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Vorrede zum Auszug aus dem historisch-kritischen Wörterbuch von Bayle (1764)40-1

Der dem Publikum hier vorgelegte Auszug aus Bayles Wörterbuch findet hoffentlich Anklang. Besonders hat man darauf gesehen, die philosophischen Artikel dieses Wörterbuches zusammenzustellen, in denen Bayle äußerst glücklich war. Trotz den Vorurteilen der Schulweisheit und der Eigenliebe der zeitgenössischen Schriftsieller wagen wir dreist die Behauptung: Bayle hat durch die Kraft seiner Logik alles übertroffen, was die Alten und Neueren in diesem Fache geleistet haben. Man vergleiche seine Werke mit den uns überkommenen Schriften Ciceros „Über die Natur der Götter“ und mit den „Tuskulanen“. Bei dem römischen Redner findet man zwar den gleichen Skeptizismus, mehr Beredsamkeit, einen korrekteren und eleganteren Stil. Dafür zeichnet sich Bayle, obwohl er wenig von Mathematik verstand, durch mathematischen Sinn aus. Seine Beweisführung ist bündiger, schärfer. Er geht gerade auf die Sache los und hält sich nicht mit Plänkeleien auf, wie es Cicero in den genannten Werken bisweilen tut. Auch im Vergleich zu seinen Zeitgenossen, Descartes, Leibniz,die freilich schöpferische Geister waren, oder mit Malebranche40-2, erscheint er, wie wir zu behaupten wagen, als der Größere. Nicht als hätte er neue Wahrheiten entdeckt, sondern weil er stets der exakten logischen Methode treu geblieben ist und die Folgerungen aus seinen Prinzipien am besten entwickelt hat. Er war so klug, sich nie durch ein System festzulegen, wie jene berühmten Männer. Descartes und Malebranche nahmen bei ihrer starken und regen Einbildungskraft die bloßen Fiktionen ihres Geistes bisweilen für bare Wahrheiten. Der eine schuf sich eine Welt, die nicht die wirkliche ist. Der andre verlor sich in Spitzfindigkeiten, verwechselte die Geschöpfe mit dem Schöpfer und machte den Menschen zum Automaten, der durch den höchsten Willen in Bewegung gesetzt wird. Auch Leibniz geriet auf ähnliche Abwege, wenn anders man nicht annehmen will, er habe sein Monadensystem und die prästabilierte Harmonie nur zum Zeitvertreib erfunden und um den Metaphysikern Stoff zum Dis<41>putieren und Streiten zu geben41-1. Bayle hat alle philosophischen Träume der Alten und Neueren mit scharfem und strengem Geiste geprüft und, wie Bellerophon in der Sage, die Chimäre vernichtet, die dem Hirn der Denker entsprang. Er hat nie die weise Lehre vergessen, die Aristoteles seinen Schülern einprägte: „Der Zweifel ist der Vater aller Weisheit.“ Er hat nie gesagt: „Ich will beweisen, daß dies oder jenes wahr oder falsch ist.“ Stets sieht man ihn getreulich dem Wege folgen, den Analyse und Synthese ihm weisen.

Sein Wörterbuch, dies schätzbare Denkmal unsres Zeitalters, war bisher in großen Bibliotheken vergraben. Der hohe Preis verbot den Gelehrten und den wenig begüterten Liebhabern der Wissenschaft seine Anschaffung. Wir nehmen diese Medaille aus ihrem Kabinett und prägen sie zu gangbarer Münze um. Ein Unbekannter veröffentlichte vor einigen Jahren einen „Esprit de Bayle“. Ihm scheint der Plan, den wir heute ausführen, vorgeschwebt zu haben, nur mit dem Unterschiede, daß er nicht alle philosophischen Artikel vereinigt und mehrere geschichtliche in seine Sammlung aufgenommen hat. In der vorliegenden Auswahl ist alles Geschichtliche fortgelassen, well Bayle sich in einigen Anekdoten und Tatsachen irrte, die er auf das Zeugnis schlechter Gewährsmänner hin erzählte, und weil man Geschichte ganz gewiß nicht in Wörterbüchern studieren soll.

Der Hauptzweck dieses Auszuges ist die allgemeinere Verbreitung von Bayles bewundernswerter Logik. Er ist ein Brevier des gesunden Menschenverstandes und die nützlichste Lektüre für Personen jedes Ranges und Standes. Denn es gibt für den Menschen kein wichtigeres Studium als die Bildung seiner Urteilskraft. Wir berufen uns auf alle, die etwas Weltkenntnis besitzen. Sie werden oft bemerkt haben, welche nichtigen und unzulänglichen Gründe das Motiv zu den wichtigsten Handlungen bilden.

Wir sind nicht so einfältig, zu wähnen, man brauche nur Bayle gelesen zu haben, um richtig zu denken. Wie billig, unterscheiden wir die Gaben, die die Natur den Menschen geschenkt oder versagt hat, von dem, was die Kunst an ihnen vervollkommnen kann. Aber ist es nicht schon etwas wert, wenn man den guten Köpfen Hilfsmittel liefert, die unmäßige Neugier der Jugend zügelt und den Dünkel der hochmütigen Leute demütigt, die so leicht dazu neigen, Systeme zu zimmern? Welcher Leser sagt, wenn er die Widerlegung der Systeme des Zeno und Epikur liest, nicht zu sich selbst: „Wie? Die größten Philosophen des Altertums, die zahlreichsten Sekten waren dem Irrtum unterworfen? Um wieviel mehr bin ich also in Gefahr, mich oft zu täuschen! Wie? Ein Bayle, der sein ganzes Leben lang mit philosophischen Disputen zugebracht hat, zog, aus Furcht, sich zu irren, so vorsichtig seine Schlüsse? Um wieviel mehr muß ich also mich hüten, voreilig zu urteilen!“ Nachdem man die Widerlegung so vieler menschlicher Meinungen gesehen hat — wie sollte man da nicht<42> überzeugt werden, daß die metaphysische Wahrheit fast stets jenseits der Grenzen unsrer Vernunft liegt? Man treibe seinen wilden Renner in diese Laufbahn — er wird bald von unüberschreitbaren Abgründen gehemmt. Solche Hindernisse offenbaren uns die Schwäche unsres Geistes und stoßen uns weise Scheu ein. Das ist der größte Nutzen, den man sich von der Lektüre dieses Buches versprechen kann.

Aber wozu, wird man sagen, soll ich meine Zeit mit dem Suchen nach Wahrheit vergeuden, wenn sie doch über unsren Horizont geht? Auf diesen Einwand antworte ich: es ist eines denkenden Wesens würdig, sich wenigstens anzustrengen, ihr näherzukommen. Und wenn man sich ernstlich darum bemüht, hat man zum mindesten den Gewinn, einer Unzahl von Irrtümern ledig zu werden. Trägt euer Acker auch nicht viele Früchte, so trägt er doch wenigstens keine Dornen mehr und ist zum Anbau geeigneter. Ihr werdet den Spitzfindigkeiten der Logiker weniger trauen und unvermerkt etwas von Bayles Geist bekommen. Ihr werdet beim ersten Blick die schwache Seite einer Beweisführung entdecken und auf den dunklen Pfaden der Metaphysik fortan weniger Gefahr laufen.

Sicherlich wird mancher im Publikum anders denken als wir und sich wundern, daß wir Bayles Schriften so vielen Werken über Logik vorziehen, die den Markt überschwemmen. Die Antwort ist leicht. Die Anfangsgründe der Wissenschaften sind von einer gewissen Trockenheit, die sich aber verliert, wenn sie von einem geschickten Meister behandelt werden.

Da unser Gegenstand uns auf diesen Punkt führt, so ist es vielleicht nicht unangebracht, wenn wir der Jugend einen Fingerzeig geben, welchen verschiedenen Gebrauch Redner und Philosophen von der Logik machen. Ihr Ziel ist völlig verschieden. Der Redner begnügt sich mit Wahrscheinlichkeit, der PHUosoph verwirft alles, was nicht Wahrheit ist. Vor Gericht bietet der Redner, der seine Klienten zu verteidigen hat, alles auf, um sie zu retten. Er macht den Richtern etwas vor, gibt den Dingen andre Namen. Lasier sind ihm nur Schwächen und Vergehen beinahe Tugenden. Er beschönigt und bemäntelt die Nachteile seiner Sache, und reicht das noch nicht aus, so nimmt er die Leidenschaften zu Hilfe und wendet alle Macht der Beredsamkeit an, um sie aufzustacheln. Die Kanzelberedsamkeit hat zwar Ernsteres zum Gegenstand als die gerichtliche, aber ihre Methode ist die gleiche. Fromme Seelen seufzen darum oft genug über die wenig scharfsinnige Wahl der Beweise, die der Redner — jedenfalls aus Mangel an Urteilskraft — vorbringt. Leider gibt er dadurch den streitsüchtigen und spitzfindigen Geistern gewonnenes Spiel, die sich nicht mit schwacher Beweisführung und prunkhaften Worten abspeisen lassen.

Solches Wortgeklingel, solche Spitzfindigkeiten, solche seichten Begründungen — nichts von alledem wird in der strengen, exakten Beweisführung der guten Philosophen geduldet. Sie wollen nur durch Evidenz und Wahrheit überzeugen. Sie prüfen ein System mit gerechtem, unparteiischem Geiste, führen alle Beweise zu seinen Gunsten an, ohne sie zu beschönigen oder abzuschwächen, erschöpfen alle Gründe, die<43> dafür sprechen, und bekämpfen es danach mit gleichem Nachdruck. Zuletzt fassen sie alle Wahrscheinlichkeiten dafür und dagegen zusammen, und da bei diesen Fragen selten völlige Evidenz erzielt wird, so lassen sie die Entscheidung in der Schwebe, um kein unbesonnenes Urteil zu fällen.

Ist der Mensch, wie die Schulweisheit behauptet, ein vernunftbegabtes Wesen, so müssen die Philosophen mehr Menschen sein als andre. Darum hat man sie auch stets als Lehrer des Menschengeschlechts betrachtet, und ihre Werke, der Katechismus der Vernunft, können sich zum Nutzen der Menschheit nie genug verbreiten.


40-1 Der von dem König veranstaltete Auszug aus dem „Dictionnaire historique et critique“ von Pierre Bayle (1647—1706) erschien 1765 in zwei Bänden mit der obigen, 1764 verfaßten Vorrede; zwei Jahre später folgte eine neue Ausgabe.

40-2 Nicolas Malebranche (1638—1715).

41-1 Vgl. Bd. VII, S.75.239.