuschheit, deretwegen man sie lobt, dem Verlangen, ihren Ruf vor Verleumdung zu schützen! Wie viele Männer sind nur darum uneigennützig, weil sie fürchten, in der Welt als Betrüger und Elende dazustehen, wenn sie anders handelten.

Kurz, die verschiedenen Triebfedern der Eigenliebe geschickt in Bewegung zu setzen, es so hinzustellen, daß alle Vorteile von guten Handlungen dem Handelnden selbst zugute kommen — das ist das Mittel, um diesen Quell des Guten und Bösen zur treibenden Kraft des Verdienstes und der Tugend zu machen.

Ich muß zu unsrer Schande gestehen, daß man in unsrem Jahrhundert eine merkwürdige Abkühlung gegen alle Bestrebungen zur Besserung des menschlichen Herzens und der Sitten antrifft. Man sagt öffentlich und läßt es sogar drucken: die Moral sei ebenso langweilig wie unnütz. Man behauptet: die Menschennatur sei ein Gemisch von Gut und Böse, das sich nicht ändern lasse; die stärksten Gründe wichen der Gewalt der Leidenschaften, und man müsse die Welt gehen lassen, wie sie geht.

Wenn man nun mit dem Erdboden ebenso verführe, wenn man ihn unbebaut ließe, so würde er sicherlich nur Disteln und Dornen tragen, nie aber die reichen und nützlichen Ernten, die uns mit Nahrungsmitteln versorgen. Ich gebe zu: soviel man sich auch um Besserung der Sitten bemüht, es wird stets Lasier und Verbrechen auf der Welt geben. Aber es werden ihrer doch weniger sein, und damit ist schon viel gewonnen. Es wird dann auch mehr gebesserte und voll entwickelte Seelen geben,<52> die sich durch hervorragende Eigenschaften auszeichnen. Sind nicht aus der Schule der Philosophen erhabene Seelen, fast göttliche Menschen hervorgegangen, die die Tugend zur höchsten, der Menschheit erreichbaren Vollendung gebracht haben? Die Namen eines Sokrates, Aristides, Cato, Brutus, Antoninus Pius, Mark Aurel werden in den Annalen des Menschengeschlechts so lange fortleben, wie es tugendhafte Seelen auf der Welt gibt. Auch die Religion hat einige treffliche Männer hervorgebracht, die sich durch Menschlichkeit und Wohltätigkeit auszeichneten. Zu ihnen rechne ich indessen nicht die mürrischen, fanatischen Mönche, die in ftommen Kerkern die Tugenden begruben, durch die sie ihren Nächsten hätten nützlich werden können, und die lieber der Gesellschaft zur Last fallen, als ihr dienen wollten.

Heutzutage müßte man damit anfangen, das Vorbild der Alten nachzuahmen, alle Aufmunterungsmittel zur Besserung des Menschengeschlechts anzuwenden, in den Schulen die Sittenlehre jedem andren Unterricht vorzuziehen und sie leicht faßlich vorzutragen. Vielleicht käme man seinem Zweck bedeutend näher, wenn man Katechismen anfertigte, aus denen die Kinder von klein auf lernten, daß die Tugend zu ihrem Glück unerläßlich ist. Ich wünschte, die Philosophen beschäftigten sich weniger mit ebenso vorwitzigen wie fruchtlosen Untersuchungen und übten ihre Talente mehr an der Moral. Vor allem aber sollte ihr Wandel ihren Schülern in allen Stücken zum Muster dienen. Dann führten sie mit Recht den Namen: Lehrer des Menschengeschlechts.

Die Theologen sollten sich weniger um die Erklärung unbegreiflicher Dogmen bemühen. Sie sollten die Wut verlernen, uns Dinge beweisen zu wollen, die uns als Mysterien und als höher denn alle Vernunft verkündigt sind. Vielmehr sollten sie sich darauf legen, praktische Moral zu predigen und statt blumenreicher Reden nützliche, schlichte, klare und dem Verständnis ihrer Zuhörer angemessene Andachten abzuhalten. Bei spitzfindigen Beweisführungen schlafen die Menschen ein. Ist aber von ihrem eignen Vorteil die Rede, so wachen sie auf. Derart ließe sich durch geschickte und weise Reden die Eigenliebe zur Führerin der Tugend machen. Man könnte mit Erfolg neue Beispiele gebrauchen, die dem Geiste der zu Belehrenden an, gepaßt sind. Will man einen trägen Bauern zur besseren Bestellung seines Ackers aufmuntern, so erreicht man das sicherlich am leichtesten mit dem Hinweis auf seinen durch Emsigkeit reich gewordenen Nachbarn. Man muß ihm sagen, es hinge nur von ihm ab, den gleichen Wohlstand zu erlangen. Stets müssen die gewählten Vorbilder der Fassungskraft und dem Stande derer entsprechen, die sie nachahmen sollen. Aus zu ungleichen Lebenslagen darf man sie niemals nehmen. Der Ruhm des Miltiades störte den Schlaf des Themisiokles.

Wenn nun große Beispiele auf die Alten so starken Eindruck gemacht haben, warum sollen sie in unsren Tagen wirkungslos bleiben? Die Liebe zum Ruhm ist edlen Seelen angeboren, man braucht sie nur zu beleben und anzufachen. Dann werden Menschen, die bis dahin nur hinvegetierten, von diesem glücklichen Triebe<53> entstammt, wie Halbgötter dastehen. Reicht auch die vorgeschlagene Methode zur Ausrottung aller Lasier auf Erden nicht aus, so kann sie doch, dünkt mich, den guten Sitten Anhänger werben und Tugenden erwecken, die ohne ihre Hilfe in dumpfem Schlafe geblieben wären. Damit leistet man der Gesellschaft stets einen Dienst, und das ist auch der Zweck dieser Abhandlung.

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Über den Nutzen der Künste und Wissenschaften im Staate (1772)54-1

Wenig aufgeklärte und wahrheitsliebende Leute haben den Künsten und Wissenschaften den Krieg zu erklären gewagt. War ihnen die Verlästerung dessen gestattet, was der Menschheit zur höchsten Ehre gereicht, so muß die Verteidigung erst recht gestattet sein. Sie ist die Pflicht aller, die die menschliche Gesellschaft lieben und ein dankbares Herz für das besitzen, was sie den Wissenschaften schulden. Unglücklicherweise machen widersinnige Behauptungen den Menschen oft größeren Eindruck als Wahrheiten. Es gilt also, ihnen die Augen zu öffnen und die Urheber solchen Aberwitzes zu beschämen — nicht durch Schmähungen, sondern durch triftige Gründe. Ich scheue mich, vor der Akademie zu sagen, daß jemand so frech gewesen ist, in Frage zu stellen, ob die Wissenschaften der menschlichen Gesellschaft nützlich oder schädlich sind. Darüber dürfte doch niemand im Zweifel sein! Wenn wir einen Vorzug vor den Tieren besitzen, so liegt er sicherlich nicht in unsern körperlichen Eigenschaften, sondern in dem größeren Verstande, den die Natur uns verliehen hat. Auch die Menschen untereinander scheidet der Geist und das Wissen. Woher käme wohl sonst der unendliche Abstand zwischen einem kultivierten und einem barbarischen Volke, wenn nicht daher, daß das eine aufgeklärt ist, das andre aber in Verdummung und Stumpfsinn dahinlebt?

Die Völker, die sich solcher Überlegenheit erfreuten, waren dankbar gegen die, die ihnen diesen Vorzug verschafften. Daher stammt der gerechte Ruhm jener Leuchten der Welt, jener Weisen, deren gelehrte Arbeiten ihre Landsleute und ihr Zeitalter aufgeklärt haben.

Der Mensch stellt an sich wenig vor. Er wird mit mehr oder minder entwicklungsfähigen Anlagen geboren, die der Ausbildung bedürfen. Seine Kenntnisse müssen vermehrt werden, damit seine Begriffe sich erweitem können. Sein Gedächtnis ist zu bereichern, damit der Vorrat die Einbildungskraft mit Stoff versieht, den sie verar<55>betten kann, und sein Urteil ist zu schärfen, damit es seine eignen Leistungen abschätzen lernt. Der gewaltigste Geist gleicht ohne Kenntnisse einem rohen Diamanten, der erst unter den Händen eines geschickten Steinschleifers seinen Wert erhält. Wieviel Geist geht derart für die menschliche Gesellschaft verloren, und wie viele große Männer jedes Schlages werden im Keime erstickt, sei es durch Unwissenheit, sei es durch die elenden Verhältnisse, in die sie gesetzt sind!

Das wahre Wohl des Staates, sein Vorteil und Glanz erfordern also, daß die Volksgenossen so unterrichtet und aufgeklärt wie möglich sind. Dadurch erhält der Staat in jedem Berufe zahlreiche geschickte Untertanen, die zur tüchtigen Verwaltung der verschiedenen Ämter, die man ihnen anvertrauen muß, wohl imstande sind.

Der Zufall der Geburt hat viele in eine Lebenslage gebracht, in der sie nicht ermessen können, welch unendlichen Schaden mehr oder weniger alle europäischen Staaten durch die Mißgriffe von Unwissenden erleiden, und so werden ihnen diese Übelstände vielleicht nicht so fühlbar, als wenn sie deren Augenzeugen wären. Es ließe sich eine Menge solcher Beispiele anführen, wenn die Art und der Umfang dieser Rede uns nicht in die richtigen Schranken verwiese. Nur die Faulheit, die sich zu unterrichten verschmäht, nur die anspruchsvolle Unwissenheit, die alles mit Beschlag belegt und zu allem unfähig ist, konnte irgend einen Narren55-1 zu der durch elende Aberwitzigkeiten gestützten Behauptung verführen, die Wissenschaften wären verderblich, verfeinerten nur die Lasier und verderbten die Sitten. Solche Verkehrtheiten springen in die Augen! In welcher Form man sie auch vorbringe, fest sieht, daß die Bildung den Geist veredelt, anstatt ihn zu erniedrigen. Was verdirbt die Sitten? Böse Beispiele sind es. Wie Seuchen in großen Städten schlimmere Verheerungen anrichten als in Dörfern, so macht auch die Ansteckung des Lasters in volkreichen Städten größere Fortschritte als auf dem Lande, wo die tägliche Arbeit und ein abgeschlosseneres Leben die Sitten einfach und rein erhält.

Es hat falsche Staatsmänner gegeben, die in kleinlichen Begriffen befangen waren und ohne gründliches Eingehen auf den Gegenstand glaubten, es sei leichter, ein unwissendes und verdummtes Volk zu regieren als eine aufgeklärte Nation. Das ist wirklich eine überwältigende Behauptung! Die Erfahrung beweist vielmehr, daß ein Volk desto eigensinniger und starrköpfiger ist, je dümmer es ist, und daß es weit schwerer hält, seinen Starrsinn zu brechen, als ein leidlich gebildetes Volk von einer gerechten Sache zu überzeugen. Das wäre ein schönes Land, wo die Talente ewig unterdrückt blieben und nur ein Einziger weniger beschränkt wäre als die andren! Solch ein von Unwissenden bevölkerter Staat gliche dem verlorenen Paradiese der Bibel, das nur von Tieren bewohnt war.

Dem erlauchten Hörerkreis der Akademie braucht zwar nicht erst bewiesen zu werden, daß Künste und Wissenschaften ebenso nützlich, wie für die Völker, die sie besitzen,<56> ruhmvoll sind. Aber es ist doch vielleicht nicht unangebracht, eine Gattung weniger aufgeklärter Leute davon zu überzeugen, um sie gegen die Einflüsse zu schützen, die schändliche Sophisten auf ihren Geist ausüben könnten. Mögen diese doch einen kanadischen Wilden mit dem Bürger eines zivilisierten europäischen Staates vergleichen! Der ganze Vorteil wird jedenfalls bei dem letzteren liegen! Wie kann man die rohe Natur einer vervollkommneten, den Mangel an Existenzmitteln dem auskömmlichen Leben, Grobheit der Höflichkeit, Sicherheit des Eigentums, die man unter dem Schutze der Gesetze genießt, dem Recht des Stärkeren und der Räuberei vorziehen, die Habe und Wohlfahrt der Familien zerstört?

Die Gesellschaft, die von einer Volksgemeinschaft gebildet wird, kann weder der Künste noch der Wissenschaften entbehren. Durch die Wasserbaukunst werden die Gegenden längs der Flüsse vor deren Austreten und vor Überschwemmungen bewahrt. Ohne sie würden fruchtbare Gebiete sich in ungesunde Sümpfe verwandeln und viele Familien ihren Unterhalt einbüßen. Die höher gelegenen Gegenden bedürfen des Feldmessers, der die Äcker abmißt und einteilt. Die durch Erfahrung bestätigten physikalischen Kenntnisse tragen zur Vervollkommnung des Ackerbaues und besonders der Gärtnerei bei. Die Botanik, die sich dem Studium der Heilkräuter widmet, die Chemie, die die Säfte aus ihnen zu ziehen weiß, belebt wenigstens unsre Hoffnung während der Krankheit, selbst wenn sie uns nicht zu heilen vermögen. Die Anatomie führt und leitet die Hand des Wundarztes bei den schmerzhaften, aber notwendigen Operationen, die unser Dasein durch Entfernung des erkrankten Körperteils retten. Die Mechanik dient zu vielerlei. Soll eine Last gehoben oder fortgeschafft werden, sie setzt sie in Bewegung. Soll das Erdinnere durchwühlt werden, um Metalle zu fördern, sie trocknet die Stollen durch klug erfundene Maschinen aus und befreit den Bergmann von dem überfiüssigen Wasser, das ihn töten oder seine Arbeit verhindern würde. Gilt es, Mühlen zum Zermahlen unsres bekanntesten und notwendigsten Nahrungsmittels zu errichten, so werden sie durch die Mechanik vervollkommnet. Ebenso erleichtert die Mechanik die Arbeit durch Verbesserung der verschiedenen Werkzeuge, die der Arbeiter benutzt. Alle Maschinen gehören in ihr Fach, und wie viele Maschinen aller Art sind erforderlich! Die Schiffsbaukunsi gehört vielleicht zu den größten Errungenschaften des Denkvermögens. Aber wie vieler Kenntnisse bedarf nicht auch der Steuermann, um das Schiff zu lenken und den Fluten und Winden zu trotzen! Er muß in der Astronomie Bescheid wissen, gute Seekarten und genaue Kenntnis der Geographie besitzen. Er muß Fertigkeit im Rechnen haben, um die zurückgelegte Entfernung und den Ort, wo er sich befindet, zu bestimmen, wobei er künftig eine Hilfe an den in England kürzlich vervollkommneten Instrumenten finden wird.

Künste und Wissenschaften reichen sich die Hand. Ihnen danken wir alles. Sie sind die Wohltäter des Menschengeschlechts. Der Bürger großer Städte genießt sie, ohne in seiner stolzen Bequemlichkeit zu wissen, wie vieler durchwachter Nächte und Anstren<57>gungen es bedarf, um seine Bedürfnisse zu befriedigen und seinen oft wunderlichen Neigungen zu genügen.

Wie viele Kenntnisse erheischt nicht der Krieg, der zuweilen notwendig ist, aber oft auch zu leichtsinnig unternommen wird! Schon die Erfindung des Schießpulvers hat die Kriegführung so völlig verändert, daß die größten Helden des Altertums, wenn sie heute auf die Welt zurückkehrten, sich zur Behauptung ihres rechtmäßig erworbenen Ruhmes mit unsren Entdeckungen vertraut machen müßten. In der heutigen Zeit muß ein Kriegsmann Mathematik, Befestigungskunst, Hydraulik und Mechanik studieren, um Festungswerke anlegen und künstliche Überschwemmungen herbeiführen zu können, um die Kraft des Pulvers zu kennen, den Wurf der Bomben zu berechnen, die Wirkung der Minen zu bestimmen, den Transport der Kriegsmaschinen erleichtern zu können. Er muß mit der Lagerkunst, der Taktik, der Mechanik des Exerzierens vertraut sein, muß genaue Kenntnis des Geländes und der Geographie besitzen. Seine Feldzugspläne müssen, obwohl er auf Mutmaßungen beschrankt ist, einem mathematischen Beweise gleichen. Er muß die Geschichte aller früheren Kriege im Kopfe haben, damit seine Phantasie aus ihr wie aus einer fruchtbaren Quelle schöpfen kann.

Aber nicht allein die Heerführer müssen ihre Zuflucht zu den Archiven der Vergangenheit nehmen. Auch der Beamte, der Jurist könnten ihre Pflicht nicht erfüllen, wenn sie den Teil der Geschichte, der die Gesetzgebung betrifft, nicht gründlich beherrschen. Es genügt nicht, daß sie den Geist der Gesetze ihres Vaterlandes studiert haben, sie müssen auch den der andren Völker kennen und wissen, bei welchen Anlässen die Gesetze eingeführt oder abgeschafft wurden.

Selbst die Träger der Staatsgewalt und die, welche unter ihnen die Regierung leiten, können das Geschichtsstudium nicht entbehren. Die Geschichte ist ihr Brevier, ein Gemälde, das ihnen die feinsten Schattierungen der Charaktere und Handlungen der Machthaber, ihre Tugenden und Laster, ihr Glück und Unglück und ihre Hilfsmittel zeigt. In der Geschichte ihres Vaterlandes, auf die sie ihr Hauptaugenmerk richten müssen, finden sie den Ursprung seiner guten und schlechten Einrichtungen und eine Kette von zusammenhängenden Ereignissen, die sie bis an die Gegenwart führt. In ihr finden sie die Gründe, die die Völker vereinigt und ihre Bande wieder zerrissen haben, Beispiele, die nachzuahmen oder zu vermeiden sind. Aber welch ein Gegenstand des Nachdenkens ist für einen Herrscher erst die Musterung all der Fürsten, die ihm die Geschichte vorführt! Unter ihnen befinden sich notwendig solche, deren Charaktere oder Handlungen mit den seinen verwandt sind, und im Urteil der Nachwelt sieht er wie in einem Spiegel das Urteil, das seiner selbst harrt, sobald mit seinem Hinscheiden die Furcht, die er einflößte, völlig verschwunden ist.

Sind die Historiker die Lehrer der Staatsmänner, so sind die Logiker die Zerschmetterer der Irrtümer und des Aberglaubens. Sie haben die Hirngespinste geistlicher und weltlicher Marktschreier bekämpft und zerstört. Ohne sie würden wir vielleicht noch<58> heute, gleich unsren Vorfahren, erdichteten Göttern Menschenopfer darbringen und das Werk unsrer eignen Hände anbeten. Wir würden gezwungen sein, zu glauben, und wagten nicht nachzudenken, und so dürften wir vielleicht noch immer nicht unsre Vernunft dazu brauchen, die für unser Schicksal wichtigsten Fragen zu prüfen. Wir würden noch immer wie unsre Väter den Freipaß für das Paradies und Ablaß für Verbrechen mit Gold aufwiegen. Die Wüstlinge wurden Hab und Gut drangeben, um nicht ins Fegefeuer zu kommen. Wir würden noch Scheiterhaufen für Andersdenkende errichten. Leere Gebräuche würden den Zwang zur Tugend ersetzen, und tonsurierte Betrüger würden uns im Namen der Gottheit zu den abscheulichsten Schandtaten antreiben. Wenn der Fanatismus zum Teil noch besieht, so kommt das daher, weil er in den Zeiten der Unwissenheit zu tiefe Wurzeln geschlagen hat, und weil der Vorteil gewisser Gesellschaften in grauen, schwarzen, braunen und weißen Kutten es erheischt, das Übel stets wieder zu beleben und seine Ausbrüche zu vermehren, nur damit sie das Ansehen nicht einbüßen, das sie noch im Geiste des Volkes besitzen.

Wir geben zu, daß die Logik das Begriffsvermögen des Pöbels übersteigt. Diese zahlreiche Menschengattung läßt sich immer zu allerletzt die Augen öffnen. Aber wenn sie auch in allen Ländern den Schatz des Aberglaubens behütet, so darf man doch sagen, daß man ihr den Wahn von Zauberern, Besessenen, Goldmachern und andre, ebenso kindische Albernheiten ausgetrieben hat. Das verdanken wir der tieferen Naturerkenntnis.

Die Physik hat sich mit der Analyse und mit der Erfahrung verbündet. Man hat kräftig in die Dunkelheiten hineingeleuchtet, die den Gelehrten des Altertums so viele Wahrheiten verbargen. Wenn wir auch nicht zur Kenntnis der geheimen Urgründe gelangen können, die der große Weltenbaumeister sich selbst vorbehalten hat, so fanden sich doch mächtige Geister, die die ewigen Gesetze der Schwerkraft und der Bewegung entdeckt haben. Der Kanzler Bacon, der Vorläufer der neuen Philosophie, oder besser gesagt der Mann, der ihre Fortschritte ahnte und vorhersagte, hat Newton auf die Pfade seiner wunderbaren Entdeckungen geführt. Newton löste Descartes ab, der die alten Irrtümer beseitigte, um sie durch eigne zu ersetzen. Seitdem hat man die Luft gewogen58-1, den Himmel ausgemessen, den Lauf der Gestirne mit unendlicher Genauigkeit berechnet58-2, die Finsternisse vorhergesagt, eine unbekannte Eigenschaft der Materie, die Elektrizität, entdeckt, deren Wirkungen die Vorstellungskraft in Erstaunen setzen. Ohne Zweifel wird man binnen kurzem auch die Wiederkehr der Kometen ebenso vorausbestimmen können wie die Finsternisse. Doch eins danken wir schon dem gelehrten Bayle: er hat den Schrecken verscheucht, den das Erscheinen des Kometen bei den Unwissenden hervorrief58-3. Gestehen wir es nur: so sehr unsre menschliche Schwäche uns auch demütigt, so sehr stärken die Leistungen jener großen Männer unsren Mut und lassen uns die Würde unsres Seins empfinden.

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Schelme und Betrüger sind also die einzigen, die sich den Fortschritten der Wissenschaften widersetzen und es sich zur Aufgabe machen können, sie zu verlästern; denn sie sind die einzigen, denen die Wissenschaft schaden kann.

In dem philosophischen Zeitalter, in dem wir leben, hat man nicht nur die hohen Wissenschaften verleumden wollen; es fanden sich auch Leute von so mürrischem Wesen, oder vielmehr so alles Gefühls und Geschmacks bar, daß sie den schönen Künsten den Krieg erklärt haben. Nach ihrer Meinung ist ein Redner ein Mensch, der mehr darauf ausgeht, schön zu sprechen als richtig zu denken. Ein Dichter ist ihnen ein Narr, der sich mit Silbenzählen abgibt, ein Geschichtsschreiber ein Zusammenstoppler von Lügen. Leute, die ihre Schriften lesen, sind Zeitvergeuder und ihre Bewunderer oberflächliche Geister. Sie möchten all die alten Dichtungen, die geistreichen, sinnbildlichen Fabeln, die soviel Wahrheit enthalten, in den Bann tun. Sie wollen nicht begreifen, daß, wenn Amphion die Mauern Thebens mit den Klängen seiner Leier erbaute, das bedeuten soll, daß die Künste die Sitten wilder Völker milderten und die Entstehung gesellschaftlicher Zustände herbeiführten.

Es gehört eine sehr fühllose Seele dazu, dem Menschengeschlecht den Trost und Beistand rauben zu wollen, den ihm die schönen Wissenschaften in den Bitternissen des Lebens gewähren. Man befreie uns von unsrem elenden Schicksal oder gestatte uns, es zu versüßen. Nicht ich will den gallsüchtigen Feinden der schönen Wissenschaften antworten, sondern ich berufe mich auf die Worte des philosophischen Konsuls, des Vaters des Vaterlandes und der Beredsamkeit. „Die Wissenschaften“, sagt Cicero59-1, „bilden die Jugend und erheitern das Alter. Sie verleihen Glanz im Glück und bieten Zuflucht und Trost im Unglück. Sie erfreuen daheim und belästigen uns nicht außer dem Hause. Sie durchwachen mit uns die Nächte, begleiten uns auf Reisen und wohnen mit uns auf dem Lande. Ja, wären wir auch selbst unfähig, sie zu erlangen oder ihren Zauber recht zu genießen, wir müßten sie doch stets bewundern, wenn wir sie nur bei andren gewahren.“

Möchten die, die so gern eifern, Achtung vor dem lernen, was Achtung verdient, und statt ebenso ehrenhafte wie nützliche Beschäftigungen zu bekritteln, ihre Galle lieber über den Müßiggang ergießen, der aller Lasier Anfang ist. Wie hätte wohl Griechenland in den denkwürdigen Zeiten, da es einen Sokrates, Plato, Aristides, Alexander, Perikles, Thukydides, Euripides und Xenophon hervorbrachte, den hellen Glanz ausgestrahlt, der noch jetzt unsre Augen blendet, wenn Wissenschaften und Künste für die menschliche Gesellschaft nicht notwendig und unentbehrlich wären und ihre Pfiege weder Nutzen noch Annehmlichkeit noch Ruhm brächte? Gewöhnliche Handlungen entschwinden dem Gedächtnis, aber die Taten, Entdeckungen und Fortschritte der Großen hinterlassen bleibenden Eindruck.

Nicht anders war es bei den Römern. Ihr großes Zeitalter war dasjenige, wo der stoische Cato mit der Freiheit unterging, wo Cicero den Verres niederschmetterte und<60> sein Buch von den Pflichten, seine Tuskulanen, sein unsterbliches Werk über die Natur der Götter schrieb, wo Varro seine „Origines“ und sein Gedicht über den Bürgerkrieg verfaßte60-1 wo Cäsar durch seine Milde das Gehässige seiner Gewaltherrschaft aus, löschte, wo Virgil seine Äneis vortrug und Horaz seine Oden dichtete, wo Livius die Namen aller großen Männer, die die Republik ausgezeichnet hatten, der Nachwelt überlieferte. Frage sich ein jeder, zu welcher Zeit er in Athen oder Rom hätte leben mögen, und er wird ohne Zweifel jene glänzenden Epochen wählen.

Auf jene glorreichen Zeiten folgte eine abscheuliche Barbarei. Wilde Völker überschwemmten fast ganz Europa. Sie führten Lasier und Unwissenheit mit sich, die dem übertriebensten Aberglauben die Wege ebneten. Erst nach elf Jahrhunderten der Verdummung konnte die Menschheit sich von jenem Roste reinigen, und in dieser Zeit der Wiedergeburt der Wissenschaften machte man viel mehr Aufhebens von den guten Schriftstellern, die Italien zuerst zierten, als von Leo X., der sie beschützte. Franz I. war neidisch auf ihren Ruhm und wollte ihn teilen. Er machte vergebliche Versuche, die fremden Gewächse in ein Erdreich zu verpflanzen, das für sie noch nicht vorbereitet war. Erst gegen Ende der Regierung Ludwigs XIII. und unter Ludwig XIV. begann für Frankreich das schöne Zeitalter, wo alle Künste und Wissenschaften in gleichem Schritt der höchsten Stufe der Vollendung entgegensirebten, die zu erreichen der Menschheit verstattet ist. Seitdem verbreiteten sich die verschiedenen Künste überall. Dänemark hatte bereits einen Tycho de Brahe erzeugt, Preußen einen Kopernikus, und Deutschland rühmte sich, einen Leibniz hervorgebracht zu haben. Auch Schweden hätte die Liste seiner großen Männer vermehrt, wären nicht die fortwährenden Kriege, in die die Nation damals verstrickt war, dem Fortschritt der Künste schädlich gewesen.

Alle aufgeklärten Fürsten haben Die beschützt, deren gelehrte Arbeiten dem menschlichen Geiste zur Ehre gereichen. In unsren Tagen ist es so weit gekommen, daß eine Regierung in Europa, die die Ermunterung der Wissenschaften im geringsten verabsäumte, binnen kurzem um ein Jahrhundert hinter ihren Nachbarn zurückstehen würde; Polen liefert ein handgreifliches Beispiel dafür. Wir sehen eine große Kaiserin60-2 es sich zur Ehrensache machen, Kenntnisse in ihren weiten Staaten einzuführen und zu verbreiten. Alles, was dazu beitragen kann, wird von ihr als äußerst wichtig behandelt.

Wer fühlte sich nicht bewegt und gerührt, wenn er vernimmt, wie man in Schweden das Gedächtnis eines großen Mannes ehrt? Ein junger König, der den Wert der Wissenschaften kennt, läßt dort gegenwärtig Descartes ein Grabmal errichten, um im Namen seiner Vorgänger die Dankesschuld abzutragen, die sie seinen Talenten<61> schuldeten61-1. Welche süße Genugtuung ist es für die Minerva61-2 die diesem jungen Telemach das Leben geschenkt und ihn selbst unterrichtet hat, in ihm ihren Geist, ihre Kenntnisse und ihr Herz wiederzufinden! Mit Recht darf sie sich ihres Werkes freuen und sich selbst Beifall zollen. Ist es unserm Herzen auch nicht erlaubt, alles, was unser Gefühl uns im Hinblick auf sie einstößt, verschwenderisch auszuschütten, so wird es doch dieser und jeder existierenden Akademie erlaubt sein, ihr die aufrichtigsten Huldigungen darzubringen und sie dankerfüllt unter die kleine Zahl aufgeklärter Fürstinnen aufzunehmen, die die Wissenschaften geliebt und beschützt haben.

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Betrachtungen über die Betrachtungen der Mathematiker über die Dichtkunst (1762)62-1

alle Welt schweigt, übernehme ich Unwürdiger, der Letzte unter den französischen Dichtern, die Verteidigung meiner Brüder in Apoll und ihrer zaubere vollen Kunst gegen die Angriffe der verderblichen Sekte der Mathematiker. Gibt es nichts Besseres zu tun? werden diese in ihrer Bosheit fragen. Vielleicht! kann man ihnen antworten. Aber es gilt die Ehre einer göttlichen Kunst zu rächen. Der Ge> meinsinn, den man als Mitglied der Dichterzunft erlangt, zwingt mich zu handeln und das Schweigen zu brechen, das bei längerer Dauer verbrecherisch würde. Geht es hier doch um einen großen Gegenstand. Indes zur Sache!

Nach der Behauptung der Mathematiker finden Leute, die in ihrer Jugend die Dichtkunst liebten, sie langweilig, wenn sie alt und schwach werden. Schade um sie! Aber was ist damit bewiesen? Worauf wollen die Mathematiker mit ihrer Behauptung hinaus? Ich glaube ihre Absicht zu erraten, und mein Gewissen zwingt mich, sie zu offenbaren. „Die Greise“, so sagen sie, „sind voll Weisheit. Sie sind von den Irrtümern und Vorurteilen der Jugend geheilt, durch lange Erfahrung gewitzigt und genießen die öffentliche Achtung. Wenn wir beweisen, daß die Greise in ihrer Weisheit der Poesie überdrüssig sind, verleugnen wir die Poesie selber. Zugleich beschämen wir alle, die Liebhaber der Poesie sind und für verständig gelten wollen. Dadurch schwächen wir ihren Anhang beträchtlich und belustigen die Leute weidlich mit unsren Kurven, Tangenten, Ellipsen und Parabeln und all unsren Spielsachen, die bisher einen sehr schlechten Absatz fanden.“ Welch eine Verschwörung! Wieviel Langeweile würde sich über die Erde verbreiten, könnten sie ihren Plan zur Ausführung bringen!

Die Dichtkunst ist eine lebendige und harmonische Schilderung aller Dinge der Natur und aller Gefühle unsres Herzens. Ist sie das, so behaupte ich dreist: man<63> kann den Geschmack an ihr nur verlieren, wenn man das seelische Feingefühl verloren hat — wofern man nicht zeitlebens geistig gelähmt war. Die Dichtkunst kann somit nie außer Mode kommen. Sie kann zu einer Zeit mehr blühen als zu einer andren; das hängt von dem Genie oder der Talentlosigkeit ihrer Hüter ab.

Die Sonette, Gedichte mit zwei feststehenden Reimen und andre Versspielereien hat man mit Recht vernachlässigt; denn wenn sie auch gelingen, entspricht ihr Erfolg doch nicht der aufgewandten Mühe. Die Elegie ist mehr im Schwange denn je. Man gibt ihr nur einen andren Namen. Gehört nicht ein Viertel aller guten Tragödien zur elegischen Dichtung? Die Trauerelegie mißfallt durch das Gekünstelte ihrer Gefühle und weil die meisten Dichter zu lange Elegien schreiben, die den Leser ermüden.

Die Gattung der Eklogen ist geteilt worden. Die Landschaftsschilderung führt zu einer Unzahl von reizvollen Einzelbildern, und die Liebe kommt überall zur Darstellung, wo sie in den ältesten Zeiten möglich ist. Die Besitzer großer Herden waren damals die vornehmen Herren, und ihre Troubadoure besangen die Reize des Landlebens. Theokrit, der jenen Zeiten noch nahe stand, schilderte ihre Sitten in seinen Idyllen. Er fand damit Anklang, weil die Griechen die Erinnerung an jene Zeiten noch bewahrten. Virgil ahmte Theokrit nach, und die Römer, die in der griechischen Literatur bewandert waren, fanden Geschmack an ihren Werken, obwohl die Sitten sich bereits sehr verändert hatten. Vollends in unsrem Jahrhundert des Luxus und der Weichlichkeit sind die Sitten zum Gegenteil der holden Schlichtheit geworden, die in jenen alten Zeiten herrschte. Die Hirten, die wir sehen, sind armseliges Volk und durch den beständigen Umgang mit ihren Herden verdummt. Aus ihnen könnte man keine Amaryllis oder Thyrsis63-1 mehr machen, und folglich können sie keine Rolle mehr spielen. Immerhin besitzen wir den „Bach“ von Madame Deshoulières63-2, ein reizendes Gedicht, und wir bedauern die Verehrer der Algebra, daß es nicht die Ehre hat, ihnen zu gefallen.

Die Satire in Versen ist ebensowenig langweilig. Ihr Salz reizt und gefällt; denn der Mensch ist eine boshafte Kreatur. Sie ist freilich gefährlicher als die Prosasatire, da man Verse leichter im Gedächtnis behält. Sie werden zu Sprichwörtern, und wehe dem, den sie verspotten! Die Prosasatire hat den Vorzug, daß sie leichter vergessen wird. Wenn es schon Satiren geben muß, so verträgt sie sich besser mit der Menschlichkeit. Die kleinen Gedichte sind, wenn sie lustig, naiv und liebenswürdig sind, die Träger des harmlosen Scherzes. Sind auch niederträchtige darunter, so bilden die gutartigen doch den Reiz der Geselligkeit.

Aber unsre Mathematiker, die auf dem Saturnring hocken, wissen von alledem nichts. Der Dunst der Gleichungen verschleiert ihnen, was auf der kleinen Erdkugel<64> vorgeht. Das Volk der Reimschmiede ist sehr zu beklagen, daß es von den Kurvenzeichnern zu Boden geschlagen wird. Aber es gibt sich nicht verloren. Es ist vielmehr überzeugt, daß dreißig gute Verse dem Publikum mehr Spaß machen als alle astronomischen Tabellen.

Ich komme nun zu einem andren Trick der kunstfeindlichen Mathematiker. Sie fallen über die mäßigen Dichter her, deren Zahl leider Legion ist, und lassen durchblicken, daß ihr Ansehen sinkt. Daraus wollen sie allgemeine Schlüsse ziehen, die auf den Untergang der ganzen Poesie abzielen. Wie sehr das zutrifft, ergibt sich aus ihrer Erklärung, Virgil habe nicht die Ehre, ihnen zu gefallen. Sie würden wohl noch manche andre angreifen, aber sie fürchten die Lebenden. Nur die Toten beißen nicht. Mögen sie selbst sich in die Algebra vergraben, mögen sie bleich werden über ihren Integralrechnungen, die das Ergötzlichste auf Erden sind. Aber mögen sie auch darauf verzichten, den Krieg in eine Nachbarprovinz zu tragen, deren Sitten und Gesetze sie nicht kennen und in der sie unter dem nichtigen Vorwand, Mißbräuche zu beseitigen, nur alles auf den Kopf stellen würden.

Die Herren Mathematiker möchten die Herren des Menschengeschlechts spielen. Sie berufen sich auf die Vernunft, als hätten sie sie allein gepachtet. Sie reden hochtrabend vom philosophischen Sinne, als könnte man den nicht auch ohne ab minus x und dergleichen Zeug besitzen. Mögen sie sich gesagt sein lassen, daß Verstand in allen Lebenslagen erforderlich ist und daß der Dichter Analyse, Methode und Urteilskraft ebenso nötig hat wie der Rechner.

In der Dichtkunst verschließt sich der Verstand nicht dem Zauber der Einbildungskraft. Ebensowenig verachtet er das Wunderbare, vorausgesetzt, daß es sich in gewissen Grenzen hält. Streng prüft er die Gedanken, die grammatische Richtigkeit, die Fabel, den Knoten, die Entwicklung der Handlung, die Charaktere, wenn solche vorhanden sind, den Aufbau, die Methode und Struktur des Werkes, den Dialog, wenn es ein Drama ist. Aber er überläßt dem Gehör das Urteil über den Wohlklang und dem Geschmack die Entscheidung über gewisse Ausschmückungen, die in einem Lande ergötzen, aber im andren mißfallen. Varignon64-1 gibt keinen Lehrsatz zur Bildung des Gehörs. Duverney64-2 soll bei seinem Seziermesser bleiben, aber Boileau64-3 soll über die Dichter richten. Ein Mathematiker, der bei seinen Berechnungen ein Auge verloren hatte64-4, kam auf den Einfall, ein Menuett nach a plus b zu komponieren. Wäre es vor dem Richterstuhl Apolls gespielt worden, so hätte es dem armen Mathematiker leicht so ergehen können wie Marsyas, dem lebendig Geschundenen.

Die Poesie wirkt belehrend im Epos und im Drama, wo sie große Tugenden und Laster darstellt. Sie wird zur strengen Tadlerin in der Satire. Scherzend bessert sie<65> die Sitten in der Komödie oder hüllt sich mahnend in das Gewand der Fabel. Bei ihr finden wir Erholung, Zerstreuung und Ergötzung. Cicero, der Vater des Vaterlandes und der Beredsamkeit, gesteht65-1, daß er sich des Abends von den Anstrengungen seines Advokatenberufes an den Reizen der Poesie erquickt habe. Die edelsten Geister des Altertums fanden ihren Hochgenuß in ihr. Die Poesie hat verschiedene Gattungen; jede besitzt ihre Vorzüge. Wir wollen keine ausschließen und uns vor den barbarischen Rechenmeistern hüten, die die Zahl unsrer Freuden verringern wollen.

Diese Barbaren messen alles mit der gleichen Elle, den Lehrsatz und das Epigramm. Sie möchten die Ars poetica Boileaus der Algebra unterwerfen, so gut wie die Berechnung der lebendigen Kräfte. Mögen sie sich gesagt sein lassen, daß Gefühl und Genuß sich nicht berechnen lassen. Mögen sie ihren durch das Opium der Integral- und Differentialrechnung betäubten Sinnen mißtrauen. Diese Banausen wähnen uns lächerlich zu machen, indem sie von einem großen Dichter berichten, er habe sich gerühmt, das Wort Perücke in einem Vers angebracht zu haben65-2. Mögen sie nicht erröten, wenn sie erfahren, was sie da so geringschätzig und hochmütig abtun.

Die feinfühlige französische Poesie sieht in gewissen volkstümlichen Worten etwas Gewöhnliches. Kann man sie also durchaus nicht umgehen, so muß man sie umschreiben. Dieser Zwang ist hart, denn man muß einem gewöhnlichen Gedanken eine vornehme Wendung geben. Mit seltenem Geschick hat Racine solche gemeinen Ausdrücke unter kraftvollen Beiwörtern sozusagen versteckt, z. B. in den folgenden Versen:

So liegt sein Leib, von keinem Grab gedeckt,
Zum Fraß den gierigen Hunden hingestreckt 65-3.

Man muß selbst viele Verse gemacht haben, um die große Kunst in der Überwindung der Schwierigkeit voll zu ermessen. Doch was sind Verse für die Despoten des<66> Firmaments! Dieselben Despoten haben — offenbar mit einem unzulänglichen Fernrohr — die Beobachtung gemacht, daß die wahren Dichter fröhlichen Gedanken abhold sind. Ach, sie haben selbst keine, die armen Schlucker, und das gestehen sie ja auch ziemlich gutwillig durch ihre Versicherung, daß alles sie langweilt. Lassen wir sie also nach Herzenslust gähnen, und wäre es im siebenten Himmel, und verzichten wir auf die frohen Gedanken nur in der Tragödie und in der Elegie. Aber so sehr sie auch gähnen, sie lassen es dabei nicht bewenden. Sie wollen uns auch noch das Reich der Mythologie rauben. Doch wir wollen sie mit dem Blitz des gewaltigen Boileau niederschmettern:

Bald ist's verpönt, die Weisheit vorzuführen,
Mit Wag' und Binde Themis zu zitieren66-1.

Sie wollen die alte Mythologie in Bann tun, damit wir uns eine neue ersinnen und uns den frommen Henkern ausliefern, in deren Händen Galilei — einer der ihren — fast umkam. Lassen wir das, meine Brüder, und behalten wir unser Besitztum! Was liegt daran, welcher Alte diese geistreichen Allegorien ersann? Benutzen wir sie mit Verstand und am rechten Orte. Es kommt nur darauf an, sie geschickt anzubringen. Glauben sie etwa, es gäbe neue Gedanken? Da täuschen sie sich. Unser Ideenkreis ist nicht so weit, wie sie wähnen. Neu ist an den meisten Gedanken nur die Form und die Art ihrer Darstellung. Wer uns engere Grenzen zieht, macht uns arm; unsre Kunst braucht Überfluß und Verschwendung. Cicero66-2 wünscht, bei einem angehenden Redner Überschüssiges wegschneiden zu können. Mit Recht. Wir glauben ihm mehr als Euklid, trotz all seiner Gelehrsamkeit. Schon Salomo hat gesagt: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne.“ Er hat sich nicht geirrt, wenn man von einigen metaphysischen Abgeschmacktheiten absieht, von denen schwer zu erraten war, daß der menschliche Geist sie eines Tages aushecken und ein furchtgebietendes System daraus zimmern würde. Aber es kommt noch besser: Leibniz und Newton haben fast gleichzeitig die gepriesene Integralrechnung erfunden. Wenn also zwei Mathematiker sich in den abstraktesten Gedanken begegnen und die andren ewig ihre Kurven berechnen, warum will man uns dann das Recht nehmen, die antike Mythologie zu benutzen? Haben wir darauf nicht den gleichen Anspruch wie auf die Systeme von Newton oder Descartes? Ich wiederhole: unser Gebiet ist die Wirklichkeit und die Welt der Phantasie. Benutzen wir alles und folgen wir dem Beispiel der Natur, die sich in dem, was sie schafft, stets wiederholt, aber nie abschreibt.

Ach, meine Herren Mathematiker, was haben Sie für eine sonderbare Logik! Da Sie Anakreon nichts anhaben können, setzen Sie zunächst die Gattung, in der er gedichtet hat, herab, und dann sagen Sie: das Original darf nicht kopiert werden!<67> Wir Dichter bitten Sie submissest um Verzeihung, wenn Ihre Richtersprüche bei uns so wenig Geltung finden. Sie müssen irgend eine falsche Zahl in Ihre Rechnung eingesetzt haben; denn wenn Eure Hoheiten gütigst erlauben, machen wir Sie darauf aufmerksam, daß ein gewisser Chaulieu und ein Mann namens Gresset besagten Anakreon mit Glück nachgeahmt haben, daß ihre Werke manches Schöne enthalten, auf das Sie kein Auge geworfen haben, kurz, daß Sie von unsren Dichtern reden wie der Blinde von der Farbe. Die Poesie ist keineswegs eine bloße Phantastekunst, sondern eine Kunst der Nachbildung: Ut pictura poesis erit67-1.

Wie gesagt: die Poesie soll alle Gebilde der Natur und alle Regungen des Gemüts malen, soll das Gewaltige mit dem Lieblichen paaren, soll belehren und ergötzen. Und das gelingt den Dichtern, denen die Natur Genie und Talent verliehen hat. Und wenn es schlechten Dichtern wie z. B. mir nicht gelingt, so beweist das nichts gegen die Kunst. Die Schönheit bleibt ihr unzerstörbares Erbteil, auch wenn tausend Chapelains und Pradons67-2 dagegen sündigen.

Nachdem unsre Feinde uns soviel Anlaß zu Klagen gegeben, meine Brüder in Apoll, stellt sich hier ein Grund zur Dankbarkeit ein. Sie geruhen nämlich, die hehren Ausdrücke ihrer erhabenen Wissenschaft auf uns anzuwenden, und beehren uns — vielen Dank dafür — mit Formeln, um uns klarzumachen, daß unsre Formeln in der Prosa abgeschmackt sind. Die Poesie ist die Sprache der Götter und die Prosa die der Lastträger. Da nun so verschiedene Redeweisen auch verschiedene Ausdrücke haben müssen, so sehe ich nicht ein, warum sie sich ereifern. Sollten vielleicht gewählte Worte, wie „zuvor“, „verscheiden“, „Gewaffen“, „Roß und Reisige“, die zur Dichtersprache gehören, nicht in ihren Gleichungen vorkommen? Die Poesie besitzt ohne Zweifel Wendungen, die in der Prosa an anderer Stelle stehen als im Verse. So sagt Voltaire:

Mitrane, ja, geheimer Wink vom Thron
Führt dir Arsazes zu in Babylon67-3.

Der Prosaiker würde sagen: „Auf geheimen Befehl des Königs sollst du Arsazes in Babylon freien.“ Sollten wir aber nicht die Ehre haben, die Herren recht zu verstehen, so bitten wir sie inständigst, uns ihre erhabenen Gedanken klarzumachen, da wir sie sonst für dunkel halten müßten. Die Poesie hat ihre Regeln und die Prosa desgleichen, genau wie Athen und Sparta ihre Gesetze hatten, die dem Geiste des Volkes, für das sie geschaffen worden, angepaßt waren. Vielleicht aber wollten die neuen Gesetzgeber uns nur darüber belehren, daß die Regeln der Prosa andere sind als<68> die unsren. In diesem Falle danken wir ihnen für die ebenso neue wie tiefe Bemerkung, mit der sie uns beehren. Allerdings erinnere ich mich, schon so etwas gehört zu haben, und täuscht mich mein Gedächtnis nicht — denn ich bin nicht unfehlbar —, so ist das ein Diebstahl an Vaugelas68-1, den sie bei aller ihrer mathematischen Würde begangen haben. Nun aber frage ich sie: ist's ein Verbrechen, wenn die Poesie vor der Prosa den Vorrang hat? Dann müßte ja auch eine Melodie in drei Takten für schlecht gelten, weil sie nicht in vier Takten komponiert ist. Zum Glück denken wir nicht so, oder — wie man uns wohl vorwerfen könnte — wir sind keine Mathematiker und haben keine Ahnung davon, was philosophischer Geist ist. Die Mathematiker aber dürfen sich so viel Paradorien leisten, wie sie wollen. Jede Sophisterei wird durch den mathematischen Sinn sanktioniert.

Eine neue Entdeckung: sie machen uns darauf aufmerksam, daß der Geschmack an der Ode erkaltet. Dann wollen wir ihn doch wieder aufwärmen! Indes prüfen wir erst einmal, ob das zutrifft. Ich sehe Horaz und Rousseau68-2 in aller Händen; geistvolle Leute finden ihren Hochgenuß daran. Die Herren Mathematiker haben die Antwort bereit: „Schade um die Leute! Sie haben keinen philosophischen Sinn.“ Das ist der Kern des ganzen Streites, und diese Formel führt zu bündigen Schlüssen.

Unsre neuen Schulmeister dozieren: die Ode muß von Anfang bis zu Ende erhaben sein. Bitte lesen Sie doch die Abhandlung über das Erhabene von Longinus68-3, die Sie sicherlich nicht kennen. Aber solche raschen Richtersprüche haben etwas Imponierendes, das Sie mehr befriedigt als die Erörterung von so kindischem Zeug. Wollten wir es uns indes herausnehmen, Sie unsrerseits zu schulmeistern, so würden wir Ihnen submissest vorhalten, daß es mehr als eine Art von Oden gibt. Es gibt Pindarische, die man mit erhabenen Gedanken so vollpfropft, wie man kann, und andre, weniger erhabene, die auch ihren Reiz besitzen. Kurz, bei uns muß der Stil dem Gegenstand entsprechen. Wir ziehen alle Register des Pathos auf, wenn wir Zeus die Titanen stürzen lassen. Wir setzen einen Dämpfer auf, wenn Apoll die Daphne verfolgt, und stimmen unsren Sang vollends auf piano bei der Geschichte des Argus. Welcher Aufwand von Bescheidenheit! Unsre kurvenzeichnenden Despoten gestehen, sie wüßten nicht, was die schöne Regellosigkeit der Ode sei. Daraus schließe ich, daß es mit ihrer Kenntnis in der Poetik auch sonst nicht weit her ist. Um Ihnen jedoch die schöne Regellosigkeit der Ode klarzumachen, so gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, daß Apollo ehedem seine Orakel durch den Mund einer Priesterin, der Pythia, verkündete. Die geriet in Ekstase und stieß die heiligen Worte begeistert hervor. Man nimmt nun an, der Dichter sei gleich ihr des Gottes voll. Sein verzückter Geist überspringt die verbindenden Gedanken, die zur Verkettung der gewöhnlichen<69> Rede dienen und die der denkende Leser sich leicht ergänzt. Seine Begeisterung stürmt zu den Kraftsiellen, und der Rest fällt als nebensächlich fort, da er nicht stracks zum Ziele führt. So drücken seine sich überstürzenden Worte nur das Wichtigste aus. Aber diese gesteigerte Sprache läßt sich auf die Dauer nicht durchhalten. Verständige Dichter schleudern sie nur wie Blitzstrahlen; dann dämpfen sie den Ton, weil alles sehr Leb, hafte kurz sein muß, just wie die tiefsten Wonnen der Menschheit.

Dürften wir wohl fragen, was ein Schüler der Logik von der folgenden Beweisführung halten würde: „Es sind schlechte Oden gedichtet worden, folglich hat der Geschmack sich von der Ode abgewandt.“ Er würde doch erkennen, daß der Geschmack sich nicht von der Ode, sondern nur von den schlechten Oden abwendet!

Kurz, unsre Gesetzgeber kommen mit der Sprache heraus und veröffentlichen ihre Gesetze: Wir danken ihnen! Offenbar machten Racine, Boileau und Voltaire regellose Verse, und für die Zukunft mußte eine Regel festgesetzt werden. Aber die Herren sagen ja nur Wohlbekanntes. Vielleicht gestatten sie uns eine Erklärung über gewisse Dinge, in die tiefer einzudringen sie sich offenbar nicht die Zeit genommen haben. Der Vers soll ebenso natürlich und grammatisch korrekt sein wie die beste Prosa. Das ist das große Verdienst Racines, durch das er seinen Ruf so lange behalten wird, wie die französische Sprache nicht entartet. Aber damit isi doch nicht gesagt, daß die Poesie keine Ausnahmen zuließe und daß man sie genau so beurteilen müßte wie die Prosa. Die Ellipse isi in der Poesie eine Schönheit. Wie fein sagt Racine:

Lieb war er mir im Unbestand. Was galt mir Treue?69-1

So spricht Hermione in einem Augenblick der Leidenschaft. In Prosa müßte es unbedingt heißen: „Was lag mir an seiner Treue?“ Nach den Regeln der Despoten wäre dieser Vers Racines also nichts wert. Daraus schließe ich, daß ungerechte Gesetze nichts taugen, und schließe ich falsch, dann sieht man's ja: ich habe keinen philosophischen Sinn.

Von einem Dichter verlangt man richtiges Denken, stete Eleganz und Harmonie, Zusammenhang und Aufbau der Gedanken, einen dem Gegenstand angemessenen Stil, Anmut, Reichtum und Mannigfaltigkeit, vor allem aber die Kunst, zu fesseln. Das alles sind Gaben der Natur, die man Genie und Talent nennt, die sich durch Studium der guten Autoren vervollkommnen und durch Geschmack verfeinern lassen. Wir wagen zu behaupten: wem immer diese Himmelsgaben verliehen wurden, der bedarf keines PrivUegs von unsren Despoten, um Leser und Bewunderer zu finden. Diese wahrhaft göttlichen Gaben sind bei allen zivilisierten Völkern und in allen<70> Zeitaltern so selten, daß die Namen derer, die sie besaßen, das Gedächtnis der Kunstfreunde nie beschweren werden. Vielleicht könnte man hinzufügen: die Mathematiker waren verbreiteter; denn mit Fleiß und rein mechanischer Kunstfertigkeit kann jedermann Kurven berechnen. Doch wir hüten uns, eine so waghalsige und ketzerische Behauptung aufzustellen, und begnügen uns mit der Versicherung, daß die Dichtkunst das größte Genie im Bunde mit mächtiger, aber geregelter Einbildungskraft erfordert.

Ich zitterte schon, als ich die neuen mathematischen Gesetze für die Poesie las, und fürchtete nicht ohne Grund, die Gesetzgeber möchten sich's beikommen lassen, den Reim zu verpönen und an seiner Statt Zahlen an die Versenden setzen, die der Silbenzahl entsprechen. Das hätte sie mit der Poesie vielleicht wiederausgesöhnt, und sie hätten die Verse dann von Rechts wegen durch Zahlen und Berechnungen unterjocht. Aber zum Glück sind sie nicht auf den Einfall gekommen. Sie waren so gütig, den Reim gutzuheißen, ja ihn für den französischen Versbau als notwendig zu fordern.

Es demütigt uns, daß sie ihre Gesetze so trocken verkünden, ohne sie zu begründen. Wir durften hoffen, sie würden mit ihrem philosophischen Sinn die Frage ergründen, ob der Reim oder das Versmaß unsre Alexandriner eintönig macht. Fällt beim Lesen solcher Verse auf die Dauer etwas zur Last, so ist es die ewige Wiederkehr des gleichen Rhythmus, ein Mißstand, dem sich durch wechselnde Versmaße leicht abhelfen ließe. Wir wähnten, unsre Schulmeister hätten irgend eine physikalische, aus der sinnlichen Wahrnehmung abgeleitete Betrachtung über den Reim angestellt und damit die Meinung des größten zeitgenössischen Dichters bestätigt. Denn der Maler und Bildhauer schafft für das Auge, der Dichter und Musiker aber für das Gehör. Jeder Künstler gehört vor den Richterstuhl des Sinnes, für den er schafft. Also haben die Ohren und nicht die Augen über den Reim zu entscheiden. Allein die Mathematiker würden sich etwas zu vergeben meinen, wenn sie zu solchen Kleinigkeiten herabstiegen. Das hieße ja, Milben mit der Keule des Herkules erschlagen.

Dieselben Herren wollen die Poesie aus der Musik verbannen und sie durch rhythmische Prosa ersetzen. Wir haben Anlaß zu glauben, daß sie ob der Harmonie der Sphären in Verzückung geraten waren, als ihnen dieser Gedanke entfuhr. Nicht Prosa braucht die Musik, sondern, wenn es doch gesagt werden muß, Verse mit männlichen Reimen. Da wir aber keine despotischen Gesetze erlassen, müssen wir unsre Meinung begründen. Beim Sprechen verletzt das stumme e das Ohr nicht; denn im Französischen liegt der Ton nicht auf der letzten Silbe. Nicht so bei der Musik. Die Note, die zur letzten Silbe gehört, muß betont werden, und durch diese Dehnung wirkt das an sich stumme e unangenehm und verletzend.

Unsre Mathematiker führen uns nun zum zweitenmal ihren Greis vor, offenbar ihr Lieblingsargument! Prüfen wir es aufmerksam und sehen wir zu, ob es tat<71>sächlich gegen die Poesie spricht. Um zu beweisen, daß die Poesie nur eine seichte Kurzweil sei, müßte jeder Mensch auf Erden in einem bestimmten Alter den Geschmack an der Poesie verlieren, wie die Kinder ihre Puppen nicht mehr mögen, ohne daß ein äußeres Motiv hinzuträte. Wenn es aber in Pais ein paar faselnde Greise, Misanthropen, Hypochonder, Kranke, Gelähmte und Schlagflüssige gibt: was beweist das? Doch nur, daß ein kranker und grämlicher Greis die Freuden seiner Jugend nicht mehr zu genießen vermag! Wenn ein Pascal, ein Malebranche die Poesie nicht liebten und beide großen Männer sie wie Dummköpfe beurteilten, so beweist das doch nur, daß man Unsinn redet, wenn man seine Sache nicht versieht, und daß es eine große Lehre für die Menge, ja selbst für die Philosophen ist, sich über alles zu unterrichten, bevor man urteilt. Uns ist es daher sehr recht, wenn alle Greise, die ihre seelische Spannkraft eingebüßt haben, keine Verse mehr lesen und Mathe, matiker werden.

Unser Gesetzgeber scheint bisweilen milder zu werden. Racine findet Gnade vor ihm; aber warum behandelt er die guten Stücke von Corneille nicht ebenso, und Boileau, den wahren Gesetzgeber des Parnasses, und Rousseau, den französischen Horaz? La Fontaine scheint mehr zu taugen als die übrigen. Aber hier enthüllen sich wieder die unheilvollen Absichten der Mathematiker. Nachdem sie mathematisch sirenge Gesetze erlassen haben, verfallen sie darauf, La Fontaines liebenswürdige Nachlässigkeit als Muster hinzustellen. Die Dialektik der Algebraiker ist fürwahr unverständlich für uns arme Poeten, die wir nach den gewöhnlichen Regeln der Logik denken.

Doch zitieren wir ihre eignen Worte: „Der Geist will vom Dichter stets ergötzt werden, will aber zugleich ausruhen können. Das findet er bei La Fontaine, dessen Nachlässigkeit ihren eignen Reiz hat, um so mehr, als sein Gegenstand es erfordert.“ So ruht sich der Geist der Mathematiler in den Nachlässigkeiten der Dichter aus, und es gibt Gegenstände, die nachlässige Dichter erfordern! Das nenne ich philosophische Urteile! Es ist klar, daß die Herren uns zum besten haben und auf dem Parnaß nur regieren wollen, um dort alles in Aufruhr zu versetzen und auf den Kopf zu stellen. Langweilen sie sich bei VirgU, so geschieht es, um ihn anzuschwärzen und uns weiszumachen, daß sein Ruf sich nur auf ein Vorurteil der Schulweisheit gründet. Loben sie Tasso, so geschieht es, weil es, nachdem Virgil abgefertigt ist, nur zweier Federstriche bedarf, um Tassos Abgeschmacktheiten an den Tag zu legen und ihm gleichfalls den Garaus zu machen. Und wenn es keine Dichtung mehr gibt, wird sich die Welt mit Kurven aller Art die Zeit vertreiben. Die Damen werden bei ihrer Toilette das Vorrücken der Tag- und Nachtgleiche berechnen. Das Boudoirgeplauder wird sich um Einfalls- und Reflexionswinkel, Kegelschnitte und alle Algebra der Welt drehen. Trotzdem wage ich unsren kurvenzeichnenden Gesetzgebern vorherzusagen, daß diese glückliche Zeit nie kommen, oder wenn sie kommt, nicht lange währen wird. Als Bürger des Weltenraumes kennen sie die Menschen nicht. Man<72> erwiese uns einen schlechten Dienst, wenn man uns die Poesie und ihre Freuden vergällte, und bestünden sie auch nur aus Trug und Irrtum, wenn man uns eine holde Kunst raubte, die unsre Sitten mildert, uns tröstet, den Geist erhebt und uns zerstreut.

Übrigens verlangen wir nicht von allen den gleichen Geschmack. Wir zwingen die Freunde der Poesie nicht, einen Dichter einem andern vorzuziehen. Wir finden es vielmehr ungerecht, seinen eignen Geschmack der Welt als allgemeines Gesetz vorzuschreiben.

Oh, meine Brüder in Apoll! An Euch wende ich mich nun, nachdem ich alle Listen und Fallstricke offenbart habe, mit denen unsre Feinde uns verderben wollen. Ihr seht, die Mathematiker wollen den Krieg in unser Land tragen, wollen uns das Reich der Mythologie rauben. Rüsten wir uns beizeiten zur Abwehr. Machen wir es wie die Römer, denen es durch Scipios Zug nach Afrika gelang, Hannibals Krieg auf karthagisches Gebiet hinüberzuspielen. Tragen wir gleichfalls den Krieg in Feindesland. Man wirft uns vor, wir schmückten uns mit den Federn der Mythoslogie. Beweisen wir ihnen, daß auch ihr Newton ein Plagiator ist. Er hat seine Berechnung der Planetenbewegung von Huyghens72-1 entlehnt, die Anziehung durch plastische oder geheime Kräfte von den Neuplatonikern72-2, den Begriff des Leeren von Epikur. Er hat dem Nichts ein Dasein gegeben und was schlimmer ist, das Nichts ausgemessen. Die Sache verhält sich so. Alle Planeten schweben im Leeren. Der Abstand zwischen zwei Planeten ist berechnet, z. B. auf drei Millionen Meilen von der Erde zum Jupiter. Damit sind also drei Millionen Nichtse berechnet. Was man aber berechnet, existiert, also kann das Nichts existieren. Durch solche Angriffe werdet Ihr sie zwingen, Euch den Frieden anzubieten, und es soll zur Bedingung gemacht werden, daß fortan jedermann nur von dem reden darf, was er versieht, und sich wohl hüten muß, den Künsten Gesetze vorzuschreiben, bevor er seinen Gegenstand kennt, daß die Architekten beim Bau eines Hauses nicht mit dem Dach, sondern mit den Fundamenten beginnen sollen, und daß man Geschichte nur nach der chronologischen Reihenfolge und nicht umgekehrt studieren darf.

Ich für mein Teil erkläre, daß ich auf meine alten Tage die Poesie ebenso leidem schaftlich liebe wie in meiner Jugend, und ich bitte Apollo, er möge mich gnädig in dem wahren und orthodoxen poetischen Glauben erhalten, den Homer uns gelehrt, Virgil ausgebaut, Horaz erklärt und kommentiert hat, dessen Apostel Tasso, Petrarca,<73> Ariost, Milton, Boileau, Racine, Corneille, Voltaire und Pope waren und der durch ununterbrochene Überlieferung bis auf uns gekommen ist. In diesem Glauben will ich leben und sterben, auf daß meine Seele nach meinem Tode zur Schar der erwählten seligen Geister eingehen möge, die im Elysium wohnen.

<74>

Über die deutsche Literatur
Die Mängel, die man ihr vorwerfen kann, ihre Ursachen und die Mittel zu ihrer Verbesserung (1780)74-1

Sie wundern sich, mein Herr, daß ich nicht in Ihren Beifall über die Fortschritte einstimme, die nach Ihrer Meinung die deutsche Literatur täglich macht. Ich liebe unser gemeinsames Vaterland ebensosehr wie Sie, und darum hüte ich mich wohl, es zu loben, bevor es Lob verdient. Das hieße ja einen Wettläufer mitten im Laufe als Sieger ausrufen. Ich warte, bis er sein Ziel erreicht hat. Dann wird mein Beifall ebenso aufrichtig wie wahr sein.

Wie Sie wissen, herrscht in der Gelehrtenrepublik Meinungsfreiheit. Sie haben Ihren Standpunkt und ich den meinen. Gestatten Sie also, daß ich Ihnen meine Denkweise und meine Ansichten über die alte und neue Literatur darlege, sowohl in Bezug auf die Sprache wie auf die Kenntnisse und den Geschmack.

Ich beginne mit Griechenland, als der Wiege der schönen Künste. Die Griechen besaßen die wohllautendste Sprache, die es je gegeben hat. Ihre ersten Theologen, ihre ersten Geschichtsschreiber waren Dichter. Sie gaben der Sprache glückliche Wem dungen, schufen eine Fülle malerischer Ausdrücke und lehrten ihre Nachfolger, sich mit Grazie, Höflichkeit und Anstand ausdrücken.

Von Athen gehe ich nach Rom. Dort finde ich eine Republik, die lange gegen ihre Nachbarn ringt, die um Ruhm und Herrschaft kämpft. Alles im römischen Staate war Nerv und Kraft. Erst nach der Niederwerfung seiner Nebenbuhlerin Karthago bekam Rom Geschmack für die Wissenschaften. Der große Africanus74-2, der Freund des Laelius und Polybios, war der erste Römer, der die Wissenschaften schirmte. Nach ihm kamen die Gracchen, dann Antonius und Crassus, zwei zu ihrer Zeit berühmte Redner. Kurz, die Sprache, der Stil, die römische Beredsamkeit gelangten zur Vollendung erst in der Zeit des Cicero und Hortensius und durch die Schöngeister, die das augusteische Zeitalter zierten.

Diese kurze Übersicht zeigt mir den Gang der Dinge. Ich bin überzeugt, daß ein Autor nicht gut zu schreiben vermag, wenn die Sprache, die er spricht, nicht geformt<75> und geschliffen ist. Ich sehe, daß man in allen Ländern mit dem Notwendigen beginnt und erst später das Angenehme hinzufügt. Die römische Republik entsteht; sie kämpft um die Eroberung von Ländern und kultiviert sie. Sobald sie nach den Punischen Kriegen feste Gestalt gewonnen hat, stellt sich der Geschmack an den Künsten ein; die lateinische Sprache und Beredsamkeit vervollkommnen sich. Allein ich übersehe nicht, daß zwischen dem ersten Africanus und Ciceros Konsulat eine Zeitspanne von hundertsechzig Jahren liegt.

Daraus schließe ich, daß die Fortschritte in allen Dingen langsam sind, und daß der Kern, den man in die Erde legt, erst Wurzel schlagen, wachsen, seine Zweige ausbreiten und kräftig werden muß, bevor er Blüten und Früchte hervorbringt.

Nach dieser Regel untersuche ich nun Deutschland, um die gegenwärtige Lage richtig zu beurteilen. Ich reinige meinen Geist von allen Vorurteilen: die Wahrheit allein soll mir leuchten. Ich finde eine halbbarbarische Sprache, die in ebenso viele Mundarten zerfällt, als Deutschland Provinzen hat. Jeder Kreis bildet sich ein, seine Redeweise sei die beste. Es gibt noch keine von der Nation anerkannte Sammlung einer Auswahl von Wörtern und Ausdrücken, die die Reinheit der Sprache feststellt. Was man in Schwaben schreibt, wird in Hamburg nicht verstanden, und der österreichische Stil erscheint den Sachsen dunkel. Aus diesem äußeren Grunde ist ein Schriftsteller auch bei der schönsten Begabung außerstande, diese rohe Sprache in vorzüglicher Weise zu handhaben. Verlangt man von einem Phidias, er solle eine knidische Venus bilden, so gebe man ihm einen fehlerlosen Marmorblock, feine Meißel und gute Spitzhämmer. Dann kann es ihm gelingen: ohne Werkzeuge keine Künstler.

Vielleicht wird man mir einwenden, daß die griechischen Republiken einst ebenso viele verschiedene Mundarten hatten wie wir. Man wird hinzufügen, daß man selbst in unsren Tagen die engere Heimat der Italiener an Stil und Aussprache erkennt, die von Landschaft zu Landschaft wechseln. Ich zweifle diese Wahrheiten nicht an, aber das darf uns nicht hindern, den Verlauf der Tatsachen im alten Griechenland wie im modernen Italien zu verfolgen. Die berühmten Dichter, Redner und Geschichtsschreiber stellten die Sprache durch ihre Schriften fest. Das Publikum übernahm durch stillschweigende Übereinkunft die Wendungen, Ausdrücke und Bilder, die die großen Künstler in ihren Werken geprägt hatten. Diese Ausdrücke wurden Allgemeingut. Sie verfeinerten, bereicherten und veredelten jene Sprachen.

Werfen wir nun einen Blick auf unser Vaterland. Ich höre ein Kauderwelsch reden, dem jede Anmut fehlt, das jeder nach seiner Laune handhabt. Die Ausdrücke werden wahllos angewandt, die treffendsten und bezeichnendsten Wörter vernachlässigt, und der eigentliche Sinn ertrinkt in einem Meere von Beiwerk.

Ich stelle Nachforschungen an, um unsern Homer, unsern Virgil, Anakreon und Horaz, unsern Demosthenes, Cicero, Thutydides und Livius auszugraben. Ich finde nichts, meine Mühe ist umsonst. Seien wir also aufrichtig und gestehen wir uns ehrlich: die schönen Künste sind auf unserm Boden bisher nicht gediehen. Deutschland<76> hat Philosophen hervorgebracht, die den Vergleich mit den alten aushalten, ja, sie in mehr als einer Hinsicht übertroffen haben. Ich behalte mir vor, in der Folge darauf zurückzukommen.

Was die schöne Literatur angeht, so wollen wir unsre Armut nur ruhig zugeben. Alles, was ich Ihnen einräumen kann, ohne mich zum niedrigen Schmeichler meiner Landsleute zu machen, ist dies: Wir haben in der kleinen Gattung der Fabeln einen Gellert gehabt, der sich neben Phädrus und Äsop zu stellen gewußt hat. Die Dichtungen von Canitz76-1 sind erträglich, nicht wegen ihrer Diktion, sondern eher als schwache Nachahmung des Horaz. Nicht übergehen will ich die Idyllen von Geßner76-2, die einige Anhänger gefunden haben. Erlauben Sie mir jedoch, den Werken des Catull, Tibull und Properz den Vorzug zu geben.

Gehe ich die Historiker durch, so finde ich nur die deutsche Geschichte von Professor Mascov76-3, die ich als die wenigst unvollständige anführen kann. Soll ich ehrlich vom Verdienst unsrer Redner sprechen? Da kann ich nur den berühmten Quandt76-4 aus Königsberg vorführen, der das seltene und einzige Talent besaß, seiner Sprache Wohllaut zu verleihen. Und ich muß zu unsrer Schande hinzufügen, daß sein Verdienst weder anerkannt noch gefeiert wurde. Wie kann man von den Menschen verlangen, daß sie sich Mühe geben, sich in ihrem Fache zu vervollkommnen, wenn der Ruhm nicht ihr Lohn ist?

Ich füge zu den Genannten noch einen anonymen Autor hinzu, dessen ungereimte Verse ich las76-5. Ihr Tonfall und Wohlklang kam von einem Gemisch von Daktylen und Spondäen. Sie hatten Sinn und Verstand, und mein Ohr wurde angenehm berührt von wohlklingenden Lauten, die ich unsrer Sprache nicht zugetraut hätte. Ich gestatte mir die Vermutung, daß diese Art des Versbaus für unsre Sprache vielleicht die angemessenste und überdies dem Reim vorzuziehen ist. Wahrscheinlich würde man Fortschritte machen, wenn man sich die Mühe gäbe, sie auszubilden.

Vom deutschen Theater will ich garnicht reden. Melpomene ist nur von sehr rauhen Liebhabern umworben worden. Die einen liefen auf Stelzen, die andern krochen im Schlamme, aber alle verstießen gegen ihre Gesetze. Sie wußten weder zu fesseln noch zu rühren und wurden von ihren Altären gestürzt. Thaliens Liebhaber waren glücklicher. Sie haben uns wenigstens ein wirkliches, bodenwüchsiges Lust<77>spiel geliefert: den „Postzug“.77-1 Es sind unsre Sitten, unsre Lächerlichkeiten, die der Dichter da auf der Bühne bloßstellt. Das Stück ist gut gearbeitet. Hätte Molière das gleiche Thema bearbeitet, er hätte es nicht besser machen können.

Es tut mir leid, Ihnen kein größeres Verzeichnis unsrer guten Erzeugnisse vorlegen zu können. Ich klage die Nation deshalb nicht an: es fehlt ihr weder an Geist noch an Talent, aber äußere Ursachen verhinderten sie daran, sich mit ihren Nachbarn zugleich emporzuschwingen.

Gehen wir, wenn es Ihnen gefallt, bis zur Wiedergeburt der Künste und Wissenschaften zurück, und vergleichen wir die Lage Italiens, Frankreichs und Deutschlands zur Zeit jener Umwälzung des menschlichen Geistes.

Wie Sie wissen, stand ihre Wiege wieder in Italien. Das Haus Este, die Medizäer und Papst Leo X., die sie beschützten, trugen zu ihren Fortschritten bei. Während Italien sich kultivierte, zerfiel Deutschland, durch Theologen verhetzt, in zwei Parteien, die sich durch ihren Haß aufeinander, durch Schwärmerei und Fanatismus hervortaten. Zur selben Zeit versuchte Franz I. von Frankreich, sich mit Italien in den Ruhm zu teilen, zur Wiederherstellung der Künste und Wissenschaften beizutragen. Er erschöpfte sich in vergeblichen Anstrengungen, sie in sein Land zu verpflanzen: seine Bemühungen blieben fruchtlos77-2. Die Monarchie war durch das Lösegeld erschöpft, das sie für ihren König an Spanien zahlen mußte77-3, und befand sich in einem Zustande der Entkräftung. Die Kriege der Ligue, die nach dem Tode Franz' I. ausbrachen, hinderten die Bürger, sich den schönen Künsten zu widmen. Erst gegen Ende der Regierungszeit Ludwigs XIII., als die Wunden der Bürgerkriege verheilt waren, unter dem Ministerium des Kardinals Richelieu, in einer Zeit, die dem Unternehmen günstig war, nahm man den Plan Franz' I. wieder auf. Der Hof ermunterte die Gelehrten und Schöngeister. Alles wurde von Wetteifer ergrissen, und bald darauf, unter Ludwig XIV., stand Paris weder Rom noch Florenz nach.

Was geschah damals in Deutschland? Gerade als Richelieu sich durch die Geschmacksbildung seiner Nation mit Ruhm bedeckte, tobte der Dreißigjährige Krieg. Deutschland wurde von zwanzig verschiedenen Heeren verwüstet und geplündert, die bald siegreich, bald unterliegend, Not und Elend verbreiteten. Das Land war verheert, die Felder lagen brach, die Städte waren fast menschenleer. Nach dem Westfälischen Frieden fand Deutschland keine Zeit, sich zu erholen. Bald kämpfte es gegen die Macht des türkischen Reiches, das damals sehr furchtbar war. Bald widerstand es den französischen Heeren, die Germanien überschwemmten und das Reich der Gallier vergrößern wollten. Als die Türken Wien belagerten (1683) oder Mélac die Pfalz verwüstete (1689), als die Flammen Häuser und Städte in Asche legten, als die wilde Zügellosigkeit der Soldateska selbst das Asyl des Todes entweihte und<78> die toten Kaiser aus ihren Gräbern78-1 riß, um sie ihrer elenden Hüllen zu berauben, als verzweifelte Mütter sich mit ihren verhungerten Kindern im Arm aus den Trümmern der Heimat retteten — sollte man da zu Wien oder Mannheim Sonette dichten oder Epigramme machen? Die Musen verlangen ruhige Heimstätten. Sie fliehen die Orte, wo Verwirrung herrscht und alles zusammenstürzt. Wir fingen daher erst nach dem Spanischen Erbfolgekrieg an, das wiederherzustellen, was wir durch eine solche Kette von Mißgeschicken verloren hatten. Die geringen Fortschritte, die wir gemacht haben, fallen also weder dem Geist noch den Talenten der Nation zur Last. Wir dürfen sie nur einer Reihe unseliger Umstände zuschreiben, einer Verkettung von Kriegen, die uns zugrunde gerichtet, uns an Menschen und Geld arm gemacht haben.

Verlieren Sie den Faden der Ereignisse nicht. Folgen Sie unsren Vätern auf ihrem Wege, und Sie werden ihrem weisen Benehmen Beifall zollen. Sie haben genau so gehandelt, wie es sich in ihrer Lage gebührte. Sie haben sich zunächst der Landwirtschaft zugewandt, haben die Felder, die aus Mangel an Arbeitskräften unbestellt dalagen, wieder ertragfähig gemacht, die zerstörten Häuser aufgebaut, die Fortpflanzung aufgemuntert. Überall ging man emsig an die Urbarmachung brachliegenden Landes. Die zunehmende Bevölkerung erzeugte den Gewerbfleiß. Selbst der Luxus, der in kleinen Staaten eine Geißel ist, aber den Geldumlauf großer Reiche vermehrt, hat sich eingestellt. Kurz, reisen Sie jetzt in Deutschland, durchziehen Sie es von einem Ende zum andern, so werden Sie auf Ihrem Weg überall Flecken in blühende Städte verwandelt sehen, hier Münster, weiterhin Kassel, dort Dresden und Gera78-2. In Franken finden Sie Würzburg und Nürnberg. Auf dem Wege nach dem Rhein kommen Sie nach Fulda und Frankfurt, und weiterhin nach Mannheim, Mainz und Bonn. In jeder dieser Städte findet der erstaunte Reisende Bauten, die er im Hercynischen Walde wohl nicht anzutreffen glaubte. Die mannhafte Tatkraft unsrer Landsleute hat sich also nicht darauf beschränkt, die durch früheres Unglück erlittenen Verluste zu ersetzen. Sie strebte höher hinaus und verstand das zu vollenden, was unsre Vorfahren begonnen hatten.

Seit diesen vorteilhaften Veränderungen sehen wir den Wohlstand allgemeiner werden. Der dritte Stand schmachtet nicht mehr in schmählicher Erniedrigung. Die Väter können den Unterricht ihrer Kinder bestreiten, ohne sich in Schulden zu stürzen. Das sind die Grundlagen der glücklichen Umwälzung, die wir erwarten. Die Fesseln, die den Geist unsrer Vorfahren ketteten, sind zerbrochen. Schon merkt man, daß die Saat edlen Wetteifers in den Geistern aufkeimt. Wir schämen uns, unsren Nachbarn in manchem nicht gleichzustehen. Mit unermüdlicher Arbeit streben wir danach, die Zeit wieder einzuholen, die wir durch unser Mißgeschick verloren haben. Im allgemeinen ist der nationale Geschmack entschieden für alles, was unsrem Vaterlande zum Ruhm<79> gereichen kann. Bei solcher Gesinnung liegt es fast auf der Hand, daß die Musen auch uns in den Tempel des Ruhmes einführen werden.

Prüfen wir also, was uns zu tun übrig bleibt, um aus unsren Feldern das letzte Dorngestrüpp der Barbarei auszurotten und die so erwünschten Fortschritte zu beschleunigen, nach denen unsre Landsleute sireben.

Wie ich schon sagte: man muß damit anfangen, die Sprache zu vervollkommnen. Sie muß gehobelt und gefeilt, muß von geschickten Händen geformt werden. Klarheit ist die erste Regel für alle, die reden und schreiben wollen, da sie ja ihre Gedanken veranschaulichen, ihre Ideen durch Worte ausdrücken müssen. Was helfen die richtigsten, stärksten, glänzendsten Gedanken, wenn man sich nicht verständlich machen kann? Viele unsrer Schriftsteller gefallen sich in weitschweifigem Stil. Sie häufen Einschaltung auf Einschaltung, und oft findet man das Zeitwort, von dem der Sinn des ganzen Satzes abhängt, erst am Ende der Seite. Nichts verdunkelt den Satzbau mehr. Sie sind weitläufig, wo sie reich sein sollten. Das Rätsel der Sphinx läßt sich leichter erraten als ihre Gedanken.

Etwas andres schadet dem Fortschritt der Literatur ebensosehr wie die Mängel, die ich unsrer Sprache und dem Stil unsrer Schriftsteller vorwerfe, nämlich das Fehlen guter Studien. Unser Volk wurde der Pedanterie beschuldigt, weil wir eine Menge kleinlicher und schwerfälliger Kommentatoren gehabt haben. Um sich von diesem Vorwurf zu reinigen, fängt man an, das Studium der gelehrten Sprachen zu vernachlässigen. Um nicht für pedantisch zu gelten, ist man drauf und dran, oberfiächlich zu werden. Wenige von unsren Gelehrten können mühelos die klassischen Autoren, griechische wie lateinische, lesen. Will man aber sein Ohr am Wohllaut Homerischer Verse bilden, so muß man sie fließend lesen können, ohne Beihilfe eines Wörterbuches. Ein gleiches gilt für Demosthenes, Aristoteles, Thukydides und Plato. Auf dieselbe Weise muß man sich mit den lateinischen Autoren vertraut machen. Die heutige Jugend befaßt sich fast garnicht mehr mit dem Griechischen, und wenige lernen Latein genug, um die Werke der großen Schriftsteller, die Zierden des augusteischen Zeitalters, mittelmäßig übersetzen zu können. Und doch sind das die reichen Quellen, aus denen die Italiener, Franzosen und Engländer, unsre Vorgänger, ihre Kenntnisse geschöpft haben. An diese großen Vorbilder haben sie sich soviel wie möglich gehalten und von ihnen denken gelernt. Aber bei aller Bewunderung der großen Schönheiten, von denen die Werke der Alten wimmeln, sind ihnen auch deren Mängel nicht entgangen. Bei aller Hochschätzung soll man Kritik üben und niemals in blinde Schmeichelei verfallen.

Die schönen Tage, die Italiener, Franzosen und Engländer vor uns genossen haben, beginnen jetzt merklich abzunehmen. Das Publikum ist gesättigt von den bereits erschienenen Meisterwerken. Die Kenntnisse werden seit ihrer größeren Verbreitung weniger geachtet. Kurz, diese Völker glauben sich im Besitze des Ruhmes, den ihre Schriftsteller ihnen erworben haben, und schlafen auf ihren Lorbeeren ein.

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Aber ich weiß nicht, wie mich diese Abschweifung von meinem Gegenstand abgebracht hat. Kehren wir zum heimischen Herde zurück und fahren wir fort in der Prüfung der Mängel, die unsren Studien anhaften.

Ich glaube zu bemerken, daß die kleine Zahl guter und geschickter Lehrer für die Bedürfnisse unsrer Schulen nicht ausreicht. Wir haben viele Schulen, und alle wollen versorgt sein. Sind die Lehrer Pedanten, so verweilt ihr kleinlicher Geist bei Nichtigkeiten und vernachlässigt die Hauptsache. Breit, weitschweifig, langwellig, gehaltlos in ihrem Unterricht — so ermüden sie ihre Schüler und stößen ihnen Widerwillen gegen die Studien ein. Andre versehen ihr Amt nur ums Geld. Ob ihre Zöglinge durch ihren Unterricht etwas lernen oder nicht, ist ihnen gleich, wenn sie nur ihr Gehalt pünktlich ausgezahlt bekommen. Noch schlimmer ist es, wenn solche Lehrer selbst mangelhafte Kenntnisse besitzen. Wie sollen sie andren etwas beibringen, wenn sie selber nichts wissen? Aber Gott verhüte, daß es von dieser Regel keine Ausnahmen gäbe und daß man in Deutschland nicht einige tüchtige Lehrer fände! Ich bestreite das durchaus nicht. Nur wünschte ich innigst, ihre Zahl möchte größer sein.

Was wäre nicht über die fehlerhafte Methode zu sagen, mit der die Lehrer in Grammatik, Logik, Rhetorik und andren Wissenschaften unterrichten! Wie können sie den Geschmack ihrer Schüler bilden, wenn sie selber das Gute vom Mittelmäßigen und dies vom Schlechten nicht zu unterscheiden wissen, wenn sie Weitschweifigkeit mit reichem Stil, den gemeinen und niedrigen mit dem naiven, nachlässige, fehlerhafte Prosa mit schlichtem Stil, Schwulst mit dem Erhabenen verwechseln, wenn sie die Arbeiten ihrer Schüler nicht gewissenhaft verbessern, ihre Fehler nicht rügen, ohne sie zu entmutigen, und ihnen nicht mit Sorgfalt die Regeln einprägen, die sie beim Schreiben stets vor Augen haben sollen? Das gleiche gilt für die Richtigkeit der bildlichen Ausdrücke. Ich erinnere mich aus meiner Jugendzeit, in dem Widmungsbrief eines Professor Heineccius an eine Königin die schönen Worte gelesen zu haben: „Ihro Majestät glänzen wie ein Karfunkel am Finger der jetzigen Zeit.“80-1 Kann man ein schieferes Bild gebrauchen? Warum ein Karfunkel? Hat die Zeit einen Finger? Man stellt sie mit Flügeln dar, weil sie unablässig entflieht, mit einem Stundenglase, weil sie die Stunden einteilt. Man gibt ihr eine Sense m die Hand, zum Zeichen, daß sie alles Lebende niedermäht und zerstört. Wenn aber schon Professoren sich in so läppischem und niedrigem Stil ausdrücken, was soll man dann von ihren Schülern erwarten?

Gehen wir nun von den Schulen zu den Universitäten über und untersuchen wir sie ebenso unparteiisch. Der Fehler, der mir am meisten in die Augen springt, ist der<81> Mangel einer allgemeinen Methode für den gelehrten Unterricht. Jeder Professor hat seine eigne. Nach meiner Ansicht gibt es nur eine gute Methode; an die muß man sich halten. Wie aber geht es heute zu? Ein Professor der Jurisprudenz z. B. hat einige Lieblingsjuristen, deren Meinungen er erklärt. Er hält sich an ihre Werke und verschweigt, was andre Autoren über das Recht geschrieben haben. Er streicht die Würde seiner Wissenschaft heraus, um seine eignen Kenntnisse ins Licht zu setzen. Er glaubt für ein Orakel zu gelten, wenn er in seinen Vorträgen dunkel ist. Er spricht von den Gesetzen von Memphis, wenn es sich um das Osnabrücker Gewohnheitsrecht handelt81-1, oder bläut einem würdigen Zögling des Klosters Sankt Gallen die Gesetze des Minos ein. Der Philosoph hält sich ungefähr in der gleichen Weise an sein Lieblingssystem. Die Schüler verlassen sein Kolleg voller Vorurteile. Sie haben nur einen kleinen Teil der philosophischen Systeme vernommen und kennen weder all ihre Irrtümer noch all ihre Ungereimtheiten. Was die Medizin betrifft, so schwanke ich noch, ob sie eine Kunst ist oder nicht. Jedenfalls aber bin ich überzeugt, daß kein Mensch die Macht besitzt, einen Magen, Lungen oder Nieren zu erneuern, wenn diese wichtigen Organe des menschlichen Lebens schadhaft sind. Meinen Freunden rate ich ernstlich, im Krankheitsfalle lieber einen Arzt zu rufen, der schon mehrere Kirchhöfe angefüllt hat, als einen Schüler Hoffmanns81-2 oder Boerhaves81-3, der noch keinen umgebracht hat. Gegen die Mathematiklehrer habe ich nichts einzuwenden. Die Mathematik ist die einzige Wissenschaft, die keine Selten erzeugt hat. Sie beruht auf Analysis, Synthesis und Berechnung. Sie beschäftigt sich nur mit greifbaren Wahrheiten, und so hat sie denn in allen Ländern die gleiche Methode. Auch der Theologie gegenüber hülle ich mich in ehrfürchtiges Schweigen. Man sagt, sie sei eine göttliche Wissenschaft und Ungeweihte dürften das heilige Rauchfaß nicht berühren. Mit den Herren Geschichtsprofessoren darf ich wohl etwas weniger behutsam verfahren und bei ihrer Prüfung einige leise Zweifel ausdrücken. Ich gestatte mir die Frage an sie: Ist das Studium der Chronologie das Wichtigste in der Geschichte? Ist es eine unverzeihliche Sünde, sich im Todesjahr des Belos81-4 zu irren, oder in dem Tage, da Darius durch das Wiehern seines Pferdes auf den persischen Thron erhoben wurde? Zu welcher Stunde die Goldene Bulle bekannt gemacht wurde, ob um sechs Uhr morgens oder um vier Uhr nachmittags? Was mich betrifft, so genügt mir der Inhalt der Goldenen Bulle und daß sie im Jahre 1356 erlassen wurde. Ich will damit zwar nicht die Historiker in Schutz nehmen, die Verstöße in der Zeitrechnung begehen. Aber ich würde ihnen solche kleinen Fehler eher nachsehen als bedeutende Mängel,<82> wie z. B. verworrene Darstellung der Begebenheiten, unklare Entwicklung der Ursachen und Wirkungen, Außerachtlassen aller Methode, schwerfälliges Verweilen bei Kleinigkeiten und oberflächliches Berühren der Hauptsachen. Über die Genealogie denke ich fast ebenso. Ich meine, man soll einen Gelehrten nicht steinigen, weil er den Stammbaum der heiligen Helena, Kaiser Konstantins Mutter, oder der Hildegard, der Gattin oder Geliebten Karls des Großen, nicht zu entwirren vermag. Man soll nur das Wissenswerte lehren und den Rest übergehen.

Vielleicht finden Sie mein Urteil zu streng. Da hienieden nichts vollkommen ist — so werden Sie schließen —, haften auch unsrer Sprache, unsren Schulen und Universitäten Mängel an. Sie werden hinzufügen, die Kritik sei leicht, aber die Kunst schwer, und wenn man es besser machen wolle, müsse man die Regeln angeben, die zu befolgen sind. Ich bin gern erbötig, mein Herr, Sie zufriedenzustellen. Ich glaube, wenn andre Nationen sich vervollkommnen konnten, so haben wir die gleichen Mittel wie sie, und es kommt nur auf ihre Anwendung an. Schon lange habe ich in meinen Mußestunden darüber nachgedacht. Der Gegenstand ist mir also geläufig genug, um ihn zu Papier zu bringen und ihn Ihrer Einsicht zu unterbreiten, zumal ich nicht den geringsten Anspruch auf Unfehlbarkeit mache.

Beginnen wir mit der deutschen Sprache. Ich werfe ihr vor, daß sie weitschweifig, spröde und unmelodisch ist und daß es ihr an der Fülle bildlicher Ausdrücke gebricht, die so notwendig sind, um gebildeten Sprachen neue Wendungen und Anmut zu geben. Zur Bestimmung des Weges, den wir einschlagen müssen, um dies Ziel zu erreichen, untersuchen wir, welchen Weg unsre Nachbarn gegangen sind.

In Italien sprach man zur Zeit Karls des Großen noch eine barbarische Mundart, ein Gemisch hunnischer und longobardischer Worte, mit lateinischen Wendungen vermengt, die aber dem Ohr eines Cicero oder Virgil unverständlich gewesen wären. Diese Mundart blieb, wie sie war, in den nachfolgenden Jahrhunderten der Barbarei. Lange nachher erschien Dante. Seine Verse entzückten seine Leser, und die Italiener begannen zu glauben, daß ihre Sprache die der Welteroberer ablösen könnte. Später, kurz vor und während der Wiedergeburt der Künste und Wissenschaften, blühten Petrarca, Ariost, Sannazaro82-1 und Kardinal Bembo.82-2 Der Genius dieser berühmten Männer legte die italienische Sprache im wesentlichen fest. Zugleich bildete sich die Akademie della Crusca82-3, die über die Erhaltung und Reinheit des Stils wacht.

Ich gehe nun zu Frankreich über. Ich finde die Art, wie man am Hofe Franz' I. sprach, mindestens ebenso mißtönig wie unser heutiges Deutsch. Mögen die Be<83>wunderer von Marot83-1, Rabelais83-2 und Montaigne83-3 mir vergeben: ihre rohen, anmutlosen Schriften haben mir nichts als Langeweile und Ekel verursacht. Nach ihnen, gegen Ende der Regierung Heinrichs IV., erschien Malherbe83-4, der erste Dichter, den Frankreich gehabt hat. Oder besser gesagt, als Versmacher ist er weniger fehlerhaft wie seine Vorgänger. Zum Beweis dafür, daß er es in seiner Kunst noch nicht zur Vollendung gebracht hat, brauche ich Sie nur an die Verse zu erinnern, die Sie aus einer seiner Oden kennen:

Nimm, Ludwig, Deinen Blitz, und wie ein Leu
Schlag mit dem letzten Schlag das letzte Haupt
Der Rebellion entzwei!

Sah man je einen Löwen mit einem Blitzstrahl bewaffnet? Die Fabel legt den Blitz in die Hand des Göttervaters oder leiht ihn dem Adler, der ihn begleitet, aber nie hat der Löwe dies Attribut gehabt. Doch verlassen wir Malherbe mit seinen schiefen Bildern und kommen wir zu Corneille, Racine, Boileau, Bossuet, Flechier, Pascal, Fénelon, Boursault83-5 und Vaugelas83-6, den wahren Vätern der französischen Sprache. Sie haben den Stil gebildet, den Wortgebrauch festgelegt, den Tonfall der Sätze harmonisch gemacht und der alten mißtönigen, barbarischen Mundart ihrer Voreltern Kraft und Energie verliehen. Die Werke dieser Schöngeister wurden verschlungen. Was gefällt, bleibt im Gedächtnis. Wer literarisches Talent besaß, ahmte sie nach. Stil und Geschmack dieser großen Männer teilte sich seitdem der ganzen Nation mit.

Gestatten Sie mir jedoch, einen Augenblick stehenzubleiben. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß in Griechenland, in Italien und Frankreich die Dichter die ersten waren, die ihre Sprache biegsam und wohlklingend machten. Dadurch war sie schon geschmeidiger und bildsamer, als die nachfolgenden Prosaschriftsteller sie übernahmen.

Gehe ich nun zu England über, so finde ich ein ähnliches Bild, wie ich es von Italien und Frankreich entworfen. England wurde von den Römern, den Sachsen, den Dänen und endlich von Wilhelm dem Eroberer, Herzog der Normandie, unterjocht (1066). Aus dem Sprachwirrwarr seiner Besieger entstand unter Beimischung der Mundart, die noch jetzt in Wales gesprochen wird, die englische Sprache. Ich brauche Ihnen nicht erst zu sagen, daß sie in jenen barbarischen Zeiten mindestens ebenso roh war wie die Sprachen, von denen vorhin die Rede war. Doch die Wiedergeburt der Künste und Wissenschaften hatte bei allen Völkern die gleiche<84> Wirkung. Europa war der krassen Unwissenheit müde, in der es so viele Jahrhunderte geschmachtet hatte: es wollte sich aufklären. England, stets eifersüchtig auf Frankreich, strebte nach Hervorbringung eigner Schriftsteller, und da man zum Schreiben eine Sprache haben muß, fing es an, die seine zu vervollkommnen. Um schneller vorwärts zu kommen, eignete es sich aus dem Lateinischen, Französischen und Italienischen alle Ausdrücke an, die ihm notwendig erschienen. Es brachte berühmte Schriftsteller hervor, aber sie konnten die scharfen Laute ihrer Sprache, die jedes fremde Ohr verletzen, nicht mildern. Andre Sprachen verlieren in der Übersetzung; das Englische allein gewinnt. Bei dieser Gelegenheit fällt mir ein: als ich einmal mit Gelehrten zusammen war, fragte jemand, welche Sprache wohl die Schlange gesprochen hätte, die unsre Urmutter verführte. „Sie sprach Englisch,“ antwortete ein Gelehrter, „denn die Schlange zischt.“ Nehmen Sie den schlechten Scherz für das, was er wert ist.

Nachdem ich Ihnen dargelegt habe, auf welche Weise bei andren Völkern die Sprache ausgebildet und vervollkommnet wurde, werden Sie gewiß meinen, wir könnten mit den gleichen Mitteln dasselbe erreichen. Wir müssen also große Dichter und Redner haben, die uns diesen Dienst leisten. Von den Philosophen dürfen wir ihn nicht erwarten; ihnen kommt es zu, die Irrtümer auszurotten und neue Wahrheiten zu entdecken. Die Dichter und Redner aber sollen uns durch ihren Wohllaut entzücken, uns überzeugen und rühren.

Da sich indes kein Genie nach Belieben erzeugen läßt, wollen wir zusehen, ob wir nicht auch so einige Fortschritte machen können, indem wir uns an provisorische Hilfsmittel halten. Um unfern Stil gedrungener zu machen, ist jede unnütze Einschaltung fortzulassen. Um Energie zu erlangen, laßt uns die alten Autoren übersetzen, die den kraftvollsten und anmutigsten Ausdruck hatten. Nehmen wir von den Griechen Thukydides und Xenophon. Vergessen wir die Poetik des Aristoteles nicht. Bemühen wir uns vor allem, die Kraft des Demosthenes wiederzugeben. Von den Lateinern nehmen wir Epiktets Handbuch, die Selbsibetrachtungen des Kaisers Mark Aurel84-1, Cäsars Kommentarien, Sallust, Tacitus und die „Ars poetica“ des Horaz. Die Franzosen können uns die „Gedanken“ von Larochefoucauld84-2, die „Persischen Briefe“ und den „Geist der Gesetze“ von Montesquieu liefern. Alle diese vorgeschlagenen Bücher, meist in Spruchform geschrieben, werden die Übersetzer zur Vermeidung aller unnützen und überflüssigen Worte zwingen. Unsre Schriftsteller werden ihren ganzen Scharfsinn aufbieten, um ihre Gedanken zusammenzudrängen und ihrer Übersetzung die gleiche Kraft zu geben, die man an den Originalen bewundert. Indes werden sie bei allem Streben nach Energie darauf zu achten haben, daß sie nicht<85> dunkel werden. Um die Klarheit des Stils, die oberste Pflicht jedes Schriftstellers, zu bewahren, werden sie nie von den Regeln der Grammatik abweichen und die Zeitwörter, die die Sätze regieren sollen, so stellen, daß kein Doppelsinn möglich ist. Derartige Übersetzungen werden dann als Muster dienen, nach denen unsre Schriftsteller sich bilden können. Dann werden wir uns schmeicheln dürfen, die Vorschrift befolgt zu haben, die Horaz in semer Poetik den Schriftstellern erteilt: tot verba, tot pondera85-1.

Es wird schwer sein, die harten Laute zu mildern, an denen unsre meisten Worte reich sind. Die Vokale schmeicheln dem Ohr. Zu viele Konsonanten hintereinander verletzen es, da sie schwer auszusprechen sind und keinen Wohllaut haben. Auch haben wir viele Tätigkeits- und Hilfszeitwörter, deren letzte Silbe stumm und unschön ist, wie sagen, geben, nehmen. Man füge diesen Endungen ein a hinzu und bilde daraus sagena, gebena, nehmena: diese Laute tun dem Ohre wohl.85-2 Allein ich weiß auch: selbst wenn der Kaiser mit seinen acht Kurfürsten auf feierlichem Reichstage das Gesetz erließe, daß die Worte so ausgesprochen werden sollen, die eifrigen Deutschtümler würden sich doch darüber lustig machen und auf gut Lateinisch schreien: Caesar non est super grammaticos!85-3 Und das Volk, das in jedem Land über die Sprache entscheidet, würde nach wie vor sagen und geben wie gewöhnlich aussprechen. Die Franzosen haben durch die Aussprache viele Worte gemildert, die das Ohr verletzten. Kaiser Julian sagte einst, die Gallier krächzten wie die Krähen. Solche Worte sind nach der alten Aussprache cro-jo-gent, voi-yaigent. Heute spricht man croient und voient aus. Wenn das auch nicht schön klingt, so doch weniger unangenehm. Ich glaube, wir könnten es mit manchen Worten ebenso machen.

Es gibt noch einen Fehler, den ich nicht übergehen darf, nämlich die niedrigen und trivialen Vergleiche, die der Sprache des gemeinen Volks entnommen sind. So z. B. drückte sich ein Dichter aus, der seine Werke ich weiß nicht welchem Gönner widmete: „Schieß, großer Gönner, schieß deine Strahlen armdick auf deinen Knecht hernieder.“ Was sagen Sie zu diesen armdicken Strahlen? Hätte man zu jenem Dichter nicht sagen sollen: „Mein Freund, lerne erst denken, ehe du zur Feder greifst“? Ahmen wir also nicht die Armen nach, die reich scheinen wollen. Gestehen wir ehrlich unsre Dürftigkeit ein und lassen wir uns durch dies Geständnis lieber ermuntern, uns durch Fleiß die Schätze der Literatur anzueignen, deren Besitz unsren nationalen Ruhm krönen wird.

Nachdem ich Ihnen dargelegt habe, wie man unsre Sprache veredeln könnte, bitte ich Sie, mir die gleiche Aufmerksamkeit bei der Wahl der Mittel zu leihen, durch<86> die man den Kreis unsrer Kenntnisse erweitern, die Studien leichter und nützlicher machen und zugleich den Geschmack der Jugend bilden könnte.

Ich schlage erstens vor, eine überlegtere Wahl der Schullehrer zu treffen und ihnen eine verständige, sinnreiche Lehrmethode der Grammatik und Logik vorzuschreiben. Die fleißigen Kinder sollen kleine Auszeichnungen erhalten und die nachlässigen leichte Rügen. Ich glaube, das beste und klarste Handbuch der Logik ist das von Wolff.86-1 Man müßte also alle Schullehrer nötigen, danach zu lehren, zumal das Handbuch von Batteur86-2 nicht übersetzt und auch nicht besser ist. Für die Rhetorik halte man sich an Quintilian. Wer bei seinem Studium keine Beredsamkeit lernt, wird sie nie erlangen. Der StU seines Werkes ist klar; es enthält alle Regeln und Vorschriften der Rede, kunst. Daneben aber müssen die Lehrer auch die Aussätze ihrer Schüler sorgfältig durchsehen, ihnen die Gründe für die gemachten Verbesserungen angeben und die gelungenen Stellen loben.

Bei Befolgung der vorgeschlagenen Methode werden die Lehrer die Keime der natürlichen Anlagen entwickeln, das Urteil ihrer Schüler bilden, sie daran gewöhnen, nicht ohne Kenntnis des Grundes zu entscheiden und richtige Schlüsse aus ihren Regeln zu ziehen. Die Rhetorik wird ihren Geist methodisch machen. Sie werden die Kunst lernen, ihre Ideen zu ordnen, in Zusammenhang zu bringen und sie durch natürliche, unmerkliche und geschickte Übergänge zu verknüpfen. Sie werden den Stil dem Gegenstand anpassen lernen, richtige Bilder wählen, sowohl um Abwechslung hineinzubringen, wie um Blumen auf die geeigneten Stellen zu streuen. Sie werden es vermeiden, zwei bildliche Ausdrücke miteinander zu verquicken, was so leicht einen schiefen Sinn gibt. Durch die Rhetorik werden sie weiterhin lernen, die vorzubringenden Beweise dem Verständnis ihrer Zuhörer anzupassen, sich in die Geister einzuschmeicheln, zu gefallen und zu rühren, Abscheu und Mitleid zu erregen, zu überzeugen und den Beifall aller zu gewinnen. Welch göttliche Kunsi ist es, durch das bloße Wort, ohne äußere Macht und Gewalt, die Geister zu unterjochen, die Herzen zu beherrschen und in einer zahlreichen Gesellschaft die Leidenschaften zu erregen, die man ihr einflößen will!

Wären die guten Autoren ins Deutsche übersetzt, so würde ich ihre Lektüre als etwas Wichtiges und Notwendiges empfehlen. So gibt es zur Ausbildung der Logik nichts Besseres als Bayles Abhandlungen über die Kometen86-3 und über das „Nötige sie hereinzukommen86-4!“ Nach meiner schwachen Einsicht ist Bayle der erste<87> Logiker Europas. Seine Schlüsse besitzen nicht nur Kraft und Schärfe, sondern er zeichnet sich vor allem auch dadurch aus, daß er eine Behauptung mit einem Blick übersieht, ihre starke und schwache Seite erkennt, wie man sie stützen und wie man die Gegner widerlegen kann. In seinem großen „Dictionnaire“87-1 greift er Ovid wegen der Entstehung der Welt aus dem Chaos an. Da findet man vorzügliche Artikel über die Manichäer, über Epikur, Zoroaster usw. Alle verdienen gelesen und studiert zu werden. Das wird ein unschätzbarer Gewinn für die Jugend sein, die sich die Urteilskraft und den durchdringenden Verstand dieses großen Mannes zu eigen machen kann.

Sie erraten schon im voraus, welche Autoren ich den Schülern der Beredsamkeit empfehle. Damit sie den Grazien opfern lernen, wünschte ich, sie läsen die großen Dichter, Homer, Virgil, ein paar ausgewählte Oden des Horaz, einige Verse des Anakreon. Damit sie Geschmack an der hohen Redekunst gewinnen, würde ich ihnen Demosthenes und Cicero in die Hand geben. Man müßte ihnen klarmachen, worin der Unterschied zwischen beiden Redekünstlern besteht. Dem einen ließe sich nichts hinzufügen, dem andern nichts fortnehmen.87-2 Auf diese Lektüre könnten die schönen Grabreden Bossuets87-3 und Flechiers87-4, des französischen Demosthenes und Cicero, und die kleinen Fastenpredigten von Massillon87-5 folgen, die voller Züge erhabenster Beredsamkeit sind.

Damit die Schüler lernen, wie man Geschichte schreiben soll, möchte ich, daß sie Livius, Sallust und Tacitus läsen. Man müßte sie auf den Adel des Stils, die Schönheit der Darstellung aufmerksam machen, aber zugleich die Leichtgläubigkeit rügen, mit der Livius am Ende jedes Jahres eine Aufstellung von Wundern gibt, deren eins immer lächerlicher ist als das andre. Danach könnten die jungen Leute die Weltgeschichte von Bossuet und die „Römischen Staatsumwälzungen“ vom Abbé Vertot87-6 lesen. Auch könnte man die Einleitung zur „Geschichte Karls V.“ von Robertson87-7 hinzufügen. Auf die Weise würde man ihren Geschmack bilden und sie lehren, wie man schreiben muß. Besitzt aber der Lehrer selbst solche Kenntnisse nicht, so wird er sich mit dem Hinweis begnügen: „Hier wendet Demosihenes das große oratorische Argument an. Hier und im größten Teil seiner Rede bedient er sich des Enthymema87-8. Hier ist eine Apostrophe, dort eine Prosopopöe87-9, hier<88> eine Metapher, eine Hyperbel.“ Das ist ja gut; wenn aber der Lehrer die Schönheiten des Autors nicht besser hervorhebt und nicht auf die Fehler aufmerksam macht, die auch dem größten Redner unterlaufen, so hat er seine Aufgabe nur halb erfüllt. Ich dringe so sehr auf alle diese Dinge, weil ich möchte, daß die Jugend mit klaren Begriffen die Schule verläßt, daß man nicht nur ihr Gedächtnis anfüllt, sondern vor allem auch ihr Urteil zu bilden sucht, damit sie das Gute vom Schlechten unterscheiden lerne und nicht bloß sage: „Das gefällt mir“, sondern künftig auch stichhaltige Gründe angeben könne, warum sie etwas billigt oder verwirft.

Um sich von dem Mangel an Geschmack zu überzeugen, der bis auf diesen Tag in Deutschland herrscht, brauchen Sie nur ins Schauspiel zu gehen. Da sehen Sie die abscheulichen Stücke von Shakespeare88-1 in deutscher Sprache aufführen, sehen alle Zuhörer vor Wonne hinschmelzen beim Anhören dieser lächerlichen Farcen, die eines kanadischen Wilden würdig sind. Ich nenne sie so, weil sie gegen alle Regeln des Theaters verstoßen. Diese Regeln sind nicht willkürlich. Sie finden sie in der Poetik des Aristoteles. Dort sind Einheit der Zeit, des Ortes und der Handlung als die einzigen Mittel vorgeschrieben, ein Trauerspiel packend zu machen. In den englischen Stücken dagegen umspannt die Handlung den Zeitraum von Jahren. Wo bleibt da die Wahrscheinlichkeit? Da treten Lastträger und Totengräber auf und halten Reden, die ihrer würdig sind; dann kommen Fürsten und Königinnen. Wie kann dies wunderliche Gemisch von Hohem und Niedrigem, von Hanswurstereien und Tragik gefallen und rühren? Man mag Shakespeare solche wunderlichen Verirrungen verzeihen; denn die Geburt der Künste ist niemals die Zeit ihrer Reife. Aber nun erscheint noch ein „Götz von Berlichingen“ auf der Bühne88-2, eine scheußliche Nachahmung der schlechten englischen Stücke, und das Publikum klatscht Beifall und verlangt mit Begeisterung die Wiederholung dieser abgeschmackten Plattheiten. Ich weiß, über Geschmack läßt sich nicht streiten. Gleichwohl erlauben Sie mir, Ihnen eins zu sagen: wer an Seiltänzern und Marionetten ebensoviel Vergnügen findet wie an den Tragödien von Racine, der will nur die Zeit totschlagen. Der zieht das, was zu seinen Augen spricht, dem vor, was zum Geiste spricht, die bloße Schaustellung dem, was zu Herzen geht. Doch kehren wir zu unserm Thema zurück.

Nachdem ich von den Schulen gesprochen habe, muß ich den Universitäten gegenüber mit dem gleichen Freimut auftreten und Ihnen die Verbesserungen vorschlagen, die allen denen als die vorteilhaftesten und nützlichsten erscheinen werden, die sich die Mühe reiflichen Nachdenkens geben. Man glaube nur ja nicht, die Lehrmethode der Wissenschaften sei gleichgültig. Wenn es den Professoren an Klarheit und Deutlichkeit gebricht, ist ihre Mühe umsonst. Sie haben ihre Vorträge schon im<89> voraus fertig und halten sich daran. Ob nun dieser Lehrgang gut oder schlecht ausgearbeitet sei, danach fragt niemand. Man sieht denn auch, wie wenig Nutzen die Studenten von ihrem Studium haben. Sehr wenige verlassen die Universität mit den Kenntnissen, die sie von dort mitbringen sollten. Meine Idee wäre also die, jedem Professor die Regel vorzuschreiben, nach der er sich bei seinen Vorlesungen zu richten hätte. Hier ein Entwurf dazu.

Lassen wir den Mathematiker und Theologen beiseite, da sich der Gewißheit des einen nichts hinzufügen läßt und man die Volksmeinungen in Bezug auf den andern nicht antasten darf.

Ich nehme mir zuerst den Philosophen vor. Ich würde verlangen, daß er seinen Kursus mit einer genauen Definition des Begriffes PHUosophie beginnt. Dann soll er bis auf die fernsten Zeiten zurückgehen und all die verschiedenen philosophischen Systeme in der Reihenfolge, in der sie gelehrt worden sind, nacheinander durchgehen. So würde es z. B. nicht genügen, wenn er seinen Schülern von den Stoikern sagt, sie nähmen in ihrem System an, daß die menschlichen Seelen Teile der Gottheit seien. So schön und erhaben dieser Gedanke auch ist, so muß der Professor doch auf den in ihm liegenden Widerspruch hinweisen. Denn wäre der Mensch ein Teil der Gottheit, so besäße er unbegrenztes Wissen; das aber hat er nicht. Wäre Gott in den Menschen, so könnte es jetzt geschehen, daß der englische Gott sich mit dem französischen und spanischen bekriegte, daß diese verschiedenen Teile der Gottheit sich gegenseitig zu vernichten suchten und daß endlich alle von den Menschen begangenen Missetaten und Verbrechen göttliche Werke wären. Welcher Aberwitz, solche Abscheulichkeiten anzunehmen! Sie sind also nicht wahr.

Kommt er zum System Epikurs, so wird er vor allem auf die Gleichgültigkeit verweisen, die der Philosoph seinen Göttern beilegt, die aber der göttlichen Natur widerspricht. Er wird nicht vergessen, auf die Ungereimtheit der Lehre von der Abweichung der Atome89-1, sowie auf alles aufmerksam zu machen, was der Exaktheit und Folgerichtigkeit des logischen Denkens widerstrebt. Er wird ohne Zweifel auch die Sekte der Skeptiker erwähnen und darauf hindeuten, wie notwendig es oft ist, sein UrteU in metaphysischen Fragen zurückzuhalten, da weder Analogie noch Erfahrung uns einen Faden reichen, der uns durch dies Labyrinth führt.

Dann wird er auf Galilei kommen, wird dessen System klarlegen und dabei den Aberwitz des römischen Klerus ins rechte Licht setzen, der nicht dulden wollte, daß die Erde sich dreht, und der sich gegen die Antipoden auflehnte, aber trotz seiner vermeintlichen Unfehlbarkeit seinen Prozeß wenigstens diesmal vor dem Richterstuhl der Vernunft verlor. Dann kommt Kopernikus, Tycho de Brahe, das System der Wirbel89-2. Der Professor wird seinen Hörern die Unmöglichkeit des vollen Raumes klarmachen, die jede Bewegung ausschlösse. Er wird trotz Descartes klar beweisen,<90> daß die Tiere keine Maschinen sind. Daran wird sich ein Abriß des Newtonschen Systems vom leeren Raume schließen, den man annehmen muß, ohne sagen zu können, ob das eine Negation des Daseins oder ob die Leere ein Wesen sei, von dessen Natur wir uns keinen bestimmten Begriff machen können. Das hindert jedoch nicht, daß der Professor seine Hörer von der völligen Übereinstimmung des von Newton berechneten Systems mit den Naturerscheinungen unterrichtet, die die Neueren zur Annahme der Schwere, der Gravitation, der Zentripetal- und Zentrifugalkraft nötigt, verborgenen Eigenschaften der Natur, die bis auf diesen Tag unerforscht geblieben sind.

Nun wird die Reihe an Leibniz kommen, an das Monadensystem und die prästabilierte Harmonie. Der Professor wird zweifellos darauf hinweisen, daß es ohne Einheit keine Zahl gibt. Es müssen also unteilbare Körper angenommen werden, aus denen die Materie besieht. Er wird seinen Zuhörern klarmachen, daß die Materie theoretisch unendlich teilbar ist, daß aber in der Wirklichkeit die Urkörper sich wegen ihrer zu großen Kleinheit der Wahrnehmung entziehen und daß man notwendig unzerstörbare Atome annehmen muß, die die Grundlage der Elemente bilden; denn aus nichts entsteht nichts, und nichts geht zu Grunde. Der Professor wird das System der prästabilierten Harmonie als den Roman eines genialen Mannes darstellen90-1 und gewiß hinzufügen, daß die Natur den kürzesten Weg nimmt, um zu ihren Zielen zu gelangen. Er wird bemerken, daß man die Dinge nicht ohne Notwendigkeit vervielfältigen darf.

Dann wird Spinoza an die Reihe kommen. Er wird ihn ohne Mühe mit den gleichen Argumenten widerlegen, die er gegen die Stoiker angewandt hat. Wenn er Spinozas System da angreift, wo es die Existenz des höchsten Wesens zu leugnen scheint, so wird es ihm leicht fallen, es zu Staub zu zermalmen, zumal wenn er die Bestimmung jedes Dinges, den Zweck aufzeigt, wozu es geschaffen ist. Alles, selbst das Wachstum eines Grashalmes, beweist das Dasein Gottes. Wenn der Mensch auch nur einen Funken von Verstand besitzt, den er sich nicht selbst gegeben hat, mit wieviel mehr Grund muß dann das Wesen, von dem er alles hat, einen unendlich tieferen und unermeßlichen Verstand besitzen!

Unser Professor wird Malebranche90-2 nicht ganz übergehen. Er wird die Grundlehren dieses gelehrten Paters aus dem Orden des Oratoriums entwickeln und dabei zeigen, daß die daraus von selbst entfließenden Folgerungen zur Lehre der Stoiker zurückführen, zur Annahme einer Weltseele, von der alle lebenden Wesen Teile sind. Wenn wir aber in Gott alles sehen, wenn unsre Gefühle, Gedanken und Wünsche und unser Wille unmittelbar aus seiner geistigen Einwirkung auf unsre Organe entstehen, so werden wir zu Maschinen, die Gottes Hand bewegt. Gott allein bleibt, und der Mensch verschwindet.

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Ich gebe mich der Hoffnung hin, daß der Professor, wenn er Verstand hat, nicht den weisen Locke vergißt, den einzigen Metaphysiker, der die Phantasie dem gesunden Menschenverstand geopfert hat, sich an die Erfahrung hält, soweit sie ihn führen kann, und klüglich haltmacht, wenn dieser Führer versagt.

In der Sittenlehre wird der Professor einige Worte über Sokrates sagen, Mark Aurel gerecht werden und ausführlicher auf Ciceros Buch „Von den Pflichten“ eingehen, das beste Moralbuch, das man je geschrieben hat und schreiben wird.

Den Ärzten will ich nur zwei Worte sagen. Sie müssen ihre Schüler vor allem zu genauer Beobachtung der Symptome der Krankheiten anhalten, damit sie deren Wesen gut kennen lernen. Diese Symptome sind ein rascher und schwacher Puls, ein starker und heftiger Puls, ein aussetzender Puls, trockene Zunge, die Augen, die Art der Transpiration, der Ausscheidungen, sowohl des Urins wie der Exkremente. Aus alledem können sie Schlüsse ziehen und die Art des Übels, das die Krankheit verursacht, mit größerer Bestimmtheit erkennen. Nach dieser Diagnose müssen sie die richtigen Heilmittel wählen. Auch wird der Professor seine Schüler sorgfältig auf die eigenartige Verschiedenheit der Temperamente hinweisen und auf die Berücksichtigung, die sie erfordern. Er wird die gleiche Krankheit bei den verschiedenen Temperamenten verfolgen und vor allem darauf dringen, daß bei ein und derselben Krankheit die Arznei stets der Konstitution des Kranken angepaßt werde. Trotz aller dieser Belehrungen wage ich nicht zu behaupten, daß die jungen Äskulape Wunder verrichten werden. Das Publikum wird nur den Gewinn haben, daß weniger Menschen durch die Unwissenheit und Trägheit der Ärzte ums Leben kommen.

Der Kürze halber übergehe ich die Botanik, die Chemie und die physikalischen Experimente, um mich mit dem Herrn Professor der Rechtsgelehrsamkeit zu befassen, der mir eine recht mürrische Miene zeigt. Zu ihm werde ich sagen: „Herr Professor, wir leben nicht mehr im Jahrhundert der Worte, sondern der Tatsachen. Haben Sie zu Nutz und Frommen der Menschen die Gewogenheit, etwas weniger Pedanterie und etwas mehr gesunden Menschenverstand in Ihre vermeintlich so tiefen Vorlesungen zu bringen. Sie verlieren Ihre Zeit mit dem Vortrag eines Völkerrechts, das nicht einmal Privatpersonen, geschweige denn die Mächtigen achten und das die Schwachen nicht schützt. Sie unterweisen Ihre Schüler in den Gesetzen des Minos, Solon, Lykurg, der zwölf Tafeln Roms, des Codex Justinianus. Aber kein Wort oder nur wenig von den Gesetzen und Bräuchen in unsren Provinzen. Zu Ihrer Beruhigung versprechen wir Ihnen zu glauben, daß Ihr Hirn eine miteinander verschmolzene Quintessenz des Cujaz und Bartolos91-1 ist. Geruhen Sie jedoch zu beachten, daß nichts kostbarer ist als Zeit, und daß der, welcher sie mit unnützen Phrasen vergeudet, ein Verschwender ist, den Sie unter Kuratel stellen würden, wenn er vor Ihren Richtersiuhl käme. Gestatten Sie daher, Herr Professor, so gelehrt Sie auch sind,<92> daß ein Unwissender meines Schlages, wenn Sie seine Schüchternheit ermutigen, Ihnen eine Art von Kursus der Rechtslehre vorschlägt, den Sie abhalten könnten. Sie würden damit beginnen, die Notwendigkeit der Gesetze zu beweisen, weil keine Gesellschaft ohne sie bestehen kann. Sie würden zeigen, daß es bürgerliche Gesetze, Strafgesetze und andre, die auf Übereinkunft92-1 beruhen, gibt. Die ersten sollen das Eigentum schützen, sowohl Erbschaften, Mitgiften, das Erbteil der Witwen, wie das Handels- und Verkehrsrecht. Sie geben an, nach welchen Grundsätzen bei Grenzstreitigkeiten zu verfahren und überhaupt strittige Rechte zu entscheiden sind. Die Strafgesetze hingegen sollen das Verbrechen mehr zu Boden schlagen, als bestrafen. Die Strafen müssen dem Vergehen angemessen sein, und die milderen sind den strengeren allemal vorzuziehen92-2. Die Übereinkunftsgesetze endlich werden.von den Regierungen geschaffen, um Handel und Industrie zu begünstigen. Die beiden ersten Gesetzesarten sind stetiger Natur, die letzteren hingegen dem Wechsel unterworfen, mögen nun äußere oder innere Ursachen zur Abschaffung oder zur Einführung dieser oder jener Bestimmungen nötigen.“ Ist diese Einleitung mit aller nötigen Klarheit erfolgt, so wird der Herr Professor, ohne Pufendorf92-3 oder Grotius92-4 zu Rate zu ziehen, gütigst die Gesetze des Landes erläutern, in dem er lebt. Er wird sich vor allem hüten, seinen Schülern den Geist der Streitsucht einzuimpfen. Statt Verwirrer wird er Entwirrer aus ihnen machen und sich sorgfältig bemühen, Richtigkeit, Klarheit und Genauigkeit in seine Vorlesungen zu bringen. Um seine Schüler von Jugend auf zu dieser Methode zu erziehen, wird er insbesondere nicht versäumen, ihnen Verachtung für sophistische Rechthaberei einzuflößen, die offenbar eine unerschöpfliche Fundgrube für Spitzfindigkeiten und Rechtsverdrehung ist.

Ich wende mich nun an den Herrn Geschichtsprofessor. Ihm schlage ich als Muster den weisen und berühmten Thomasius92-5 vor. Unser Professor wird Ruf gewinnen, wenn er diesem großen Manne nahekommt, und Ruhm, wenn er ihm gleicht. Er wird seinen Kursus chronologisch mit der alten Geschichte beginnen und mit der neueren enden. Er wird in der Abfolge der Jahrhunderte kein Volk auslassen, weder die Chinesen noch die Russen, weder die Polen noch den Norden, wie es Bossuet in seinem sonst sehr schätzenswerten Werke getan hat. Unser Professor wird sich namentlich der Geschichte Deutschlands widmen, da sie für die Deutschen am fesselndsten ist. Er wird sich indes hüten, sich zu sehr in die Dunkelheit der ältesten Zeiten zu vertiefen, über die uns die Urkunden fehlen und deren Kenntnis im übrigen sehr unnütz ist. Er wird ohne längeres Verweilen das neunte bis zwölfte Jahrhundert durchgehen. Erst beim dreizehnten Jahrhundert, wo die Geschichte mehr Interesse verdient,<93> wird er ausführlicher werden. Je weiter er vorrückt, um so mehr wird er sich auf Einzelheiten einlassen, weil diese immer enger mit der Geschichte der Gegenwart zusammenhängen. Insbesondere wird er sich länger bei Ereignissen aufhalten, die Folgen gehabt haben, als bei denen, die sozusagen ohne Nachkommenschaft gestorben sind. Der Professor wird auf den Ursprung der Rechte, Bräuche und Gesetze eingehen, wird zur Kenntnis bringen, bei welchen Anlassen sie im Reich eingeführt wurden. Er wird die Entstehung der freien Reichsstädte und ihre Privilegien, die Entstehung der Hansa und der Landeshoheit von Bischöfen und Äbten schildern. Er wird, so gut er kann, erklären, wie die Kurfürsten das Recht erwarben, den Kaiser zu wählen. Die verschiedenen Formen der Rechtspflege im Laufe der Jahrhunderte dürfen nicht übergangen werden. Besonders aber von der Zeit Karls V. an muß der Professor all seine Einsicht und Geschicklichkeit aufbieten. Von jener Epoche ab wird alles fesselnd und denkwürdig. Er wird nach bestem Vermögen die Ursachen der großen Ereignisse aufzuklären suchen. Parteilos wird er die Taten derer loben, die sich berühmt gemacht haben, und die tadeln, die Fehler begingen.

Nun beginnen die Religionswirren: diesen Teil wird der Professor als Philosoph behandeln. Es folgen die Kriege, die aus jenen Wirren entstanden. Diese Fragen, die großes Interesse beanspruchen, sind mit der gebührenden Würde zu erörtern. Schweden nimmt Partei gegen den Kaiser. Der Professor wird sagen, aus welchem Anlaß Gustav Adolf nach Deutschland ging und weshalb Frankreich für Schweden und die Sache des Protestantismus eintrat. Aber er wird nicht die alten Lügen wiederholen, die allzu leichtgläubige Geschichtsschreiber verbreitet haben. Er wird nicht sagen, Gustav Adolf sei von einem deutschen Fürsten getötet worden, der in seinem Heere diente93-1, well das weder wahr noch erwiesen noch wahrscheinlich ist. Der Westfälische Friede wird ein umständlicheres Eingehen erfordern, da er die Grundlage der deutschen Freiheit bildet, das Grundgesetz, das den kaiserlichen Ehrgeiz in gebührenden Schranken hält. Auf ihm beruht unsre jetzige Verfassung.

Hiernach wird der Professor berichten, was sich unter der Regierung der Kaiser Leopold, Josef und Karl VI. zutrug. Dies weite Feld bietet ihm Gelegenheit zur Betätigung seiner Gelehrsamkeit und seines Geistes, besonders wenn er nichts Wesentliches fortläßt.

Nach der Darstellung der denkwürdigen Ereignisse jedes Jahrhunderts wird er nicht vergessen, über die jeweiligen Geisiessirömungen und über die Männer zu berichten, die sich durch ihre Talente, ihre Entdeckungen oder ihre Werke hervorgetan haben. Er wird auch die ausländischen Zeitgenossen der Deutschen, von denen er spricht, nicht unerwähnt lassen.

Hat er derart die Geschichte Volk für Volt durchgenommen, so würde er, glaube ich, den Studierenden einen Dienst erweisen, wenn er den ganzen Stoff zusammen<94>faßte und ihn in einer allgemeinen Übersicht darstellte. Dabei wäre besonders die chronologische Anordnung nötig, damit man die Zeitalter nicht verwechselt und jedes wichtige Ereignis an die Stelle setzt, die ihm in der Zeitfolge zukommt, die Zeitgenossen neben die Zeitgenossen. Um das Gedächtnis nicht mit Daten zu überlasten, wäre es gut, die Epochen zu bezeichnen, in denen die wichtigsten Umwälzungen stattfanden. Das sind lauter Anhaltspunkte für das Gedächtnis, die man leicht behält und ohne die das ungeheure Chaos der Geschichte im Kopfe der jungen Leute wirr durcheinanderwogt.

Ein Geschichtstursus, wie ich ihn vorschlage, muß reiflich überlegt, gründlich durchdacht und von allen Kleinigkeiten frei sein. Weder das Theatrum europaeum94-1 noch Bünaus „Deutsche Geschichte“94-2 darf der Professor zu Rate ziehen. Lieber möchte ich ihn auf die Kolleghefte von Thomasius verweisen, wenn solche noch vorhanden sind.

Was ist für einen Jüngling, der in die Welt treten will, notwendiger und unterrichtender als die Betrachtung der Reihe von Wechselfällen, die das Antlitz der Welt so oft verändert haben? Wo lernt er die Nichtigkeit alles Menschlichen besser kennen, als wenn er auf den Trümmern der Königreiche und Weltmonarchien umhergeht? Aber welche Freude muß ihn erfüllen, wenn er in dem Wust von Verbrechen, den man an seinen Augen vorüberziehen läßt, hier und da eine jener tugendhaften, göttlichen Seelen findet, die für die Verderbtheit des Menschengeschlechts um Gnade zu bitten scheinen! Das sind die Vorbilder, denen er folgen soll. Er hat eine Menge glücklicher, von Schmeichlern umgebener Menschen gesehen. Der Tod trifft den Abgott, die Schmeichler entfliehen, die Wahrheit tritt zutage, und die Flüche des Volkes ersticken die Stimme der Lobredner. Ich hoffe, der Professor wird Einsicht genug haben, seinen Schülern die Grenzen zwischen edlem Wetteifer und maßlosem Ehrgeiz zu zeigen und sie zum Nachdenken über so viele verderbliche Leidenschaften anzuregen, die den Untergang der größten Reiche verschuldet haben. Mit hundert Beispielen wird er ihnen beweisen, daß gute Sitten die wahren Wächter der Staaten sind, wogegen Verderbtheit, Luxus und übermäßige Sucht nach Reichtum jederzeit die Vorläufer ihres Verfalls waren. Bei Befolgung des vorgeschlagenen Lehrplans wird der Herr Professor sich nicht darauf beschränken, das Gedächtnis seiner Schüler mit Tatsachen anzufüllen, sondern danach trachten, ihr Urteil zu bilden, ihre Denkweise zu berichtigen und ihnen vor allem Liebe zur Tugend einzuflößen. Das ist nach meiner Ansicht all den unverdauten Kenntnissen vorzuziehen, mit denen man die Köpfe der Jugend vollstopft.

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Aus allem bisher Dargelegten ergibt sich allgemein die Notwendigkeit, alle alten und neuen Klassiker mit Fleiß und Eifer ins Deutsche zu übertragen. Das brachte uns den doppelten Vorteil, unsre Sprache auszubilden und Kenntnisse zu verbreiten. Wenn wir alle guten Autoren bei uns einbürgern, bringen sie uns neue Ideen und bereichern uns mit der Anmut und den Reizen ihrer Schreibweise. Und wieviel würde das Publikum nicht daraus lernen! Von den sechsundzwanzig Millionen, die in Deutschland wohnen, können wohl keine hunderttausend gut Lateinisch, besonders, wenn man den Haufen von Priestern und Mönchen abzieht, deren Kenntnisse kaum so weit reichen, daß sie etwas von der Syntax verstehen. So sind also 25 900 000 Seelen von allem Wissen ausgeschlossen, nur well sie es nicht in der Landessprache erwerben können. Welche günstigere Veränderung könnte uns wohl widerfahren als die Verbreitung und Verallgemeinerung des Wissens? Der Edelmann, der auf dem Lande lebt, würde eine Auswahl von Büchern treffen, die ihm zusagen; er würde sich unterhalten und dabei belehren. Der grobe Bürgersmann würde weniger ungeschliffen sein. Die Müßiggänger fänden ein Mittel gegen die Langeweile. Der Sinn für die schöne Literatur würde allgemein werden. Liebenswürdigkeit, Sanftmut und Grazie würden sich über die Gesellschaft verbreiten, und der Unterhaltung würden unerschöpfliche Quellen erschlossen. Aus der Reibung der Geister entspränge jener feine Takt, jener gute Geschmack, der mit raschem Unterscheidungsvermögen das Schöne erfaßt, das Mäßige verwirft und das Schlechte verschmäht. Das Publikum würde zum aufgeklärten Richter werden und die neuen Schriftsteller zwingen, ihre Werte mit größerer Emsigkeit und Sorgfalt auszuarbeiten und sie nicht eher herauszugeben, als bis sie gründlich gesellt und geglättet sind.

Der Weg, den ich weise, ist nicht aus meiner Phantasie entsprungen. Er ist der Weg aller Völker, die zur Kultur gelangt sind. Einen andren gibt es nicht. Je mehr der Sinn für die Literatur zunimmt, um so mehr Auszeichnung und Erfolg haben die zu erwarten, die sie in hervorragender Weise pflegen, und um so mehr wird ihr Beispiel andre ermutigen. Deutschland erzeugt Männer der emsigen Forschung, Philosophen, Genies und alles, was man wünschen kann. Es fehlt nur ein Prometheus, der das himmlische Feuer raubt und sie beseelt.

Der Boden, der den berühmten de Vinea, den Kanzler des unglücklichen Kaisers Friedrich II., erzeugte, das Land, wo die Verfasser der berühmten Dunkelmännerbriefe geboren wurden, die ihrer Zeit weit voraus waren und Rabelais zum Muster gedient haben, der Boden, der den berühmten Erasmus hervorbrachte, dessen „Lob der Narrheit“ von Witz sprudelt und noch besser wäre, wenn man ein paar mönchische Plattheiten entfernte, denen man den schlechten Geschmack der Zeit anmerkt, das Land, wo Melanchthon geboren wurde, so klug wie gelehrt — der Boden, sage ich, der diese großen Männer hervorgebracht hat, ist nicht erschöpft und wird noch viele andre erzeugen. Wieviel große Männer könnte ich ihnen zur Seite stellen! Dreist zähle ich zu den unsren Kopernikus, der durch seine Berechnungen das Planetensystem<96> berichtigte und das bewies, was Ptolemäos96-1 ein paar tausend Jahre vor ihm zu behaupten gewagt hatte. Derweil entdeckte am andren Ende von Deutschland ein Mönch durch seine chemischen Versuche die erstaunlichen Wirkungen des Schießpulvers, und ein andrer erfand die Buchdruckerkunst, diese glückliche Erfindung, die gute Bücher verewigt und dem Volke für geringes Geld Bildung ermöglicht. Dem erfinderischen Geiste Otto von Guerickes verdanken wir die Luftpumpe. Unvergessen ist der berühmte Leibniz, der Europa mit dem Rufe seines Namens erfüllte. Seine Einbildungskraft hat ihn zwar zu einigen Hirngespinsten in seinem Systeme verleitet, aber seine Irrtümer sind doch nur die eines großen Geistes. Ich könnte meine Liste durch die Namen Thomasius, Bilfinger96-2, Haller96-3 und viele andre erweitern. Allein die Gegenwart gebietet mir Schweigen. Das Lob der einen würde die andren zurücksetzen.

Ich sehe einen Einwand voraus. Man wird mir vielleicht vorhalten, es habe während der italienischen Kriegswirren einen Pico von Mirandola gegeben. Gewiß, aber der war doch nur ein Gelehrter. Man wird hinzufügen: wahrend Cromwell sein Vaterland umstürzte und seinen König96-4 auf dem Blutgerüst enthaupten ließ, veröffentlichte Toland seinen „Leviathan“96-5 und kurz darauf Milton sein „Verlorenes Paradies“. Ja selbst zur Zeit der Königin Elisabeth hatte der Kanzler Bacon96-6 schon Aufklärung in Europa verbreitet und war zum Orakel der Philosophie geworden, indem er die zu machenden Entdeckungen angab und den Weg zu diesem Ziele wies. Auch während der Kriege Ludwigs XIV. machten gute Schriftsteller aller Art Frankreich berühmt. Warum also, wird man sagen, sollten unsre deutschen Kriege der Literatur verderblicher gewesen sein als die unsrer Nachbarn?

Darauf kann ich leicht antworten. In Italien blühten die Künste und Wissenschaften eigentlich nur unter dem Schutze des Lorenzo von Medici, des Papstes Leo X. und des Hauses Este. Damals gab es wohl vorübergehende Kriege, aber sie waren nicht verderblich. Italien wachte eifersüchtig über den Ruhm, den ihm die Wiedergeburt der schönen Künste verschaffen mußte, und munterte sie mit allen Kräften auf. In England richtete sich Cromwells Politik, von Fanatismus geschürt, nur gegen den Thron. Er war grausam gegen seinen König, aber er regierte sein Volk mit Weisheit, und daher blühte der Handel nie mehr als unter seinem Protektorat. So kann man den „Leviathan“ denn nur als Schmähschrift einer Partei ansehen. Miltons „Verlorenes Paradies“ ist zweifellos besser. Der Dichter besaß stärkere Einbildungstraft. Er hatte den Stoff seiner Dichtung aus einem jener religiösen Spiele entlehnt,<97> die noch zu seiner Zeit in Italien aufgeführt wurden, und wie vor allem betont werden muß, herrschte damals Friede und Wohlstand in England. Bacon, der sich unter der Regierung Elisabeths hervortat, lebte an einem gebildeten Hofe. Er besaß den Scharfblick von Jupiters Adler zur Erforschung der Wissenschaften und die Weisheit Minervas zu ihrem reiflichen Durchdenken. Bacons Genie ist eine jener seltenen Erscheinungen, die von Zeit zu Zeit auftauchen und ihrem Jahrhundert so viel Ehre machen wie dem menschlichen Geiste. In Frankreich hatte Richelieus Regierung das große Zeitalter Ludwigs XIV. vorbereitet. Aufklärung begann sich zu verbreiten; der Krieg der Fronde war nur ein Kinderspiel. Ludwig XIV., nach jeder Art von Ruhm begierig, wollte, daß seine Nation in der Literatur und im guten Geschmack ebenso die erste wäre, wie in der Macht, in Eroberungen, in Politik und Handel. Er trug seine Waffen siegreich in Feindesland. Frankreich rühmte sich der Erfolge seines Monarchen, ohne die Verheerungen des Krieges zu spüren. Es ist also natürlich, daß die Musen, die sich nur in Ruhe und Überfluß wohl fühlen, sich in seinem Reiche niederließen.

Besonders aber sollte man eins beachten: in Italien, England und Frankreich schrieben die ersten Schriftsteller und ihre Nachfolger in der eignen Sprache. Das Publikum verschlang ihre Werke, und das Wissen wurde Allgemeingut des Volkes.

Bei uns lagen die Dinge ganz anders. Unsre Religionsstreitigkeiten brachten einige Zänker hervor, die in dunklen Ausdrücken unverständliche Dinge verfochten, stets die gleichen Argumente anführten oder bestritten und abwechselnd Sophismen und Beleidigungen gebrauchten. Unsre ersten Gelehrten waren wie überall Männer, die in ihrem Gedächtnis Tatsachen auf Tatsachen häuften, urteilslose Pedanten, wie Lipsius, Freinshemius, Gronovius, Graevius97-1, schwerfällige Wiederkäuer einiger dunkler Phrasen, die sie in den alten Handschriften fanden. Das mochte bis zu einem gewissen Grade nützlich sein, allein sie hätten nicht ihren ganzen Fleiß aufNebensachen und Nichtigkeiten verwenden dürfen. Das Ärgerlichste dabei war, daß diese Herren in ihrer pedantischen Eitelkeit den Beifall ganz Europas beanspruchten. Teils um mit ihrem schönen Latein zu prunken, teils um von fremden Pedanten bewundert zu werden, schrieben sie nur Lateinisch, sodaß ihre Werke für Deutschland fast ganz verloren gingen. Daraus entsprang ein doppelter Nachteil. Erstens wurde die deutsche Sprache nicht geformt und blieb in ihrem rohen Zustande stecken, und zweitens tonnte die Masse des Volkes, die kein Latein verstand, sich nicht bilden und verharrte nach wie vor in der tiefsten Unwissenheit. Das sind einwandfreie Wahrheiten. Möchten die Herren Gelehrten sich bisweilen erinnern, daß die Wissenschaften Nahrungsmittel des Geistes sind. Das Gedächtnis nimmt sie auf, wie der Magen die Speisen, aber sie ver<98>ursachen Verdauungsbeschwerden, wenn der Verstand sie nicht verarbeitet. Ist unser Wissen ein Schatz, so muß man es nicht vergraben, sondern nutzbar machen, indem man es in einer allen Mitbürgern verständlichen Sprache verbreitet.

Erst seit kurzem wagen die Gelehrten, in ihrer Muttersprache zu schreiben, und schämen sich nicht mehr, Deutsche zu sein. Wie Sie wissen, ist es noch nicht lange her, daß das erste Wörterbuch der deutschen Sprache98-1 erschienen ist. Ich erröte, daß ein so nützliches Werk nicht ein Jahrhundert vor mir auf die Welt kam. Indes mehren sich die Anzeichen, daß ein Umschwung der Geister sich vorbereitet. Der Nationalruhm macht sich geltend. Man hegt den Ehrgeiz, den Nachbarn gleichzukommen, und will sich Wege zum Parnaß und zum Tempel des Gedächtnisses bahnen. Die Feinfühligen unter uns spüren das schon. Man übersetze also die Werke der alten und neuen Klassiker in unsre Sprache. Soll das Geld bei uns in Umlauf kommen, so bringen wir es unter die Leute, indem wir die einst so seltenen Kenntnisse verallgemeinern!

Um schließlich nichts zu vergessen, was unsre Fortschritte gehemmt hat, füge ich hinzu, daß die wenigsten deutschen Höfe sich der deutschen Sprache bedient haben. Unter Kaiser Josef sprach man in Wien nur Italienisch; unter Karl VI. wurde Spanisch bevorzugt; unter Franz I., einem geborenen Lothringer, war die Umgangssprache mehr Französisch als Deutsch. Ebenso war es an den kurfürstlichen Höfen. Was konnte der Grund sein? Ich wiederhole: das Spanische, Italienische, Französische waren Sprachen mit feststehenden Regeln, das Deutsche aber nicht. Doch trösten wir uns: in Frankreich ging es ebenso. Unter Franz I., Karl IX., Heinrich III. sprach man in der guten Gesellschaft mehr Spanisch und Italienisch als Französisch, und die heimische Sprache nahm erst ihren Aufschwung, als sie geschlissen, klar und elegant wurde, als sie durch Entlehnung malerischer Ausdrücke aus zahllosen klassischen Werken Farbe und zugleich grammatische Regeln bekam. Unter Ludwig XIV. verbreitete sich das Französische über ganz Europa, und zwar zum Teil den guten Schriftstellern zuliebe, die damals blühten, ja sogar wegen der guten Übersetzungen der Alten, die man in Frankreich hatte. Heutzutage ist diese Sprache zum Schlüssel geworden, der Ihnen in allen Häusern und Städten Einlaß verschafft. Reisen Sie von Lissabon nach Petersburg, von Stockholm nach Neapel: mit Französisch werden Sie überall durchkommen. Durch diese einzige Sprache sparen Sie sich viele andre, die Sie sonst lernen müßten und die Ihr Gedächtnis belasten würden. Anstatt dessen können Sie es mit Wissen erfüllen, was bei weitem vorzuziehen ist.

Das, mein Herr, sind die verschiedenen Hindernisse, infolge deren wir nicht so schnell vorwärts gekommen sind wie unsre Nachbarn. Doch wer zuletzt kommt, über<99>holt bisweilen seine Vorgänger. Das könnte bei uns schneller geschehen, als man glaubt, sobald die Herrscher Geschmack an der Literatur finden, sobald sie Die ermuntern, die sich ihr widmen, und Die loben und belohnen, die am meisten geleistet haben. Wenn wir erst Medizäer haben, werden wir auch Genies erblühen sehen. Ein Augustus wird einen Virgil hervorbringen. Wir werden unsre Klassiker haben. Jeder wird sie lesen, um von ihnen zu lernen. Unsre Nachbarn werden Deutsch lernen. Die Höfe werden mit Vergnügen Deutsch sprechen, und es kann geschehen, daß unsre geschliffene und vervollkommnete Sprache sich dank unsren guten Schriftstellern von einem Ende Europas zum andren verbreitet. Diese schönen Tage unsrer Literatur sind noch nicht gekommen, aber sie nahen. Ich künde sie Ihnen an, sie stehen dicht bevor. Ich werde sie nicht mehr sehen. Mein Alter raubt mir die Hoffnung darauf. Ich bin wie Moses: ich sehe das gelobte Land von ferne, aber ich werde es nicht betreten. Entschuldigen Sie diesen Vergleich. Moses bleibt darum doch, was er ist, und ich will mich durchaus nicht mit ihm in Vergleich stellen. Die schönen Tage der Literatur aber, die wir erwarten, sind mehr wert als die kahlen und dürren Felsen des unfruchtbaren Idumäa.

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10-1 Zu dieser Abhandlung wurde Friedrich durch Voltaires Schrift „Eléments de la philosophie de Newton“ angeregt. Wie er am 30. September 1738 an Voltaire schreibt, beabsichtigte er zu beweisen, „daß philosophische oder religiöse Meinungsverschiedenheiten niemals die Bande der Freundschaft und Menschlichkeit bei den Menschen lockern dürfen. Daher mußte ich beweisen, daß der Irrtum unschuldig war, und das habe ich getan.“

14-1 Glücklich preis' ich den Mann, der den Grund der Dinge erkannt hat. (Der Vers stammt nicht von Lukrez, sondern von Virgil, Georgica II, 490.)

17-1 Pyrrhon, griechischer Philosoph, Begründer der älteren skeptischen Schule (um 360—270 v. Chr.). Pyrrhonismus gleichbedeutend mit Skepsis.

17-2 Die Lehrstätte des Aristoteles in Athen.

17-3 Ursprünglich die Lehrstätte des Plato, dann die von ihm gestiftete Schule. Hier ist die sogenannte mittlere Akademie gemeint, die eine skeptische Tendenz verfolgte, wenn auch nicht mit der Entschiedenheit Pyrrhons.

18-1 Vgl. Bd. VII, S. 241.

19-1 Gandalin ist der Schildknappe des Amadis von Gallien in dem gleichnamigen Ritterroman, Pharamund, der sagenhafte erste König der Franlen, Held des einst berühmten gleichnamigen Romans von La Calprenède († 1661), einer sagenhaften Geschichte Frankreichs.

22-1 Die obige Abhandlung entstand ungefähr gleichzeitig mit Coccejis Entwurf eines Landrechts und bald nach Montesquieus Schrift „Esprit des Iois“, durch die Friedrichs Auffassung mehrfach beeinflußt erscheint. Der Aussatz wurde nach dem am Schluß angegebenen Vermerk am I. Dezember 1749 beendet und am 22. Januar 1750 in der Akademie verlesen.

23-1 Der ägyptische Totengott Osiris, Bruder und Gatte der Isis, wurde von einer ägyptischen Volkssage, die Plutarch berichtet, zum Herrscher und Gesetzgeber der Ägypter gemacht.

25-1 Als Quellen nennt der König: Livius, Plutarch, Cicero, Dionys von Halikarnaß, „Antiquitates romanae“.

26-1 Fußnote des Königs: „Es gab nur zwei Arten von Intestaterben: Kinder und männliche Verwandte.“

3-1 Die obige Vorrede ist im August 1739 verfaßt. Sie war für eine Prachtausgabe der „Henriade“ bestimmt, die Friedrich zu veranstalten beabsichtigte und für die u. a. Knobelsdorff Vignetten zeichnen sollte. Vgl. auch die „Gedächtnisrede auf Voltaire“.

3-2 „La Ligue“, Paris 1723.

33-1 Das römische Jus talionis.

34-1 Am 17. August 1756 erging das grundlegende „Edikt zur Verhütung des Kindesmordes“, sowie am 8. Februar 1765 ein weiteres Edikt, das u. a. die bisherigen entehrenden Strafen aufhob.

34-2 Der König erklärt in einer Fußnote unter Berufung auf Rapin,Thoyras: „Bei der Feuerprobe gab man dem Angeklagten ein glühendes Eisen in die Hand. War er so glücklich, sich nicht zu verbrennen, so ward er freigesprochen, im andren Falle als schuldig bestraft. Bei der Wasserprobe warf man den An, geklagten gebunden ins Wasser. Schwamm er obenauf, so war er unschuldig.“ Bekanntlich waren solche und andre Gottesurteile, wie der Zweikampf, der mittelalterlichen Justiz in allen tändern geläufig.

35-1 Sofort nach Antritt seiner Regierung, durch Kabinettsorder vom 3. Juni 1740, schaffte der König die Folter ab; doch blieb sie für einige Ausnahmefälle zunächst noch bestehen und wurde dann 1754 bzw. 1756 ganz beseitigt. Da man aber, statt den modernen Indizienbeweis zuzulassen, den alten Grundsatz des Inquisitionsverfahrens beibehielt, wonach entweder das Zeugnis zweier Nassischer Zeugen oder das Geständnis des Schuldigen zur Verurteilung nötig war, entstanden nun, falls die Zeugen fehlten, allerlei Unzuträglichleiten. So brauchte der zweifellos festgestellte Mörder nur nicht zu gestehen, um der Verurteilung zu entgehen.

35-2 „Lettres sur les Anglais et Ies Français et sur d'autres sujets.“ Nouvelle édition 1728, I, 148.

36-1 Für die Justizreform und die gesetzgeberische Tätigkeit des Freiherrn Samuel von Cocceji, um derentwillen ihn Friedlich auch als neuen Tribonian feierte, vgl. Bd. III, S. 7 f. und VII, S. 118.

37-1 Das 1598 erlassene Edikt von Nantes wurde 1685 von Ludwig XIV. widerrufen.

37-2 Das Edikt vom 22. März 1717 verhängte die Todesstrafe über den, der im Duell den Gegner tötete oder so verwundete, daß dieser den neunten Tag nicht überlebte. Das Duell galt als Verbrechen am Staatskörper, den es seiner Bürger beraubt.

38-1 St. Pierre war der Verfasser der Schrift „Projet de la paix perpétuelle“ (vgl. Bd. VII, S.248).

4-1 Die französische Akademie zählt vierzig Mitglieder.

4-2 Bernard le Bovier de Fontenelle (1657 bis 1757).

4-3 Zum Katholizismus (1593).

40-1 Der von dem König veranstaltete Auszug aus dem „Dictionnaire historique et critique“ von Pierre Bayle (1647—1706) erschien 1765 in zwei Bänden mit der obigen, 1764 verfaßten Vorrede; zwei Jahre später folgte eine neue Ausgabe.

40-2 Nicolas Malebranche (1638—1715).

41-1 Vgl. Bd. VII, S.75.239.

44-1 Die obige Abhandlung wurde am II. Januar 1770 in der Akademie verlesen.

46-1 „Pensées, maximes et réflexions“ , Paris 1665.

47-1 Valerius Maximus, Buch VII, Kapitel 2.

49-1 Das französische Wort libertin ist doppelsinnig. Es umfaßt die Ungebundenheit des Denkens und der Sitten.

5-1 Odyssee, XI. Gesang.

5-2 In der Bartholomäusnacht am 23. August 1572 (II. Gesang, Vers 207).

5-3 König Heinrich III., der letzte des Hauses Valois, wurde am 1. August 1589 von dem fanatischen Mönche Jakob Clement ermordet (V. Gesang, Vers 279).

5-4 VIII. Gesang, Vers 207; IX, 339; X, 148.

50-1 Publius Decius Mus opferte sich als Konsul freiwillig für das Vaterland, um den Sieg in der Schlacht am Vesuv (340 v. Chr.) zu erringen. Sein gleichnamiger Sohn tat dasselbe in der Schlacht bei Sentinum (295 v. Chr.). Nur dessen Opfertod ist historisch beglaubigt.

50-2 Wie Valerius Maximus (Buch IV, Kapitel 3) berichtet, trug sich der Vorgang im Jahre 210 nach der Eroberung von Neu-Karthago in Spanien durch den älteren Scipio Africanus zu.

54-1 Die Abhandlung wurde am 27. Januar 1772 in der Berliner Akademie verlesen. Sie richtet sich gegen die bekannte, 1750 von der Akademie zu Dijon preisgekrönte Abhandlung von Jean Jacques Rousseau: „Le progrès des arts et des sciences a-t-il contribué à amélioer ou a corrompre les mœurs“

55-1 Jean Jacques Rousseau.

58-1 Toiricelli, vgl. Bd. II, S. 44.

58-2 Newton, vgl. Bd. II. S. 44.

58-3 Anspielung auf die 1682 von Bayle veröffentlichte Schrift über den großen Kometen von 1680.

59-1 Pro Archia poeta, Kap. 7.

6-1 Nicolas Poussin († 1665); Lodovico Caracci († 1619): Annibale Caracci († 1609).

6-2 Henri de la Tour d'Auvergne, Vicomte de Turenne, der Vater des berühmten Feldherrn (X. Gesang, Vers 107).

6-3 VIII. Gesang, Vers 322—324.

6-4 Philipp de Mornay Duplessis († 1623), Führer der Protestanten und Freund Heinrichs IV.

6-5 VIII. Gesang, Vers 180—204.

60-1 Varro hat weder ein Gedicht über den Bürgerkrieg noch ein Werk „Origines“ verfaßt. Das letztere, heute verlorene Werk, stammt von Cato. Aber Varro war einer der berühmtesten Gelehrten seiner Zeit, insbesondere ein großer Altertumsforscher.

60-2 Katharina II. von Rußland.

61-1 Descartes war auf Einladung der Königin Christine 1649 nach Schweden gegangen, wo er 1650 starb, nachdem er noch einen Plan für die Stockholmer Akademie entworfen hatte.

61-2 Königin Ulrike von Schweden, die Schwester Friedrichs des Großen und Mutter König Gustavs III. Sie weilte seit Ende des Jahres 1771 zum Besuch am Berliner Hofe und wohnte der Akademiesitzung bei.

62-1 Der obige, im April 1762 verfaßte Aufsatz richtet sich gegen die 1760 von d'Alembert in der Pariser Akademie verlesene Abhandlung: „Réflexions sur la poésie, écrites à l'occasion des pièces que L'Académie a reçues cette année pour le concours.“ Der Aussatz führt daher auch den Untertitel: „Zweifel über t/Alemberts Betrachtungen über die Dichtkunst.“ Jean le Rond d'Alembert, der Freund des Königs, gehörte zu den bedeutendsten Philosophen und Mathematikern des Jahrhunderts.

63-1 Schäferinnen aus Virgils Eklogen.

63-2 Antoinette Deshoulières (1633—1694), genannt die zehnte Muse.

64-1 Pierre Varignon (1654—1722), berühmter französischer Mathematiler.

64-2 Joseph Guichard Duverney (1648—1730), berühmter französischer Anatom.

64-3 Boileau-Despréaux (1636—1711), als Verfasser der „Art poétique“ (1674) und zahlreicher Satiren und Episteln der Diktator des klassizistischen Geschmacks in Frankreich.

64-4 Leonhard Euler (1707—1783).

65-1 Pro Archia poeta, Kap. 6.

65-2 Boileau, Epistel X, Vers 26; Brief IX an Maucroir.

65-3

Et son corps désormais privé de sépulture
Des chiens dévorants deviendra la pâture.

Diese Verse, deren zweiter einen metrischen Fehler hat, kommen bei Racine nicht vor. Vielleicht liegt eine Reminiszenz an „Athalie“, II. Akt, 5. Szene vor:
     

Mais je n'ai plus trouvé qu'un horrible mélange
D'os et de chair meurtris et traînés dans la fange,
Des lambeaux pleins de sang et des membres afreux,
Que des chiens dévorants se disputaient entre eux.
(Doch fand ich nur noch einen grausen Klumpen
Von Fleisch und Knochen, durch den Kot gerissen.
Zermalmte Glieder sahn aus blutigen Lumpen,
Ein Fraß, um den sich gierige Hunde bissen.)

66-1

Bientôt ils défendront de peindre la Prudence,
De donner a Thémis ni bandeau, ni balance.

66-2 De Oratore II, Kap. 21.

67-1 Horaz, Ars poetica, 361: Die Poesie soll der Malerei gleichen.

67-2 Von Boileau verspottete Stümper.

67-3

Oui, Mitrane, en secret I'ordre émané du trône
Remet entre tes bras Arzace à BabyIone.

„Semiramis“„L'ordre en secret émané du trône, Mitrane.“

68-1 Claude Favre de Vaugelas (1585—1650), berühmter Grammatiker und Mitarbeiter am „Dictionnaire de I'Académie française“.

68-2 Jean Baptiste Rousseau (1671—1741).

68-3 Aus dem Griechischen übersetzt von Boileau.

69-1 Je l'aimais inconstant; qu'aurais-je fait fidèle? „Andromache“, IV. Akt, 5. Szene.

7-1 Achille de Harlay, Präsident des Pariser Parlaments (IV. Gesang, Vers 439).

7-2 IV. Gesang, Vers 467. 468.

7-3 Nicolas Polier de Blancmesnil, Präsident des Pariser Parlaments (VI. Gesang, Vers 83—134).

7-4 Heinrich IV.

72-1 Christian Huyghens (1629—1695), holländischer Naturforscher.

72-2 Die von dem Neuplatoniler Plotin geschaffene Vorstellung von den plastischen oder geheimen Kräften, die als Emanationen der Gottheit die Welt erfüllen, wurde von den englischen Naturforschern zu Newtons Zeit übernommen, um das Kräftespiel der Natur, insbesondere die Anziehungskraft, zu erklären.

74-1 Vgl. dazu die Einleitung und Anhang (Nr. 1).

74-2 Der jüngere Scipio.

76-1 Freiherr Friedrich Rudolf von Canitz (1654—1699), dessen Poesien 1700 unter dem Titel: „Nebenstunden unterschiedener Gedichte“ erschienen.

76-2 Salomon Geßner (1730—1788). Seine „Idyllen“ erschienen 1756 und 1772.

76-3 Johann Jacob Mascov (1689—1761), Professor der Geschichte in Leipzig. Offenbar denkt der König nicht an dessen „Geschichte der Teutschen“, die schon mit dem Ausgang der Merowinger schließt, sondern an die 1747 erschienene und später erweiterte „Einleitung zu den Geschichten des Römisch, Teutschen Reichs bis zum Absterben Kaiser Karls VI.“.

76-4 Johann Jakob Quandt (1686—1772), Oberhofprediger in Königsberg. Dort hörte ihn Friedrich im August 1739 und dann im Herbst 1740, wo Quandt die Huldigungspredigt hielt.

76-5 Früher bezogen auf die Elegie „Die Mädcheninsel“ von Johann Nikolaus Goetz (1721—1781). Es handelt sich aber wahrscheinlich um Ewald Christian von Kleists Gedicht „Der Frühling“, das 1749 ohne Nennung des Verfassers erschienen war.

77-1 „Der Postzug oder die noblen Passionen“ (1769) von Cornelius Hermann von Ayrenhoff(1733 bis 1819).

77-2 Vgl. S. 60 und Anhang (Nr. 1).

77-3 Nach der Schlacht von Pavia (1525). Vgl. Bd. VII, S. 252 f.

78-1 Im Dom zu Speyer.

78-2 Vielmehr ist an Leipzig zu denken.

8-1 Die Witwe König Heinrichs II. und Mutter der Könige Karl IX. und Heinrich III.

80-1 Diese Wendung stammt nicht von dem berühmten Juristen Heineccius, sondern von Adam Ebert, Professor zu Frankfurt a. O., der 1723 unter dem Pseudonym Aulus Apronius die Beschreibung einer Reise durch Deutschland veröffentlichte. 1724 erschien eine zweite Auflage mit einer Widmung an Königin Sophie Dorothea von Preußen, die er „Höchststrahlender Karfunkel an der Stirne der Tugendkönigin von Europa“ anredet, während er den König „den großen Diamanten an dem Finger der itzigen Zeit“ nennt.

81-1 Die Schriften von Justus Moser waren dem König jedenfalls unbekannt. In dem Hinweis auf das „Osnabrücker Gewohnheitsrecht“, auf das im folgenden erwähnte Kloster Sankt Gallen liegt bittere Ironie, verband doch die damalige Zeit mit allem Westfälischen die Vorstellung des Groben und Bäurischen und mit dem Kloster Sankt Gallen den Begriff der Einfalt und Beschränktheit.

81-2 Friedrich Hoffmann (1660—1742), Professor in Halle.

81-3 Hermann Boerhave (1668—1738), Professor der Medizin, Botanik und Chemie in leiden.

81-4 Ein alter König der Ägypter.

82-1 Jacopo Sannazaro (1458—1530), Verfasser des Gedichts „Arcadia“.

82-2 Pietro Bembo (1470 bis 1547), italienischer Humanist, schrieb in lateinischer und italienischer Sprache.

82-3 Die noch jetzt bestehende Akademie wurde 1582 in Florenz zum Zweck der Reinigung der italienischen Sprache begründet. Ihr Name Crusca (Kleie) bedeutet, daß sie das Mehl von der Kleie sondern soll. Sie bearbeitet das italienische Wörterbuch.

83-1 Nicht Clément Marot (1495—1544), dessen anmutiger Stil vorbildlich wurde, sondern dessen Vater Jean Marot (1463—1523) ist gemeint.

83-2 François Rabelais (1483-1553), Verfasser des „Gargantua und Pantagruel“.

83-3 Michel de Montaigne (1533-1592), Verfasser der „Essais“, einer ganz neuen Literaturgattung.

83-4 François de Malherbe (1555—1628).

83-5 Edme Bourfault (1636—1701), französischer Dramatiker.

83-6 Vgl. S. 68.

84-1 Epiketos, griechischer Stoiker (geb. um 50 n. Chr.), lehrte meist in Rom, hinterließ aber nichts Schriftliches. Sein Schüler Arrianos (um 100—180 n. Chr.) gab das „Enchiridion Epicteti“ in griechischer Sprache heraus. Auch die Selbsibetrachtungen Mark Aurels sind griechisch geschrieben.

84-2 François de Larochefoucauld (1613—1680). Vgl. S. 46,

85-1 „Soviel Worte, soviel Gewichte.“ Diese Vorschrift findet sich weder bei Horaz noch sonst bei einem römischen Autor.

85-2 Diesem Gedanken des Königs spricht Herder geschichtliche Berechtigung zu, indem er 1793 zum Ludwigslied und zu Otfrieds Evangelienharmonie aus dem 9. Jahrhundert bemerkt: „Flexionen hatte die Sprache damals, wie sie der unsterbliche König Friedrich für sein Ohr wünschen mochte.“

85-3 „Der Kaiser sieht nicht über den Grammatikern.“

86-1 Christian Wolff (1679—1754), Professor in Halle, 1723 von Friedrich Wilhelm I. ausgewiesen, 1740 von König Friedrich zurückberufen. Sein Werk über Logik erschien 1712 unter dem Titel: „Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes.“

86-2 Charles Batteux (1713 bis 1780), französischer Ästhetiker und Professor in Paris. Ein Handbuch der Logik gibt es von ihm nicht. Der König meint vielleicht das von Bayle, das er 1785 für sich und seinen Neffen Friedrich Wilhelm drucken ließ: „Système de philosophie, contenant la logique et la métaphysique.“

86-3 Vgl. S. 58.

86-4 Der vollständige Titel lautet: „Commentaire philosophique sur ces paroles de Jésus-Christ: Contrains-les d'entrer ou traité de la tolérance universelle.“ Vgl. Lukas XIV, 23. Den Anlaß für die Schrift bildete die Aufhebung des Edikts von Nantes (1685).

87-1 Vgl. S. 40ff.

87-2 Nach Quintilian, „Institutio oratoria“. Buch X, 1,106. „IIIi (Demosthenes) nihil detrahi potest, huic (Cicero) nihil adijici.“

87-3 Jacques Bénigne Bossuet (1627—1704), BischofvonMeaur, Verfasser der berühmten „Oraisons funèbres“ und des „Discours sur I'histoire universelle“ (1679).

87-4 Auch Esprit Fléchier (1632—1710), Bischof von Nimes, hat „Oraisons funèbres“ veröffentlicht.

87-5 Jean Baptiste Massillon (1662—1742), französischer Kanzelredner, Verfasser der berühmten Fastenpredigten „Petit carême“ (1718).

87-6 René Aubert, Abbé de Verto (1655—1735), Verfasser der „Histoire des révolutions arrivées dans le Gouvernement de la République romaine.“

87-7 William Robertson (1721—1793), englischer Historiker, Verfasser von „History of the reign of the Emperor Charles V.“ (1769: eine französische Übersetzung erschien 1771 in Amsterdam).

87-8 Schlußfolgerung mit stillschweigend vorausgesetzter Prämisse.

87-9 Personifikation.

88-1 Die deutschen Schauspieler der Döbbelinschen Truppe spielten in Berlin 1768 „Romeo und Julia“, 1775 „Othello“, 1777 „Hamlet“, 1778 „Macbeth“ und „Lear“.

88-2 Goethes Jugenddrama wurde in Berlin zum erstenmal durch die Wandertruppe von Heinrich Gustav Koch am 12. April 1774 aufgeführt.

89-1 Die Lehre Epikurs von der Abweichung der Atome von der senkrechten Fallinie.

89-2 Von Descartes.

90-1 Vgl. S. 40f.

90-2 Vgl. S. 40.

91-1 Bartolo (1314—1357), berühmter italienischer Rechtslehrer; Jacques Cujas (Cujacius), französischer Rechtslehrer (1522—1590).

92-1 Staatsverträge.

92-2 Vgl. S. 22 ff.

92-3 Freiherr Samuel von Pufendorf (1632—1694), Begründer des Naturrechts, Verfasser des Werkes „De jure naturae et gentium“.

92-4 Hugo Grotius (1583—1645), Verfasser des grundlegenden Wertes über das Völkerrecht „De jure belli et pacis“.

92-5 Christian Thomasius (1655—1728), Rechtslehrer, Professor an der Universität Halle. Der König stellt Thomasius lediglich wegen seiner Vortragsweise als Muster hin.

93-1 Pufendorf bezichtigte in seinen „Commentarien“ zur schwedischen Geschichte den Herzog Franz Albrecht von Lauenburg des Mordes an Gustav Adolf in der Schlacht bei Lützen (1632).

94-1 Das „Theatrum europaeum“ bildet eine umfangreiche Materialiensammlung für die Zeit von 1616 bis 1718 in 21 Foliobänden. König Friedrich Wilhelm I. hatte bestimmt, ihre Lektüre dem Geschichtsunterricht des Kronprinzen zugrunde zu legen.

94-2 Graf Heinrich Bünau (1697—1762), Verfasser des Werkes „Genaue und umständliche deutsche Kaiser- und Reichshisiorie“, das aber nur bis zum Jahre 918 reicht.

96-1 Vielmehr schon Aristarch von Samos, der 281 v. Chr. den Stillstand der Sonne und die Bewegung der Erde um die Sonne lehrte.

96-2 Georg Bernhard Bilfinger (1693—1750), Anhänger der Leibniz-Wolffschen Schule.

96-3 Albrecht von Haller (1708—1777), Schweizer Dichter und Gelehrter, Anatom, Physiologe und Botaniker, 1736—1753 Professor in Göttingen. König Friedrich machte 1749 den vergeblichen Versuch, ihn für die Berliner Akademie zu gewinnen.

96-4 Karl I. († 1649).

96-5 Der Verfasser des „Leviathan“ (London 1651) war der Philosoph Thomas Hobbes und nicht John Toland.

96-6 Vgl. S. 58.

97-1 Justus Lipsius (1547—1606), Jurist und Philologe, Professor in Jena, dann in Leiden und Löwen; Johann Freinsheim (1608—1660), Philologe, Professor in Upsala, dann in Heidelberg; Johann Friedrich Gronov (1611—1671), Philologe, Professor in Leiden; Johann Georg Graeve (1632 bis 1723), Professor der Beredsamkeit in Utrecht.

98-1 Adelungs Wörterbuch kam in den Jahren 1774 bis 1786 in Leipzig heraus, unter dem Titel: „Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuchs der hochdeutschen Mundart.“ Andrerseits wird Friedrichs Angabe auch bezogen auf das 1741 erschienene „Teutsch-lateinische Wörterbuch“ des Rektors vom Grauen Kloster in Berlin, Johann Leonhard Frisch.