<249>

V. Pädagogische Schriften

<250><251>

Instruktion für die Académie des Nobles in Berlin (1765)251-1

Die Absicht des Königs bei der Gründung dieser Akademie ist die Vorbildung von jungen Edelleuten zum Soldatenstand oder zum Staatsdienst, je nach der Art ihrer Talente. Die Lehrer sollen sich also nicht nur befleißigen, das Gedächtnis ihrer Schüler mit nützlichen Kenntnissen zu erfüllen, sondern vor allem ihrem Geiste Kraft und Regsamkeit geben, damit sie sich in beliebige Gegenstände hineinzuarbeiten vermögen. Vor allem sollen sie ihren Verstand und ihr Urteil ausbilden. Folglich müssen sie ihre Schüler daran gewöhnen, sich von allen Dingen klare und deutliche Begriffe zu machen und sich nicht mit wirren und unbestimmten Vorstellungen zu begnügen.

Da die ökonomische Einrichtung der Anstalt völlig geregelt ist, so beschränkt sich diese Instruktion auf den Unterricht und auf die in jedem Gemeinwesen so nötige Aufsicht.

Unterricht

Seine Majestät will, daß die Schüler die unteren Klassen, den Unterricht in Latein, Katechismus und Religion im Ioachimstalschen Gymnasium durchmachen251-2. In der ersten Klasse sollen sie zugleich Französisch lernen und sich die Grundlagen dieser Sprache in der Akademie erwerben. Nach Absolvierung der ersten Klasse kommen sie in die Hände des Puristen, der ihnen ihre barbarische Mundart abgewöhnen und ihre Stil- und Ausdrucksfehler verbessern soll.

Danach lernen sie bei Herrn Toussaint Rhetorik. Er hat mit dem Unterricht in der Logik zu beginnen, darfaber nicht zuviel Gewicht aufdie verschiedenen schulmäßigen Formen der Beweisführung legen, sondern soll vor allem auf Richtigkeit des Urteils sehen. Er muß sie streng zu klarer Fassung der Begriffe anhalten, darf ihnen keine Zweideutigkeit, keinen falschen Gedanken, keinen schiefen Sinn durchlassen. Er soll sie soviel wie möglich in der Beweisführung üben, sie daran gewöhnen, Schlußfolge, rungen aus gegebenen Voraussetzungen zu ziehen und Gedanken zu verknüpfen. Dann soll er ihnen die Kunstausdrücke erklären und ihnen nach Beendigung des Unterrichts noch eine halbe Stunde Zeit geben, damit sie selbst Bilder, Vergleiche,<252> Anreden, Prosopopöen usw. anfertigen. Hiernach soll er ihnen die Beweisführung des Redners lehren, das Enthymema, das große Argument in fünf Teilen, die verschiedenen Teile der Rede und die Art ihrer Behandlung. Für die gerichtliche Redekunst soll er die Reden Ciceros benutzen, für die beratende Redegattung Demosthenes, für die demonstrative Gattung Fléchier und Bossuet, sämtlich auf Französisch. Ferner kann er einen kleinen Kursus der Poesie mit ihnen durchnehmen, um ihren Geschmack zu bilden. Homer, Birgit, ein paar Oden von Horaz, Voltaire, Boileau und Racine sind die fruchtbaren Quellen, aus denen er schöpfen kann. Das wird den Geist der jungen Leute zieren und ihnen zugleich Geschmack an den schönen Künsten beibringen. Sobald die Schüler einige Fortschritte gemacht haben, soll er sie Reden in allen drei Gattungen verfassen lassen, die sie ohne Hilfe anfettigen müssen. Erst wenn sie ihre Arbeiten vorgelesen haben, soll er sie verbessern.

Der Grammatiker, der dieser Klasse beigegeben ist, soll ihre Sprachfehler ver, bessern und Herr Toussaint ihre Verstöße gegen die Rhetorik. Ferner sollen die jungen Leute die Briefe der Frau von Sevigne, des Grafen d'Esirades252-1 und des Kardinals d'Ossat252-2 lesen und über alle möglichen Gegenstände Briefe verfassen.

Herr Toussaint soll einen Kursus der Kunstgeschichte hinzufügen. Er wird mit Grie, chenland, der Wiege der schönen Künste, beginnen und die Hervorragendsten griechischen Künstler namhaft machen. Dann soll er zu der zweiten Kunstblüte unter Cäsar und Augustus übergehen, zur Wiedergeburt der Künste unter den Medizäern, zu ihrer hohen Vollendung unter Ludwig XIV., und mit den berühmtesten Künstlern unsrer Zeit enden.

Der Geschichts- und Geographielehrer soll einen Auszug der alten Geschichte von Rollin verfassen und den Schülern die großen Zeitalter und die Namen der berühmtesten Männer gut einprägen. Für die römische Geschichte kann er Echard252-3 benutzen, für die Geschichte des Deutschen Reiches einen Auszug aus dem Pater Barre252-4. Das eigentliche Geschichtsstudium soll sich nur von Karl V. bis auf die Gegenwart ersirecken. Diese interessanten Begebenheiten hängen aufs engste mit der Gegenwart zusammen, und ein junger Mann, der in die Welt treten will, darf nicht in Unkennt, nis der Begebenheiten bleiben, die mit den gegenwärtigen Verhältnissen Europas verkettet sind und sie geschassen haben. Der Professor soll nicht nur Geschichte lehren, sondern auch jedesmal nach Beendigung des Unterrichts eine halbe Stunde lang Fragen über den eben behandelten Zeitabschnitt stellen. Dadurch wird er die jungen Leute zu moralischen, politischen und philosophischen Betrachtungen anregen; denn das ist für sie nützlicher als alles, was sie lemen. So wird er sie über den Aberglauben der verschiedenen Völker befragen, z. B.: „Glaubt Ihr, daß Curtius durch seinen<253> Sprung in den Abgrund, der sich in Rom aufgetan hatte, diesen Abgrund schloß? Ihr seht, daß so etwas in unsren Tagen nicht vorkommt; daraus ergibt sich, daß diese Geschichte nur eine alte Fabel ist.“ Die Geschichte des Decius253-1 bietet dem Lehrer eine vorzügliche Gelegenheit, das Herz seiner Schüler zu glühender Vaterlandsliebe zu entstammen, die der fruchtbare Urgrund von Heldentaten ist. Bei Cäsars Geschichte kann er die jungen Leute fragen, was sie von der Handlungsweise dieses Bürgers halten, der sein Vaterland unterjochte. Die Kreuzzüge liefern einen schönen Stoff zur Bekämpfung des Aberglaubens. Die Darstellung der Bartholomäusnacht wird den jungen Leuten Abscheu gegen den Fanatismus einstoßen. Kommt er auf Eincinnatus, Scipio, Ämilius Paulus, so wird er ihnen begreiflich machen, daß ihre Großtaten aus der Liebe zur Tugend entsprangen und daß es ohne Tugend keinen Ruhm, keine wahrhafte Größe gibt. Derart liefert die Geschichte Beispiele zu allem. Ich deute nur die Methode an, ohne den Stoff zu erschöpfen. Ein gescheiter Lehrer wird genug darin finden, um seine Lehrweise nach dem Gesagten einzurichten.

Im Geographieunterricht wird derselbe Professor mit den vier Erdteilen beginnen. Für Asten, Afrika und Amerika genügen die Namen der großen Völker. Europa erheischt genauere Kenntnisse. Da Deutschland das Vaterland der jungen Leute ist, so wird der Professor ausführlich eingehen auf die deutschen Herrscher, die Flüsse Deutschlands, die Hauptstädte jeder Provinz, die Reichsstädte usw. Für diesen Teil seines Unterrichts kann er Hübner253-2 benutzen.

Der Lehrer der Metaphysik wird mit einem kleinen Kursus der Moral beginnen. Er soll von dem Grundsatz ausgehen, daß die Tugend für den, der sie übt, nützlich und förderlich ist253-3. Er wird ohne Mühe beweisen, daß die Gesellschaft ohne Tugend nicht bestehen kann. Als Gipfel der Tugend soll er den Schülern die vollkommenste Selbstlosigkeit hinstellen, kraft deren der Mensch seine Ehre seinem Nutzen, das allgemeine Beste seinem persönlichen Vorteil, das Wohl des Vaterlands seinem eignen Leben vorzieht. Er soll sie zwischen rechtem und falschem Ehrgeiz unterscheiden lehren und ihnen klarmachen, daß der rechtschaffene Ehrgeiz oder Wetteifer die Tugend der großen Seelen ist, die Triebfeder, die uns zu edlen Taten treibt und unbekannte Menschen alles wagen läßt, um ihren Namen im Tempel der Erinnerung zu verewigen. Er soll ihnen einprägen, daß so edler Gesinnung nichts mehr zuwiderläuft, daß nichts uns mehr erniedrigt als Neid und niedrige Scheelsucht. Vor allem soll er den jungen Leuten begreiflich machen, daß, wenn dem menschlichen Herzen ein Gefühl eingeboren ist, es das Gefühl für Recht und Unrecht ist. Insbesondre soll er versuchen, seinen Schülern Begeisterung für die Tugend einzuflößen.

Der metaphysische Kursus soll mit der Geschichte der philosophischen Systeme beginnen, von den Peripathetikern, Epikuräern, Stoikern und Akademikern253-4 bis auf<254> unsre Tage. Der Professor soll den jungen Leuten die Lehrmeinung jeder Sekte genau auseinandersetzen unter Zuhilfenahme der Artikel von Bayle254-1, der „Tuskulanen“ und der Schrift „De natura deorum“ von Cicero in französischer Übersetzung. Dann soll er zu Descartes, Leibniz, Malebranche und schließlich zu Locke übergehen, der sich allein am Faden der Erfahrung durch die Finsternisse der Meta, physik tastet, soweit dieser Faden reicht, und am Rande der für die menschliche Vernunft unzugänglichen Abgründe halt macht. Bei Locke muß der Lehrer also am längsten verweilen.

Indes soll er nach jeder Stunde den jungen Leuten noch eine halbe Stunde Zeit geben, wo sie, durch die Vorschule der Logik und Rhetorik gebildet, die von ihnen geforderten Übungen zu machen imstande sind. Der Professor wird also durch einen der jungen Leute das System des Zeno angreifen und es durch einen andren verteidigen lassen, und so weiter bei jedem System. Danach soll er alles rekapitulieren, was sie über den Gegenstand gesagt haben, sie auf die Schwächen ihrer Angriffe oder Verteidigungen hinweisen, die Gründe ergänzen, die sie nicht angeführt, oder die Folgerungen ziehen, die sie unterlassen haben. Diese Disputationen sollen ohne Vorbereitung stattfinden, erstens, um die jungen Leute zur Aufmerksamkeit im Unterricht anzuhalten, zweitens, damit sie selbständig denken lernen, und drittens, damit sie sich daran gewöhnen, sofort über alle Gegenstände zu reden.

Ich gehe zum Mathematiklehrer über. Herr Sulzer begreift, daß er keine Bernoullis und Newtons heranbilden soll. Trigonometrie und Befestigungslehre sind das, was seinen Schülern am nützlichsten werden kann. Er wird also hierbei und bei allem, was damit zusammenhängt, am längsten verweilen. Daneben wird er einen Kursus der Astronomie abhalten, in dem er alle verschiedenen Systeme bis Newton durchgeht und den Gegenstand mehr historisch als mathematisch behandelt. Auch einen Überblick über die Mechanik wird er hinzufügen, ohne jedoch zu tief auf den Gegenstand einzugehen. Vor allem muß er danach trachten, das Urteil der jungen Leute zu berichtigen und sie nach Möglichkeit daran zu gewöhnen, Schlüsse zu ziehen und die verschiedenen Beziehungen der Wahrheiten untereinander rasch zu erfassen.

Der Rechtslehrer wird Hugo Grotius zur Grundlage seines Unterrichts wählen. Es wird keineswegs verlangt, daß er vollendete Juristen aus ihnen macht. Für einen Mann der großen Welt genügen richtige Begriffe von der Rechtswissenschaft, ohne allzu genaue Detailkenntnisse. Er wird sich also begnügen, seinen Schülern eine Vorsiellung vom bürgerlichen Recht, vom öffentlichen Recht und vom sogenannten Völkerrecht zu geben. Immerhin wird er die jungen Leute darauf hinweisen, daß das Völkerrecht, dem jede Vollstreckungsgewalt fehlt, nur ein leeres Phantom ist, das die Herrscher in ihren Streitschriften und Manifesten heraufbeschwören, selbst dann, wenn sie es selber verletzen. Er wird seinen Unterricht mit der Erläuterung des Codex Fridericianus254-2 beschließen, der als Sammlung der Landesgesetze jedem Untertanen bekannt sein muß.

<255>

Innere Aufsicht

Je drei Schüler haben einen Gouverneur, der bei ihnen schläft und sie zu Sauberteil, Höflichkeit und standesgemäßen Manieren anhält. Er muß ihnen Ungeschliffenheit, gemeine Reden, schlechte und niedrige Manieren, Faulheit usw. abgewöhnen. Einer der fünf Gouverneure soll dem Unterricht regelmäßig beiwohnen, um darauf zu achten, daß die jungen Leute ihre Pflicht tun und dem Lehrgang aufmerksam folgen. Sollen sie nach Beendigung des Unterrichts etwas wiederholen oder aus, wendig lernen oder einen Aufsatz schreiben, so muß der Gouverneur zugegen sein, damit sie ihre Zeit gut anwenden und sie nicht mit Allotria und Torheiten vertun.

Die Zeiteinteilung des Unterrichts soll wie bei andren Schulen geregelt werden. Im Sommer Aufstehen um 6 Uhr, Beginn des Unterrichts um 7. Im Winter Ausstehen um 7 Uhr, Beginn des Unterrichts um 8. Um 12 Uhr gemeinsames Mittagessen der Schüler und Gouverneure. Um 1 Uhr muß alles von Tisch aufgestanden sein. Abendbrot im Sommer um 8 Uhr. Um 9 Uhr muß alles im Bette liegen, im Winter um 10 Uhr.

Unterricht im Katechismus nur dreimal wöchentlich und zwei Stunden beim Pfarrer. Eine Predigt am Sonntag genügt. Mittwoch und Sonntag nachmittag sind frei. Die jungen Leute dürfen die Ansialt nur in Begleitung eines oder zweier Gouverneure verlassen. Will ein Schüler einen nahen Verwandten besuchen, so hat ihn der Gouverneur hinzubringen und wieder abzuholen. Im Sommer dürfen die jungen Leute Ball spielen und spazieren gehen. Im Winter können sie sich in einem der großen Säle der Akademie vergnügen oder kleine Lustspiele aufführen.

Die Gouverneure sollen kleine Streiche und Torheiten durchgehen lassen und nur sireng gegen Charakterfehler einschreiten, als da sind Bosheit, Heftigkeit, Launen, vor allem aber Faulheit, Müßiggang und ähnliche Lasier, die den jungen Leuten schaden. Aber Frohsinn, gute Einfälle, alles, was Geist verrät, dürfen sie ja nicht unterdrücken. Für die Leibesübungen sollen die Schüler einen Tanzmeister erhalten, der ihnen drei Stunden wöchentlich gibt. Zweimal wöchentlich sollen sie in der Reitschule von Zehentner Reitunterricht erhalten. Lassen sich die jungen Leute etwas zuschulden kommen, so sind sie zu bestrafen. Wer schlecht gelernt hat, soll eine Eselsmütze tragen. Wer faul ist, soll am selben Tage fasten. Wer boshaft und frech ist, bekommt Arrest bei Wasser und Brot und muß etwas auswendig lernen. Danach wird er tüchtig ausgescholten, bekommt bei Tisch als letzter serviert, darf beim Ausgehen keinen Degen tragen und muß den, den er beleidigt hat, öffentlich um Verzeihung bitten. Ist er starrköpfig, so trägt er so lange die Scheide ohne Degen, bis er Abbitte getan hat. Bei Arreststrafe wird den Gouverneuren verboten, ihre Schüler zu schlagen. Es sind Leute von Stand, denen man vornehme Gesinnung beibringen muß. Die Strafen sollen ihren Ehrgeiz rege machen, aber den Bestraften nicht demütigen.

Die Professoren und Gouverneure haben gegeneinander keine Strafbefugnis. Ist der Lehrer mit einem Schüler unzufrieden, so zeigt er es dem Gouverneur an, der<256> ihn nach den obigen Vorschriften bestraft. Sollte ein Professor mit einem Gouverneur in Streit geraten, so beschweren sie sich beim Leiter der Anstalt256-1, der die Sache nach Billigkeit schlichtet. Der Leiter hat wöchentlich einmal die Ansialt zu inspizieren. Er beginnt mit dem Unterricht und den Zimmern, dann besichtigt er den ökonomischen Teil, sieht zu, ob jeder seine Pflicht tut und die Instruktion des Königs genau befolgt wird. Er ermahnt die Nachlässigen und zeigt sie nach der zweiten vergehlichen Vorhaltung dem König an. Seine Majestät empfiehlt den Gouverneuren, sich vor allem selbst gut und verständig zu führen; denn das Vorbild wirkt stärker als alle guten Lehren, und es wäre für Leute, die die Jugend erziehen sollen, eine Schande, wenn sie mehr Tadel verdienen als ihre Schüler.

Im allgemeinen wird sich die Zweckmäßigkeit der Grundsätze, nach denen die Akademie eingerichtet ist, von selbst ergeben, da sie dem Staate nützliche Untertanen liefern kann, wenn diese Instruktion in allen Punkten streng befolgt wird. Hingegen wird sie durch Pfiichtversäumnis, Nachlässigkeit und Unachtsamkeit der Lehrer und Gouverneure ihren Hauptzweck verfehlen. Indes hofft Seine Majestät, daß die Lehrer und Gouverneure ihre Ehre darein setzen werden, zur Verwirklichung seiner heilsamen Absichten beizutragen, indem sie die jungen Leute eifrig zu guten Sitten anhalten und ihnen Kenntnisse beibringen. Dann wird ihre Arbeit der Anstalt, ihnen selbst und den Schülern zur Ehre gereichen.

<257>

Über die Erziehung
Brief eines Genfers an Herrn Burlamaqui, Professor in Genf
(1769)257-1

ich Ihnen alles auseinandergesetzt hatte, was die Regierung dieses Landes betrifft, glaubte ich Ihre Wißbegier reichlich befriedigt zu haben, aber ich irrte mich. Sie finden, daß der Stoff nicht erschöpft sei. Sie betrachten die Erziehung der Jugend als eine der wichtigsten Aufgaben einer guten Regierung und möchten wissen, welche Beachtung man ihr ln dem Staate schenkt, in dem ich mich aufhalte. Die Frage, die Sie mir in wenigen Worten stellen, wird Ihnen eine Antwort zuziehen, die den Umfang eines gewöhnlichen Briefes überschreitet, da sie mich zu unumgänglichen Erörterungen zwingt.

Gern betrachte ich die unter unsren Augen heranwachsende Jugend, das künftige, der Aufsicht des gegenwärtigen anvertraute Geschlecht, die neue Menschheit, die sich anschickt, den Platz der jetzt lebenden einzunehmen. Sie ist die Hoffnung und die wiederaufblühende Kraft des Staates und wird, gut geleitet, seinen Glanz und Ruhm fortsetzen. Ich bin mit Ihnen der Ansicht, daß ein weiser Fürst seinen ganzen Fleiß daransetzen soll, nützliche und tugendhafte Bürger in seinem Staate heranzubilden. Nicht von gestern auf heute habe ich die Erziehung geprüft, die der Jugend in den verschiedenen Staaten Europas zuteil wird. Die Fülle großer Männer, die die griechische und römische Republik hervorbrachte, haben mich für die Erziehungsweise der Alten eingenommen und mich überzeugt, daß man bei Befolgung ihrer Methode ein Volk heranbilden könnte, das gesitteter und tugendhafter ist als unsre modernen Völker.

Die Erziehung, die der Adel erhält, verdient von einem Ende Europas bis zum andren Tadel. Hierzulande erhält der junge Edelmann den ersten Anstrich von Bildung im Elternhause, den zweiten auf Ritterschulen und Universitäten. Den dritten gibt er sich selbst, da man die jungen Leute zu früh sich selbst überläßt, und das ist der<258> schlechteste. Im Vaterhause schadet die blinde Elternliebe der notwendigen Zucht der Kinder. Besonders die Mütter, die, beiläufig gesagt, ihre Ehemänner ziemlich despotisch regieren, kennen kein andres Erziehungsprinzip als grenzenlose Nachsicht. Die Kinder werden den Händen der Dienstboten überlassen, die ihnen schmeicheln und sie verderben, indem sie ihnen schädliche Grundsätze beibringen, Grundsätze, die in den eindrucksfähigen Jugendjahren nur zu rasch Wurzel schlagen. Der Erzieher, den man ihnen gibt, ist zumeist ein Kandidat der Theologie oder ein angehender Jurist, ein Menschenschlag, der selbst dringend der Erziehung bedürfte.258-1 Bei diesen geschickten Lehrern lernt der junge Telemach seinen Katechismus, Latein, mit Mühe und Not etwas Geographie, Französisch durch den Gebrauch. Die Eltern spenden dem Meisterstück, das sie in die Welt gesetzt haben, Beifall, und da sie fürchten, Verdruß möchte der Gesundheit des neuen Phönix schaden, wagt niemand ihn zu tadeln.

Mit zehn bis zwölf Jahren schickt man den jungen Herrn auf eine Ritterakademle, woran es auch hier nicht fehlt. Es gibt mehrere, wie das Ioachimstalsche Gymnasium, die neue Adelsakademie in Berlin258-2, die Domschule zu Brandenburg und die von Kloster Bergen bei Magdeburg. Sie sind mit tüchtigen Lehrern versehen. Der einzige Vorwurf, den man ihnen vielleicht machen kann, ist der, daß sie nur darauf ausgehen, das Gedächtnis ihrer Schüler anzufüllen, statt sie an selbständiges Denken zu gewöhnen, daß sie ihr Urteil nicht früh genug bilden und es verabsäumen, ihrer Seele höheren Schwung zu geben und ihnen edle und tugendhafte Gesinnungen einzusflößen.

Kaum hat der Jüngling den Fuß über die Schwelle der Schule gesetzt, so vergißt er alles, was er gelernt hat, weil er lediglich den Vorsatz hatte, dem Lehrer seine Lektion auswendig herzusagen. Sobald er das nicht mehr nötig hat, verwischen neue Vorstellungen und Vergeßlichkeit jede Spur des Gelernten. Die auf der Schule verlorene Zeit schreibe ich mehr der fehlerhaften Erziehung als dem Leichtsinn der Jugend zu. Warum macht man dem Schüler nicht klar, daß der Zwang, etwas zu lernen, ihm einst zum größten Vorteil gereichen wird? Warum bildet man nicht sein Urteil, — nicht indem man ihm einfach Logik einpaukt, sondern indem man ihn selbst schlußfolgern lehrt? Das wäre ein Mittel, ihm begreiflich zu machen, daß es für ihn nützlich ist, das eben Gelernte nicht zu vergessen.

Nach dem Abgang von der Akademie schicken die Väter ihre Söhne entweder auf die Universität, oder sie lassen sie ins Heer eintreten, verschaffen ihnen Zivilämter oder berufen sie auf ihre Güter zurück.

Die Universitäten zu Halle oder Frankfurt an der Oder sind es, an denen sie ihre Studien vervollkommnen.258-3 Die Lehrstühle sind mit so guten Professoren besetzt, als die Zeit sie hervorbringt. Indes bemerkt man mit Bedauern, daß das Studium des<259> Griechischen und Lateinischen nicht mehr so betrieben wird wie früher. Anscheinend sind die guten Deutschen der gründlichen Gelehrsamkeit überdrüssig geworden, die sie einst besaßen, und wollen jetzt so billig wie möglich zu wissenschaftlichem Rufkommen.259-1 Sie nehmen sich ein Beispiel an einem Nachbarvolke, das sich mit Liebenswürdigkeit begnügt, und werden sehr bald oberflächlich werden. Das Leben, das die Studenten einst auf den Universitäten führten, war ein Gegenstand öffentlichen Ärgernisses. Die Stätten, die Heiligtümer der Musen sein sollten, waren Schulen des Lasters und der Ausschweifung. Berufsmäßige Raufbolde übten das Handwerk der Gladiatoren. Die Jugend lebte in Saus und Braus, in Ausschreitungen aller Art. Sie lernte alles, was sie nie hätte erfahren dürfen, und was sie hätte lernen sollen, das lernte sie nicht. Die Zügellosigkeit ging so weit, daß Totschläge unter den Studenten vorkamen. Das rüttelte die Regierung aus ihrer Schlaffheit auf. Sie war einsichtig genug, diesem Unwesen zu steuern und die Hochschulen ihrem ursprünglichen Zweck wieder dienstbar zu machen. Seitdem können die Väter ihre Söhne unbesorgt zur Universität schicken, mit dem gerechten Vertrauen, daß sie dort etwas lernen, und ohne zu fürchten, daß ihre Sitten verdorben werden.

Aber trotz der Abschaffung solcher Mißbräuche bleiben noch genug andre, die ebensosehr der Verbesserung bedürfen. Dank dem Eigennutz und der Trägheit der Professoren verbreiten sich die Kenntnisse nicht so ausgiebig, wie es zu wünschen wäre. Die Professoren begnügen sich mit möglichst knapper Erfüllung ihrer Pflicht, lesen ihre Kollegien, und damit gut. Fordern die Studenten Privatstunden von ihnen, so geben sie diese nur für außerordentliche Preise. Die Unbemittelten sind also außerstande, eine öffentliche Ansialt zu benutzen, die jeden belehren und aufklären soll, den der Wissensdrang dorthin treibt.

Ein andrer Mißstand: die jungen Leute arbeiten ihre Reden, Thesen und Disputationen nicht selbst aus, sondern lassen sie von einem Repetitor machen. Ein Student mit gutem Gedächtnis, aber oft ohne Talent, erwirbt sich derart wohlfeilen Beifall. Heißt das nicht, die Jugend zu Faulheit und Müßiggang ermuntern, wenn man sie Nichtstun lehrt? Der Jüngling soll zum Fleiß erzogen werden, selber arbeiten lernen, verbessert werden, seine Arbeit noch einmal umändern. Dann gewöhnt er sich durch wiederholtes Durcharbeiten an richtiges Denken und genauen Ausdruck. Anstatt diese Methode zu befolgen, füllt man das Gedächtnis der Jugend und läßt ihre Urteilskraft verrosten. Man häuft Kenntnisse an, aber ohne die nötige Kritik, die sie nutzbringend machen könnte.

Ein andrer Fehler ist die schlechte Wahl der Autoren, die erklärt werden. In der Medizin ist es in der Ordnung, wenn man mit Hippokrates und Galen beginnt und die Geschichte dieser Wissenschaft — wenn es eine ist — bis auf unsre Tage verfolgt. Anstatt aber das System Hoffmanns259-2 oder irgend eines unbekannten Arztes zu über<260>nehmen — warum nicht lieber die trefflichen Werke von Boerhave260-1 erklären, der die menschlichen Kenntnisse über die Ursachen der Krankheiten und ihre Heilmittel anscheinend so weit gefördert hat, als unsre Fassungskraft reicht? Ein gleiches gilt von der Astronomie und Mathematik. Es ist nützlich, alle Systeme von Ptolemäus bis Newton durchzugehen, aber der gesunde Menschenverstand gebietet, bei dem letzteren stehenzubleiben, da es das vollkommenste und von Irrtümern am meisten gereinigte ist. Halle besaß vorzeiten einen großen Mann, einen geborenen Lehrer der Philosophie. Sie erraten, daß ich den berühmten Thomasius meine260-2. Man braucht nur seine Methode zu befolgen und ebenso zu lehren. Überdies haben die Universitäten die Philosophie noch nicht vom Roste der Pedanterie gesäubert. Man lehrt zwar nicht mehr den Aristotelischen Formelkram noch die Universalia a parte rei. Aber der doctissimus sapientissimus Wolffius260-3 hat in unsren Tagen den alten Schulhelden ersetzt, und an die Stelle der substantiellen Formen sind die Monaden und die prästabilierte Harmonie getreten, ein ebenso widersinniges und unverständliches System wie das aufgegebene260-4. Unverändert wiederholen die Professoren diesen Wust, weil sie sich mit den Kunsiausdrücken vertraut gemacht haben und weil es Mode ist, Wolffianer zu sein.

Eines Tages war ich in Gesellschaft eines jener Philosophen, des starrsten Vertreters der Monadenleyre260-5. Ich wagte ihn bescheidentlich zu fragen, ob er nie einen Blick in die Werke von Locke getan hätte. „Ich habe ihn ganz gelesen“, erwiderte er barsch. — „Ich weiß, mein Herr,“ entgegnete ich, „daß Sie dafür besoldet werden, alles zu wissen. Aber was halten Sie von Locke?“ — „Er ist ein Engländer“, erwiderte er trocken. — „Und wenn er auch zehnmal ein Engländer ist,“ fuhr ich fort, „er kommt mir doch sehr weise vor. Stets hält er sich am Faden der Erfahrung, um sich in den Finsternissen der Metaphysik zurechtzufinden. Er ist vorsichtig, er ist verständlich, was ein großes Verdienst für einen Metaphysiker ist, und ich glaube durchaus, daß er wohl recht haben könnte.“ Bei diesen Worten stieg dem Professor das Blut ins Gesicht. Ein sehr unphilosophischer Zorn drückte sich in seinem Blick und in seinen Gebärden aus, und mit erhobener Stimme dozierte er mir: wie jedes Land sein verschiedenes Klima hätte, so müßte auch jeder Staat seinen nationalen Philosophen haben. Ich erwiderte, die Wahrheit wäre in allen Ländern zu Hause, und es sei zu wünschen, daß recht viel davon zu uns käme, sollte sie auch an den Universitäten für Kontrebande gelten.

Übrigens wird die Mathematik in Deutschland nicht so gepflegt wie in den andren europäischen Ländern. Man behauptet, die Deutschen hätten leine Begabung für Mathematik, was gewiß falsch ist. Die Namen von Leibniz und Kopernikus beweisen das Gegenteil. Der Grund ist meines Erachtens der, daß es dieser Wissen<261>schaft an Aufmunterung fehlt, und besonders an tüchtigen Lehrern, die darin unterrichten.

Ich komme nun auf die adlige Jugend zurück, die wir beim Abgang von der Schule und der Universität verlassen haben. Das ist der Augenblick, wo die Eltern die Entscheidung treffen, welchen Beruf ihre Söhne ergreifen sollen. Gewöhnlich bestimmt der Zufall die Wahl. Die meisten der jungen Herren fürchten den Soldatenstand, weil er in Preußen eine wahre Schule der Sitten ist. Man läßt den jungen Offizieren nichts durchgehen, hält sie zu einem verständigen, geregelten und anständigen Wandel an, sieht ihnen scharf auf die Finger und beaufsichtigt sie streng. Sind sie unverbesserlich, so nötigt man sie, welche Fürsprache sie auch besitzen, den Dienst zu quittieren, und sie haben fortan keine Achtung mehr zu erwarten. Das aber ist ihnen gerade zuwider; denn sie möchten sich gern im Schatten eines großen Namens ungezwungen den Launen ihrer Phantasie und der Zügellosigkeit ihrer Sitten überlassen. Daher kommt es, daß wenig Söhne aus ersten Häusern im Heere dienen. Das Kadettenkorps hilft aus: diese Pfianzschule ist einem Offizier von hohem Verdienst anvertraut261-1, der sein Lebensglück in die Bildung der adligen Jugend setzt, indem er ihre Erziehung leitet, ihre Seele erhebt, ihr tugendhafte Grundsätze einprägt und sich bemüht, sie für das Vaterland nutzbringend zu machen. Da die Anstalt für den armen Adel bestimmt ist, so schicken die ersten Familien ihre Kinder nicht hin. Läßt ein Vater seinen Sohn die Finanz, oder Iusiizlaufbahn einschlagen, so verliert er ihn sofort aus den Augen. Er ist sich selbst überlassen, und der Zufall entscheidet über sein Lebensschicksal. Der künftige Erbe muß nach dem Abgang von der Universität oft auf das väterliche Gut zurückkehren, wo ihm alles, was er hat lernen können, so gut wie nichts nützt. Das ist in großen Zügen der Bildungsgang der adligen Jugend. Daraus entstehen folgende Mißstände.

Die Weichlichkeit der ersten Erziehung macht die jungen Leute weibisch, bequem, faul und schlaff. Anstatt dem Geschlecht der alten Germanen zu gleichen, hält man sie eher für eine nach dem Norden verpflanzte Kolonie von Sybariten. Sie versinken in Nichtstun und Müßiggang, meinen nur zum Vergnügen und zur Bequemlichkeit auf der Welt zu sein und glauben, daß Leute wie sie von der Pflicht entbunden seien, der Gesellschaft nützlich zu sein. Daher ihre Streiche, ihre Torheiten, ihr Schuldenmachen, ihre Ausschweifung und Verschwendung, die so viele reiche Familien hierzulande zugrunde gerichtet haben.

Ich gebe zu, daß diese Fehler ebenso den jungen Jahren wie der Erziehung zur Last fallen, gebe auch zu, daß die Jugend mit geringen Abweichungen überall die gleiche bleibt, da in jenem Alter, wo die Leidenschaften am Heftigsten sind, die Vernunft nicht immer die Oberhand behält. Trotzdem bin ich überzeugt, man könnte durch weise, männlichere und wenn es sein muß, strengere Zucht viele Söhne guter<262> Familien vor dem Untergang retten. Die Regellosigkeit ihrer Sitten zieht hierzulande um so schlimmere Folgen nach sich, als das Recht der Erstgeburt nicht gilt, wie etwa in Österreich und in den andren Provinzen der Kaiserin-Königin. Ein einziges schlechtes Subjekt in einer Familie reicht hin, um sie in Verfall und Armut zu bringen.

So schlagende Beispiele müßten meines Erachtens die Aufmerksamkeit der Väter auf die Zucht ihrer Kinder verdoppeln, damit sie den Glanz ihrer Vorfahren aufrecht zu erhalten vermögen, ihrem Vaterlande nützliche Untertanen werden und sich persönliche Achtung erwerben. Man glaubt insgemein, genug für seine Erben getan zu haben, wenn man Reichtümer für seine Kinder ansammelt, sie versorgt, ihnen Ämter verschafft. Solche Fürsorge ist guter Eltern gewiß würdig, aber darauf darf man sich nicht beschränken. Die Hauptsache ist, ihre Sitten zu bilden und ihr Urteil früh zu reifen. Wie oft hätte ich ausrufen mögen: „Ihr Familienväter, liebt Eure Kinder, dazu fordert man Euch auf. Aber liebt sie mit vernünftiger Liebe, die sich auf ihr wahres Wohl richtet. Betrachtet das junge Geschöpf, das Ihr zur Welt kommen sahet, als ein heiliges Gut, das Euch die Vorsehung anvertraut hat. Eure Vernunft soll ihnen in der Haltlosigkeit ihrer Jugend und in ihren Schwächen als Stütze dienen. Sie kennen die Welt nicht, Ihr aber kennt sie. An Euch ist es also, sie so zu erziehen, wie ihr eigner Vorteil, das Wohl Eurer Familie und der ganzen Gesellschaft es erfordert. Ich wiederhole also: festigt ihre Sitten, prägt ihnen tugendhafte Gesinnung ein, erhebt ihre Seele, erzieht sie zum Fleiß, bildet sorgfältig ihren Verstand, damit sie sich ihre Schritte wohl überlegen, verständig und umsichtig werden, Einfachheit und Mäßigkeit lieben. Dann könnt Ihr Euer Erbe, wenn Ihr sterbt, getrost ihren guten Sitten anvertrauen. Es wird gut verwaltet werden, und Eure Familie wird sich in ihrem Glanze erhalten. Wenn nicht, werden Verschwendung und Ausschweifung mit dem Augenblick Eures Todes beginnen, und könntet Ihr in dreißig Jahren auferstehen, Ihr würdet Euren schönen Besitz in fremden Händen sehen.“

Immer wieder komme ich auf die Gesetze der Griechen und Römer zurück. Ich glaube, man müßte nach ihrem Vorbild die Bestimmung treffen, daß die Söhne erst mit sechsundzwanzig Jahren mündig werden, und die Väter müßten in gewisser Weise für ihr Betragen verantwortlich sein. Sicherlich überließe man die Jugend dann nicht der verderblichen Gesellschaft der Dienstboten. Sicherlich wäre man einsichtsvoller in der Wahl ihrer Lehrer und Erzieher, denen man sein Kostbarstes anvertraut. Sicherlich würde der Vater seinen Sohn selbst zurechtweisen und ihn im Notfalle züchtigen, um aufkeimende Lasier zu ersticken. Fügen Sie dazu noch einige notwendige Verbesserungen in den Schulen und Universitäten. Die Hauptsache wäre die Ausbildung der Urteilskraft neben der Übung des Gedächtnisses262-1. Ferner müßten<263> die Eltern auch nach Abschluß der Studien ein Auge auf ihre Söhne haben, damit sie nicht durch den Umgang mit schlechter Gesellschaft verdorben werden. Denn die ersten guten oder schlechten Beispiele machen auf die Jugend einen so starken Eindruck, daß sie oft ihren Charakter unveränderlich bestimmen. Das ist eine der großen Klippen, vor denen man sie bewahren muß. Hieraus entspringen die Neigung zum Nichtstun, die Ausschweifung, Spielwut und alle Lasier.

Die Pflichten der Väter erstrecken sich aber noch weiter. Ich glaube, sie müßten mehr Kritik anwenden, um die Anlagen ihrer Söhne recht zu erkennen und sie zu dem Berufe zu bestimmen, der ihren Talenten entspricht. Wieviel Kenntnisse sie sich auch erworben haben, sie können nie zu viele besitzen, welchen Beruf sie auch ergreifen. Das Waffenhandwerk erfordert sehr ausgedehntes Wissen. Es ist eine lächerliche und freche Behauptung im Munde vieler Leute: „Mein Sohn will nicht studieren. Zum Soldaten weiß er genug.“ Jawohl, zum gemeinen Infanteristen, aber nicht zum Offizier, der nach den höchsten Stellen strebt, und danach muß sein Ehrgeiz allein trachten. Aber die Ungeduld und der Eifer der Väter gibt auch noch zu einer andren Unzuträglichst Anlaß. Sie wünschen, daß ihre Söhne rasch ihr Glück machen. Sie sollen mit einem Schritt von den unteren Graden zu den höchsten gelangen, noch ehe das Alter sie dazu befähigt und ihr Verstand gereift ist.

Der Dienst in der Justiz, Finanzwirtschaft, Diplomatie und Armee ist für den Edelmann gewiß ehrenvoll. Aber alles wäre verloren in einem Staate, wenn die Geburt über das Verdienst siegte. Dieser Grundsatz ist so irrig, so aberwitzig, daß eine Regierung, die ihn annähme, seine verhängnisvollen Folgen bald spüren müßte. Damit ist nicht gesagt, daß die Regel keine Ausnahme erlaubte, daß es keine frühreifen Menschen gäbe, deren Verdienste und Talente ihre Fürsprecher sind. Es wäre nur zu wünschen, daß dergleichen Beispiele häufiger wären.

Schließlich bin ich überzeugt, daß man aus den Menschen machen kann, was man will. Es sieht fest, daß die Griechen und Römer eine Fülle großer Männer aller Art hervorgebracht haben und daß sie das der männlichen Erziehung dankten, die durch ihre Gesetze geregelt war. Aber wenn diese Beispiele zu veraltet scheinen, so betrachten wir doch die Taten des Zaren Peter I., dem es gelang, ein ganz barbarisches Volk zu zivilisieren. Warum also sollte man bei einem gebildeten Volke nicht einige Erziehungsfehler verbessern können? Man glaubt fälschlich, daß Künste und Wissenschaften die Sitten verweichlichen. Aber alles, was den Geist aufklärt, alles, was den Kreis der Kenntnisse erweitert, erhebt die Seele, anstatt sie zu erniedrigen. Doch das ist hierzulande nicht der Fall. Wollte Gott, die Wissenschaften würden hier mehr geliebt! Die Erziehungsmethode ist mangelhaft. Man verbessere sie, und man wird Sittlichkeit, Tugenden und Talente wiederaufblühen sehen. Die Verweichlichung der Jugend hat mich oft auf den Gedanken gebracht, was wohl Arminius, der stolze Verteidiger Germaniens, dazu sagen würde, wenn er das Geschlecht der Sueven und Semnonen so entartet, herabgekommen und erniedrigt<264> sähe. Aber was würde erst Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst, sagen, er, das Haupt eines männlichen Volkes, der mit Männern die Schweden aus seinen Staaten trieb, die sie verwüsteten! Was ist aus den zu seiner Zeit so berühmten Familien geworden, und was sind ihre Sprößlinge? Ja, was wird erst aus denen werden, die in unsren Tagen blühen? Jeder Vater muß sich mit ähnlichen Betrachtungen zur Erfüllung all der Pflichten ermutigen, die er der Nachwelt schuldet.

Ich komme nun zum weiblichen Geschlecht, das einen so bedeutenden Einfluß auf das andre ausübt. Hier siechen die Frauen von reiferem Alter, die eine höhere Bildung erhalten haben, von denen ab, die erst jetzt in die große Welt treten. Jene besitzen Kenntnisse, geistige Reize und eine stets gemessene Heiterkeit. Der Gegensatz zu den jungen Frauen schien mir so auffällig, daß ich einen meiner Freunde nach der Ursache fragte. Er antwortete mir: „Früher gab es talentvolle Frauen, die Mädchen von Stand in Pension nahmen. Jedermann bemühte sich, seine Töchter bei ihnen unterzubringen. In solchen Ansialten wurden die von Ihnen gelobten Damen erzogen. Aber jene Schulen haben nach dem Tode ihrer Begründerinnen aufgehört. Niemand hat sie ersetzt, und so sah jeder sich genötigt, seine Töchter zu Hause zu erziehen. Die meisten Methoden, die man befolgt, sind tadelnswert. Man gibt sich nicht die Mühe, den Geist der Mädchen zu bilden, läßt sie ohne Kenntnisse und flößt ihnen nicht einmal Gefühl für Tugend und Ehre ein. Die Erziehung dreht sich gewöhn, lich um äußeren Anstand, Manieren und Kleidung. Dazu kommt eine oberflächliche Kenntnis der Musik, die Bekanntschaft mit ein paar Theaterstücken oder Romanen, Tanz und Spiel. Damit haben Sie in kurzem alle Kenntnisse des weiblichen Geschlechts.“

Ich gestehe Ihnen, ich war erstaunt, daß Leute der ersten Stände ihre Töchter wie Theatermädchen erziehen. Sie buhlen schier um die Blicke der Menge, begnügen sich damit, zu gefallen, und scheinen nicht nach Achtung und Ansehen zu trachten. Wie? Ist es nicht ihre Bestimmung, Familienmütter zu werden? Sollte man nicht ihre ganze Erziehung auf dies Ziel richten, ihnen beizeiten Abscheu gegen alles Entehrende einflößen, sie die Vorzüge der Tugend lehren, die nützlich und dauerhaft sind, während die der Schönheit welken und vergehen? Sollte man sie nicht befähigen, ihre Kinder dereinst in guten Sitten aufzuziehen? Aber wie kann man das von ihnen verlangen, wenn sie selbst keine Sitten haben, wenn sie aus Neigung zu Müßiggang, Oberflächlichkeit, Luxus und Verschwendung, ja durch Erregung von öffentlichem Ärgernis ihrer Familie kein gutes Beispiel geben können? Ich gestehe Ihnen: die Nachlässigkeit der Familienväter erscheint mir unverzeihlich. Wenn sich ihre Kinder zugrunde richten, so tragen sie die Schuld daran.

Man hat Nachsicht mit den Zirkassiern, denn sie sind Barbaren, wenn sie ihre Töchter in allen Schlichen der Gefallsucht und Wollust erziehen, um sie dann für teures Geld an das Serail in Konstantinopel zu verkaufen: das ist Sklavenhandel.<265> Wenn aber bei einem freien und gebildeten Volte der höchste Adel sich diesem Brauche anzuschließen scheint, wenn er aus Mangel an Selbstachtung den Tadel geringschätzt, den das Betragen eines Mädchens ohne Tugend und Sitte auf seine Familie bringt, so wird ihm das noch die fernste Nachwelt immer wieder vorwerfen.

Doch zur Sache! Die Sittenlosigkeit der Frauen kommt viel mehr von ihrem müßigen Leben als von der Glut ihres Temperaments. Wenn eine Frau zwei oder drei Stunden vor dem Spiegel zubringt, um über ihre Reize nachzusinnen, sie zu erhöhen und zu bewundern, wenn sie den ganzen Nachmittag mit Klatsch vertut, dann ins Theater geht, am Abend spielt, soupiert und wieder spielt —hat sie dann noch Zeit zur Selbstbesinnung? Und reizt die Langeweile dieses weichlichen, müßigen Lebens sie nicht zu Zerstreuungen andrer Art, und wäre es nur der Abwechslung halber, oder um ein neues Gefühl kennen zu lernen?

Die Menschen beschäftigen, heißt sie vom Lasier abhalten. Das einfache, gesunde und arbeitsame Landleben ist viel unschuldiger als jenes, das ein Haufen Müßig, gänger in den großen Städten führt. Es ist ein alter Grundsatz der Generale, daß man die Soldaten beschäftigen muß, um Unordnungen, Ausschweifungen und Aufruhr im Lager zu verhüten. Die Menschen ähneln sich alle. Wenn man nicht so dumm ist, den schamlosen Wandel seiner Nächsien oder ihr züchtiges und gesittetes Betragen mit gleichen Augen anzusehen, so lehre man sie, sich zu beschäftigen. Ein Mädchen kann sich mit weiblichen Arbeiten, mit Musik, ja mit Tanzen unterhalten. Vor allem aber trachte man danach, ihren Geist zu bilden, ihr Geschmack für gute Werke beizubringen, durch die Lektüre ernster Dinge ihr Urteil zu üben und ihren Geist zu nähren. Sie soll sich nicht schämen, in der Wirtschaft Bescheid zu wissen. Es ist besser, seine Haushaltungsrechnungen selbst zu regeln und in Ordnung zu halten, als sinnlos nach allen Seiten Schulden zu machen, ohne daran zu denken, wie man die Gläubiger bezahlt, die so lange Zeit in gutem Glauben liehen.

Ich gestehe Ihnen, ich war oft empört bei dem Gedanken, wie gering man in Europa diese Hälfte des Menschengeschlechts schätzt. Das geht so weit, daß man alles vernachlässigt, was ihren Verstand ausbilden kann. Es gibt so viele Frauen, die den Männern nicht nachstehen! Es gibt in unsrem Jahrhundert große Fürstinnen, die ihre Vorgänger weit überragen. Es gibt deren — doch ich wage sie nicht zu nennen, aus Furcht, ihnen zu mißfallen und ihre außerordentliche Bescheidenheit zu verletzen, die ihren Talenten und Tugenden die Krone aufsetzt. Männlichere, kraftvollere Erziehung würde dem weiblichen Geschlecht das Übergewicht über das unsre verleihen; denn es besitzt schon die Reize der Schönheit. Aber sind die Reize des Geistes ihnen nicht vorzuziehen?

Doch zurück zum Gegenstand! Die Gesellschaft kann nicht bestehen ohne rechtmäßige Ehen, durch die sie sich fortpflanzt und verewigt. Man muß also die jungen Pflanzen, die die Stämme der Nachwelt werden sollen, pflegen und bilden, sodaß Mann und Weib die Pflichten als Familienhaupt gleichermaßen erfüllen können. Vernunft,<266> Geist, Talente, Sittlichkeit und Tugend müssen der Erziehung beider Geschlechter in derselben Weise zur Grundlage dienen, damit die, die sie empfangen haben, sie auf die übertragen können, denen sie das Leben geben werden.

Um schließlich nichts zu vergessen, was zur Sache gehört, muß ich hier noch auf den Mißbrauch der väterlichen Gewalt gegenüber den Töchtern hinweisen. Man zwingt sie zuweilen unter das Joch der Ehe, obwohl beide Teile nicht zusammen passen. Der Vater bedenkt lediglich das Familieninteresse und folgt in der Wahl des Schwieger/ sohnes oft nur seiner Laune, oder er fällt auf einen reichen Kauz oder einen siewalten Mann oder auf sonst ein Subjekt, das ihm behagt. Er ruft seine Tochter und sagt zu ihr: „Mein Kind, ich habe beschlossen, Dir Herrn Soundso zum Gatten zu geben.“ Die Tochter antwortet seufzend: „Vater, Ihr Wille geschehe.“ So kommen zwei in Charakter, Neigung und Sitten ganz unverträgliche Menschen zusammen. Unfriede zieht in den neuen Haushalt mit dem Tage ein, wo das unselige Band geknüpft wird, und bald folgen Abneigung, Haß und Ärgernis. So gibt es denn zwei Unglückliche, und das hohe Ziel der Ehe ist verfehlt. Mann und Frau trennen sich, vergeuden ihr Vermögen in liederlichem Leben, sinken in Verachtung und endigen im Elend. Ich ehre die väterliche Gewalt wie kein zweiter und lehne mich nicht gegen sie auf. Nur wünschte ich, daß die, die sie in Händen haben, sie nicht mißbrauchen, indem sie ihre Töchter zur Ehe zwingen, wenn infolge des Charakters oder des Altersunterschieds Abneigung herrscht. Mögen sie für sich selbst nach ihrem Gutdünken wählen, aber ihre Kinder befragen, wenn es eine Verbindung zu schließen gilt, von der das Glück oder Unglück ihres ganzen Lebens abhängt! Wenn dadurch nicht alle Ehen besser werden, so wird doch wenigstens denen eine Entschuldigung genommen, die ihr zuchtloses Leben auf den Zwang zurückführen, den ihre Eltern gegen sie geübt haben.

Das sind im allgemeinen die Beobachtungen, die ich hierzulande über die Mängel der Erziehung gemacht habe. Wenn Sie mich als Schwärmer für das öffentliche Wohl tadeln, so werde ich mir diesen Vorwurf zum Ruhm anrechnen. Wer viel von den Menschen verlangt, erreicht wenigstens etwas. Sie, der Vater einer zahlreichen Familie, weise und verständig, wie ich Sie kenne, haben gewiß über Ihre Pflichten als Vater nachgedacht und werden in Ihren eignen Gedanken den Keim derer finden, die ich soeben entwickelt habe. In der großen Welt hat man wenig innere Sammlung und noch weniger Überlegung. Man begnügt sich mit oberflächlichen Ideen, folgt dem Brauch und der Tyrannei der Mode, die sich bis auf die Erziehung erstreckt. Man darf sich also nicht wundern, wenn die Folgen und Ergebnisse den falschen Grundsätzen entsprechen, nach denen man handelt. Ich ärgere mich, wenn ich sehe, welche Mühe man sich in diesem rauhen Klima gibt, um Ananas, Bananen und andre exotische Pflanzen zum Gedeihen zu bringen, während man so wenig Sorgfalt auf<267> das menschliche Geschlecht verwendet. Man mag sagen, was man will: der Mensch ist wertvoller als alle Ananasse der Welt. Er ist die Pfianze, die man züchten muß, die alle unsre Mühe und Fürsorge verdient; denn sie bildet die Zier und den Ruhm des Vaterlandes.

<268>

Dialog über die Moral
Ein moralischer Katechismus zum Gebrauch für die adlige Jugend
268-1

Frage: Was ist Tugend?

Antwort: Eine glückliche Gemütsanlage, die uns treibt, die Pflichten gegen die Gesellschaft zu unsrem eignen Vorteil zu erfüllen.

Frage: Worin bestehen die Pflichten gegen die Gesellschaft?

Antwort: Im Gehorsam gegen unsre Eltern und in der Dankbarkeit, die wir ihnen für die Mühe schulden, die sie sich mit unsrer Erziehung gegeben haben. Wir sollen ihnen mit allen Kräften beistehen, und wenn sie alt und hinfällig sind, ihnen durch Treue und Zärtlichkeit die Dienste vergelten, die sie uns in unsrer hilflosen Kindheit erwiesen haben. Zu treuer Anhänglichkeit an unsre Geschwister mahnt uns die Natur und das Blut. Gleichen Ursprungs mit ihnen, sind wir durch die unauflöslichsten Bande der Menschheit mit ihnen verknüpft. Als Eltern müssen wir unsre Kinder mit aller möglichen Sorgfalt erziehen und besonders auf ihre Bildung und ihre Sitten achten; denn Tugend und Kenntnisse sind tausendmal mehr wert als alle angehäuften Schätze, die wir ihnen als Erbe hinterlassen könnten. Als Staatsbürger haben wir die Pflicht, die Gesellschaft im ganzen zu achten, alle Menschen als Angehörige einer Gattung anzusehen, sie als Gefährten und Brüder zu betrachten, die uns die Natur gegeben hat, und nur so gegen sie zu handeln, wie wir wünschen, daß sie gegen uns handeln. Als Glieder des Vaterlandes sollen wir alle unsre Talente zu seinem Nutzen verwenden und es ehrlich lieben, da es unsre gemeinsame Mutter ist. Wenn sein Heil es erfordert, sollen wir ihm Gut und Blut opfern.

Frage: Oh, das sind gute und schöne Grundsätze! Nur möchte ich wissen, wie Du diese Pflichten gegen die Gesellschaft mit Deinem eignen Vorteil in Einklang<269> bringst. Fällt die Ehrfurcht und der kindliche Gehorsam gegen Deinen Vater Dir nicht schwer, wenn Du seinem Willen nachkommen mußt?

Antwort: Ohne Zweifel kostet mich das Gehorchen manchmal Überwindung. Aber kann ich je dankbar genug gegen die sein, die mir das Leben geschenkt haben? Und gebietet mir mein eigner Vorteil nicht, meinen Kindern selbst ein Vorbild zu sein, damit sie sich meinem Willen ebenso unterwerfen?

Frage: Gegen Deine Gründe ist nichts einzuwenden, ich sage also nichts mehr über diesen Gegenstand. Wie aber wahrst Du die Einigkeit mit Deinen Geschwistern, wenn Familienangelegenheiten oder Erbschaftsstreitigkeiten Euch entzweien, wie es so häufig vorkommt?

Antwort: Glaubst Du denn, die Bande des Blutes seien so schwach, daß sie nicht gegen vergänglichen Eigennutz standhielten? Hat unser Vater ein Testament gemacht, so geziemt es uns, seinem letzten Willen zu gehorchen. Ist er ohne Testament gestorben, so haben wir zur Schlichtung unsrer Zwistigkeiten die Gesetze. Aus nichts kann mir also bedeutender Schaden erwachsen. Ja, selbst wenn mich wütendster Neid und wildeste Streitsucht befielen, ich müßte doch einsehen, daß ein Prozeß den größten Teil unsres Erbes verschlingen würde. Also vergleiche ich mich lieber in Güte, und unsre Familie wird nicht durch Zwietracht zerrissen.

Frage: Ich will glauben, daß Du verständig genug bist, um nicht selbst Anlaß zu Familienzwist zu geben. Aber das Unrecht kann ja von Deinen Geschwistern kommen. Sie können Dir übel mitspielen, Dich beneiden, in ehrenrühriger Weise von Dir reden, Dir Unannehmlichkeiten bereiten, wohl gar an Deinem Untergang arbeiten. Wie bringst Du dann Deine Pflichtstrenge mit dem Vorteil für Dein Glück in Einklang?

Antwort: Sobald ich die erste Entrüstung über ihr Benehmen bezwungen hätte, würde ich meinen Ruhm darein setzen, lieber der Beleidigte als der Beleidiger zu sein. Dann würde ich mit ihnen reden. Ich würde ihnen sagen, daß ich das Blut meiner Eltern in ihnen achtete und deshalb gegen sie nicht wie gegen erklärte Feinde zu handeln vermöchte. Wohl aber würde ich Vorkehrungen treffen, daß sie mir nicht schaden könnten. Solch hochherziges Verfahren würde sie zur Vernunft bringen. Geschähe das aber nicht, so hätte ich doch den Trost, daß ich mir keine Vorwürfe zu machen brauche; und da mein Benehmen den Beifall aller Verständigen finden muß, so würde ich mich hinreichend belohnt fühlen.

Frage: Was nützt Dir aber diese Großmut?

Antwort: Mir das Kostbarste, was ich aus Erden habe, zu bewahren, einen fleckenlosen Ruf, auf den ich mein ganzes Glück baue.

Frage: Welches Glück kann in der Meinung der Menschen liegen?

<270>

Antwort: Nicht auf die Meinung der andren kommt es mir an, sondern auf die unsägliche Befriedigung, die ich fühle, wenn ich einem vernünftigen, menschlichen, wohlwollenden Wesen gleiche.

Frage: Du sagtest vorhin, wenn Du Kinder hättest, würdest Du mehr Sorgfalt darauf verwenden, sie zur Tugend zu erziehen, als Reichtümer für sie anzuhäufen. Warum denkst Du so wenig daran, ihr Glück zu begründen?

Antwort: Weil Reichtümer an sich keinen Wert haben und ihn nur durch ihren rechten Gebrauch erlangen. Bilde ich also die Talente meiner Kinder aus und erziehe sie zur Tugend, so werden sie durch ihre persönlichen Verdienste ihr Glück machen. Wache ich aber nicht über ihre Erziehung und hinterlasse ihnen nichts als Reichtum, so werden sie ihn rasch vergeuden, so groß er auch sei. Überdies wünsche ich, daß meine Kinder wegen ihres Charakters, ihrer Herzensgüte, ihrer Talente und Kenntnisse geschätzt werden, nicht aber wegen ihres Reichtums.

Frage: Das mag für die Gesellschaft sehr nützlich sein, aber welchen Vorteil hast Du davon?

Antwort: Einen sehr großen. Denn bei guter Erziehung werden meine Kinder der Trost meines Alters sein. Sie werden weder meinen Namen noch ihre Vorfahren durch schlechten Wandel entehren, und da sie klug und besonnen sind und Talente besitzen, wird ihnen das Vermögen, das ich ihnen hinterlassen kann, zu anständigem Dasein ausreichen.

Frage: Du glaubst also nicht, daß edle Geburt und berühmte Vorfahren die Nachkommen der Pflicht entheben, selbst etwas zu leisten?

Antwort: Ganz und gar nicht! Das soll sie vielmehr ermutigen, ihre Vorfahren zu übertreffen; denn es gibt nichts Schmachvolleres als ein entartendes Geschlecht. Dann dient der Glanz der Ahnen ja nicht zur Verherrlichung ihrer Nachkommen, sondern er setzt deren eigne Nichtswürdigkeit in um so helleres Licht.

Frage: Ich muß Dich auch um eine Erklärung darüber bitten, was Du von den Pflichten gegen die Gesellschaft behauptetest. Du sagtest, Du dürftest andren das nicht zufügen, was Du nicht willst, daß man Dir tue. Das ist sehr unbestimmt. Ich möchte, daß Du mir auseinandersetzest, was Du darunter verstehst.

Antwort: Das ist nicht schwierig. Ich brauche nur alles durchzugehen, was mich verdrießt und was mir angenehm ist. i. Ich würde mich ärgern, wenn man mir meinen Besitz entrisse; folglich darf ich niemandem das Seine nehmen. 2. Es würde mir unendlichen Schmerz bereiten, wenn man meine Frau verführte; ich darf also das Ehebett eines andren nicht beflecken. 3. Ich verabscheue die Wortbrüchigen und Meineidigen; folglich muß ich mein Wort und meine Eide getreulich halten. 4. Ich hasse die, die mir Übles nachreden; folglich darf ich niemanden ver<271>leumden. 5. Kein Privatmann hat ein Recht auf mein Leben; folglich habe ich auch kein Recht, irgend einem Menschen das seine zu rauben. 6. Wer mir Undank bezeigt, empört mich; wie sollte ich also undankbar gegen meine Wohltäter sein? 7. Wenn ich die Ruhe liebe, werde ich den Frieden der andren nicht stören. 8. Wenn ich mir in meinen Nöten gern helfen lasse, werde auch ich meinen Beistand denen nicht versagen, die mich darum bitten; denn ich kenne das schöne Gefühl, das einen erfüllt, wenn man einer wohltätigen Seele, einem hilfsbereiten Herzen begegnet, das Mitleid mit dem menschlichen Elend hat, den Unglücklichen hilft, sie verteidigt und rettet.

Frage: Ich sehe, daß Du das alles für die Gesellschaft tust; was aber hast Du selber für Vorteil davon?

Antwort: Die süße Genugtuung, so zu sein, wie ich es wünsche, wert, Freunde zu besitzen, würdig der Achtung meiner Mitbürger, würdig meines eignen Beifalls.

Frage: Bringst Du bei einem solchen Verhalten nicht alle Deine Wünsche und Neigungen zum Opfer?

Antwort: Ich halte sie im Zaum, und wenn ich sie unterdrücke, geschieht es zu meinem eignen Nutzen, zur Aufrechterhaltung der Gesetze, die den Schwachen gegen die Angriffe des Starken schützen, zur Wahrung meines Rufes und um den Strafen zu entgehen, die die Gesetze bei Übertretungen androhen.

Frage: Allerdings bestrafen die Gesetze öffentliche Übeltaten. Aber wie viele schlechte Handlungen bleiben in Dunkel gehüllt und entziehen sich dem scharfen Auge der Gerechtigkeit! Warum willst Du nicht zur Zahl jener glücklichen Übeltäter gehören, die im Schatten der Straflosigkeit ihre Frevel genießen? Böte sich Dir also eine heimliche Gelegenheit, Dich zu bereichern, so würdest Du sie vorübergehen lassen?

Antwort: Wenn ich aufrechtmäßige Weise zu Wohlstand kommen kann, würde ich es gewiß nicht verabsäumen. Wäre es aber nur durch unredliche Mittel möglich, so würde ich auf der Stelle darauf verzichten.

Frage: Weshalb?

Antwort: Weil nichts so verborgen ist, daß es nicht an den Tag käme. Früher oder später enthüllt die Zeit doch die Wahrheit. Ich würde unrecht erworbenes Gut nur mit Zittern besitzen und mein Leben in der steten furchtbaren Erwartung des Augenblicks hinbringen, der meine Schande aufdeckte und mich auf ewig vor der Welt entehrte.

Frage: Gleichwohl ist die Moral der großen Welt ziemlich locker. Wieviel Unrecht, wieviel Betrug, wieviel Treulosigkeit würde zutage kommen, wollte man untersuchen, mit welchem Rechte jeder sein Gut besitzt! Ermutigen solche Beispiele Dich nicht zur Nachahmung?

<272>

Antwort: Sie könnten mich nur über die Verderbtheit der Menschen traurig stimmen. Aber wie ich weder einem Buckligen noch einem Blinden ähnlich sein möchte, so halte ich es auch für eine unwürdige Erniedrigung einer edlen Seele, sich das Lasier zum Vorbild zu nehmen.

Frage: Trotzdem gibt es unentdeckte Verbrechen.

Antwort: Zugegeben! Aber die Verbrecher sind nicht glücklich. Wie ich Dir schon sagte, werden sie von Furcht vor Entdeckung und von Heftigsten Gewissensbissen gequält. Sie empfinden es tief, daß sie eine betrügerische Rolle spielen und ihre Ruchlosigkeit unter der Maske der Tugend verbergen. Ihr Herz verwirft die falsche Achtung, die ihnen zuteil wird, und sie selbst verdammen sich insgeheim zu der tiefsten Verachtung, die sie verdienen.

Frage: Es ist fraglich, ob Du so dächtest, wenn Du in solcher Lage wärest.

Antwort: Könnte ich die Stimme meines Gewissens und die rächende Reue ersticken? Das Gewissen gleicht einem Spiegel. Wenn unsre Leidenschaften schlafen, zeigt es uns unsre ganze Mißgestalt. Ich sah mich darin unschuldig und soll mich nun schuldbedeckt sehen? Ach! Ich würde in meinen eignen Augen zum Gegenstand des Abscheus werden! Nein, nie werde ich mich aus freien Stücken dieser Erniedrigung, diesem Schmerz, dieser Marter aussetzen!

Frage: Es gibt jedoch Raub und Erpressungen, die der Krieg zu rechtfertigen scheint.

Antwort: Der Krieg ist ein Handwerk für Ehrenmänner, wenn die Bürger ihr Leben im Dienste des Vaterlandes aufs Spiel setzen. Mischt sich aber Eigennutz ein, so artet dies edle Handwerk zu bloßer Räuberei aus.

Frage: Nun, wenn Du auch nicht eigennützig bist, so wirst Du doch zum min, besten Ehrgeiz besitzen, wirst wünschen, emporzukommen und Deinesgleichen zu befehlen.

Antwort: Ich mache einen großen Unterschied zwischen Ehrsucht und Wetteifer. Die Ehrsucht ist oft maßlos und grenzt an das Lasier, aber der Wetteifer ist eine Tugend, nach der man trachten muß. Er treibt uns an, unsre Mitbewerber ohne Neid zu übertreffen, indem wir besser als sie unsre Pflichten erfüllen. Er ist die Seele der schönsten Taten im Kriege und im bürgerlichen Leben. Er wünscht zu glänzen, will aber seine Erhebung nur der Tugend im Verein mit höheren Talenten verdanken.

Frage: Könntest Du aber dadurch zu einer hohen Stellung gelangen, daß Du jemand einen schlechten Dienst erwiesest, würde dieser Weg Dir nicht kürzer erscheinen?

<273>

Antwort: Die Stellung könnte meine Begier erregen. Trotzdem möchte ich niemals zum Mörder werden, um sie zu erlangen.

Frage: Was nennst Du, zum Mörder werden?

Antwort: Einen Menschen töten, ist für den Getöteten nicht so schlimm als ihn zu entehren. Gilt es doch gleich, ob man ihn mit der Zunge oder mit dem Dolche meuchelt273-1.

Frage: Du würdest also niemanden verleumden. Dennoch kann es geschehen, daß Du jemanden tötest, ohne ihn zu ermorden. Nicht als ob ich Dir einen kaltblütigen Totschlag zutraute! Aber wenn einer Deiner Standesgenossen Dir seine Feindschaft erklärt und Dich verfolgt, wenn ein Flegel Dich beschimpft und entehrt, kann der Zorn Dich hinreißen und das süße Gefühl der Rache Dich zu einer gewaltsamen Tat treiben.

Antwort: Das sollte nicht geschehen! Aber ich bin ein Mensch, mit lebhaften Leidenschaften begabt. Ich würde sicherlich einen schweren Kampf zu bestehen haben, um die erste Zorneswallung zu unterdrücken; gleichwohl müßte ich sie bezwingen. Privatbeleidigungen zu rächen, ist Sache des Gesetzes; kein einzelner hat ein Recht zur Bestrafung derer, die ihn beschimpfen. Wollte es aber das Unglück, daß die erste Aufwallung die Oberhand über meine Vernunft gewänne, so würde ich es zeitlebens bereuen.

Frage: Wie würdest Du dies Benehmen als Soldat mit dem vereinigen, was die Ehre einem Mann von Stand gebietet? Wie Du weißt, stehen die Ehrengesetze leider in allen Ländern mit den bürgerlichen Gesetzen in schroffem Widerspruch.

Antwort: Ich würde mir ein verständiges, maßvolles Benehmen zur Regel machen, um keinen Anlaß zu Händeln zu geben. Wenn man mich aber ohne meine Schuld reizte, so wäre ich gezwungen, dem Brauche zu folgen, und ich würde mir wegen der Folgen die Hände in Unschuld waschen273-2.

Frage: Da wir gerade vom Ehrgefühl sprechen, so erkläre mir doch, worin cs nach Deiner Meinung besieht.

Antwort: Das Ehrgefühl besieht in der Vermeidung alles dessen, was den Menschen verächtlich machen kann, und in der Pflicht, alle ehrlichen Mittel zu gebrauchen, um seinen guten Ruf zu erhöhen.

Frage: Wodurch wird ein Mensch verächtlich?

Antwort: Durch Genußsucht, Müßiggang, Albernheit, Unwissenheit, schlechte Aufführung, Feigheit und alle Lasier.

Frage: Was verschafft einen guten Ruf?

<274>

Antwort: Unbescholtenheit, redliches Betragen, Kenntnisse, Fleiß, Wachsamkeit, Tapferkeit, schöne Taten im Kriege und im bürgerlichen Leben, mit einem Worte alles, was uns über die menschlichen Schwächen erhebt.

Frage: Was die menschlichen Schwächen betrifft, so bist Du jung und in dem Alter, wo die Leidenschaften am Heftigsien sind. Widerstehst Du auch der Habgier, dem maßlosen Ehrgeiz, der Rachsucht, so glaube ich doch, daß Du den Reizen eines bezaubernden Geschlechtes verfallen wirst, das Wunden schlägt, indem es uns verführt, und die vergifteten Pfeile so tief in unser Herz bohrt, daß die Vernunft wankt. Ach, wie beklage ich im voraus den Ehemann, dessen Frau Dich einst zu ihrem Sklaven macht! Wie denkst Du darüber?

Antwort: Ich bin jung und schwach, das gesiehe ich. Doch ich kenne meine Pflichten, und mir scheint, daß ein junger Mensch nicht den Frieden der Familien zu zerstören und keine Gewalt anzuwenden braucht, um seine Leidenschaften zu befriedigen. Er kann es auf harmlosere Art tun.

Frage: Ich versiehe. Du spielst auf die Worte des Porcius Cato an, der einst einen jungen Patrizier von einem Freudenmädchen kommen sah und erfreut ausrief: dann werde er den Frieden keiner Familie stören. Indes bringt auch dies Mittel sonderbare Übelstände mit sich, und Mädchen zu verführen —

Antwort: Ich würde keines verführen; denn ich will niemand betrügen, noch falsche Schwüre leisten. Betrügen ist ehrlos; falsch schwören ein Verbrechen.

Frage: Aber wenn es Dein Vorteil erheischt?

Antwort: Dann stände ja ein Vorteil dem andren entgegen. Denn breche ich mein Wort, so dürfte ich mich nicht beklagen, wenn ein andrer mir das seine bricht, und spiele ich mit Eiden, so könnte ich auch denen nicht trauen, die mir Eide leisten.

Frage: Doch wenn Du Catos Vorschrift befolgst, so setzest Du Dich andren Zufällen aus.

Antwort: Wer sich seinen Leidenschaften überläßt, ist ein verlorener Mensch. Ich habe es mir in allen Dingen zur Lebensregel gemacht: genieße, aber treibe keinen Mißbrauch.

Frage: Das ist sehr verständig. Aber bist Du auch sicher, nie von dieser Regel abzuweichen?

Antwort: Mein Selbsterhaltungstrieb läßt mich über meine Gesundheit wachen. Ich weiß, daß sie durch nichts mehr zerstört wird als durch Ausschweifung. Ich muß also auf meiner Hut sein, um meine Kräfte nicht zu erschöpfen und mir keine leidige Krankheit zuzuziehen, die meine blühende Jugend zerrüttet, mich kraftlos und elend werden läßt. Sonst müßte ich mir ja den grausamen Vorwurf machen, mein eigner<275> Mörder zu sein. Wenn also der Trieb zur Wollust mich fortreißt, hält mich der Selbst, erhaltungstrieb zurück.

Frage: Auf diese Gründe habe ich nichts zu erwidern. Wenn Du aber so streng gegen Dich selbst bist, wirst Du gewiß hart gegen andre sein.

Antwort: Ich bin nicht hart gegen mich, ich bin nur vernünftig. Ich versage mir nur das, was meiner Gesundheit, meinem Rufe, meiner Ehre schädlich ist. Weit entfernt, fühllos zu sein, habe ich tiefes Mitgefühl mit den Leiden meiner Mitmenschen. Aber damit begnüge ich mich nicht. Ich suche ihnen auch beizustehen und ihnen alle Dienste zu leisten, die ich vermag, sei es durch mein Vermögen, wenn sie in Not geraten, sei es durch Rat, wenn sie in Verlegenheit sind, sei es durch Aufdeckung ihrer Unschuld, wenn man sie verleumdet, sei es durch Empfehlung, wenn ich es vermag.

Frage: Wenn Du so viele Almosen gibst, wirst Du Dein Vermögen erschöpfen.

Antwort: Ich gebe meinen Mitteln gemäß. Solch ein Kapital verzinst sich hundertfach durch die lebhafte Freude, die man bei der Rettung eines Unglücklichen empfindet.

Frage: Aber durch Verteidigung der Unterdrückten läuft man mehr Gefahr.

Antwort: Soll ich die verfolgte Unschuld ohne Beistand lassen? Wenn ich die Falschheit einer Anklage kenne und sie beweisen kann, soll ich da die Wahrheit verschweigen, wo ich sie entdecken könnte, und aus Fühllosigkeit oder Schwache gegen alle Pflichten eines Ehrenmannes verstoßen?

Frage: Und doch, wenn man sieht, wie es in der Welt zugeht, ist es nicht immer gut, die Wahrheit zu sagen.

Antwort: Was die Wahrheit verhaßt macht, ist zumeist die schroffe Art, wie man sie sagt. Wird sie aber bescheiden und ohne Aufhebens verkündet, so nimmt man sie nur selten übel. Schließlich fühle ich selbst das Bedürfnis nach Beistand und Schutz; von wem aber könnte ich ähnliche Diensie verlangen, wenn ich sie selbst nicht leiste?

Frage: Wenn man den Menschen dient, erwirbt man sich meistens nur Undank. Was hast Du von Deiner Liebesmühe?

Antwort: Es ist schön, sich Undank zu erwerben, aber nichtswürdig, undankbar zu sein.

Frage: Dankbarkeit ist eine schwere Last, oft eine unerträgliche. Eine Wohltat läßt sich niemals vergelten. Findest Du es nicht hart, sein Lebelang daran zu tragen?

<276>

Antwort: Nein; denn diese Erinnerung gemahnt mich immerfort an die edlen Handlungen meiner Freunde. Das Andenken ihres hochherzigen Benehmens ist mir dauernd gegenwärtig; nur für Beleidigungen habe ich ein kurzes Gedächtnis. Es gibt keine Tugend ohne Dankbarkeit; sie ist die Seele der Freundschaft, der holde Trost des Lebens. Sie verknüpft uns mit unsren Eltern, mit dem Vaterlande, mit unsren Wohltätern. Nein, nie werde ich das Land vergessen, in dem ich zur Welt kam, die Brust, an der ich getrunken, den Vater, der mich erzogen, den Weisen, der mich belehrt, die Sprache, die mich verteidigt, den Arm, der mich gestützt hat!

Frage: Die Dienste, die man Dir geleistet, waren Dir sehr nützlich, das gebe ich zu. Doch welcher eigne Vorteil verpflichtet Dich zur Dankbarkeit?

Antwort: Der allergrößte, nämlich der, mir Freunde in der Not zu bewahren und durch meine Dankbarkeit den Beistand wohlwollender Herzen zu verdienen, well kein Mensch der Hilfe entbehren kann und man sich ihrer würdig erweisen muß, endlich, weil ein jeder die Undankbaren verabscheut, weil er sie als Zerstörer der holdesten gesellschaftlichen Bande ansieht, weil sie die Freundschaft zur Gefahr machen und alle, die ihnen HUfe leisten, schädigen, kurz, weil sie Gutes mit Bösem vergelten. Zur Undankbarkeit gehört ein fühlloses, verderbtes, rohes Herz. Wäre ich solcher Schändlichkeit fähig? Soll ich mich des Umgangs mit ehrenwerten Menschen unwürdig machen? Soll ich gegen den geheimen Trieb meines Herzens handeln, der mir zuruft: „Stehe Deinen Wohltätern nicht nach! Vergilt ihnen, wenn Du kannst, hundertfältig die Dienste, die Du von ihrer Großmut empfangen hast!“ Ach, lieber ende der Tod mein Leben, als daß ich es durch solche Schändlichkeit besteckte! Um froh und befriedigt zu leben, muß ich mit mir selber zufrieden sein, muß ich am Abend, wenn ich meine Handlungen überdenke, etwas finden, was meiner Eigenliebe schmeichelt, aber nichts, was sie demütigt. Je mehr Spuren von Gerechtigkeit, Großmut, Edelsinn, Dankbarkeit und Seelengröße ich in mir finde, um so befriedigter bin ich.

Frage: Aber wenn Du Deine Dankbarkeit auf das Vaterland erstreckst, was schuldest Du ihm?

Antwort: Alles; meine schwachen Talente, mein Hab und Gut, meine Liebe, mein Leben.

Frage: Allerdings hat die Liebe zum Vaterland in Griechenland und in Rom die schönsten Taten erzeugt. Durch diesen Grundsatz behauptete Sparta seine Macht, solange Lykurgs Gesetze befolgt wurden. Infolge dieser unerschütterlichen Anhänglichkeit an das Vaterland erzog die römische Republik Bürger, die sie zur Herrscherin der Welt machten. Wie verbindest Du jedoch Deinen Votteil mit dem des Vaterlandes?

<277>

Antwort: Ich verbinde beide leicht; denn jede schöne Tat zieht ihren Lohn nach sich. Was ich an eignem Vorteil opfere, gewinne ich an Ruhm wieder. Zudem ist mein Vaterland als gute Mutter selbst verpflichtet, die ihm geleisteten Dienste zu belohnen.

Frage: Worin können solche Dienste bestehen?

Antwort: Sie sind unzählig. Man kann seinem Vaterlande nützen, indem man seine Kinder nach den Grundsätzen des guten Bürgers und Ehrenmannes erzieht, indem man den Ackerbau auf seinen Gütern vervollkommnet, die Rechtspflege billig und unparteiisch übt, die öffentlichen Gelder uneigennützig verwaltet, durch Tugend oder Geist sein Zeitalter zu verherrlichen sucht, indem man aus reinem Ehrgefühl das Waffenhandwerk ergreift, zugunsten der Wachsamkeit und Tatkraft auf träge Weichlichkeit verzichtet, zugunsten des guten Rufes auf den eignen VorteU, zugunsten des Ruhmes auf das Leben, indem man alle Kenntnisse erwirbt, durch die man sich in dieser schweren Kunst auszeichnet, und indem man den Vorteil des Vaterlandes mit Gefahr des eignen Lebens verteidigt. Das sind meine Pflichten.

Frage: Das heißt, sich mit vielen Sorgen und Mühen beladen!

Antwort: Das Vaterland verwirft die unnützen Bürger. Sie sind ihm eine drückende Last. Durch schweigende Übereinkunft muß jedes Mitglied zum Wohle der großen Familie, die der Staat ist, beitragen. Wie man in den Baumpflanzungen die schlechten Zweige wegschneidet, die keine Frucht tragen, so verwirft man auch die Genußsüchtigen und Faullenzer und das ganze, meist verderbte Geschlecht der Müßiggänger, das nur an sich selbst denkt und die Vorteile der Gesellschaft genießt, ohne irgendwie zu ihrem Nutzen beizutragen. Ich für mein Teil möchte, wenn es mir gelänge, weit über meine Pflichten hinausgehen. Ein edler Wetteifer treibt mich zur Nachahmung großer Vorbilder an. Warum schätzest Du mich so gering ein, daß Du mich des Aufschwunges zur Tugend für unfähig hältst, für den andre uns Beispiele geliefert haben? Bin ich nicht mit den gleichen Organen begabt wie sie? Ist mein Herz nicht zu denselben Gefühlen fähig? Soll ich meinem Zeitalter Schande machen und durch feiges Betragen den Argwohn rechtfertigen, daß unser Geschlecht hinter den Tugenden seiner Vorfahren weit zurücksieht? Kurzum, bin ich nicht sterblich? Weiß ich, wann meiner Laufbahn ein Ziel gesetzt ist? Und wenn ich doch sterben muß, ist es da nicht besser, mich im letzten Augenblick mit Ruhm zu bedecken und meinen Namen bis ans Ende der Zeiten zu verewigen, als nach einem müßigen, unbeachteten Leben an Krankheiten hinzusterben, die weit grausamer sind als die Geschosse des Feindes, und das Andenken meiner Person, meiner Handlungen und meines Namens mit mir ins Grab zu nehmen? Ich will es verdienen, daß man mich kenne. Ich will tugendhaft sein, meinem Vaterlande dienen und meinen kleinen Winkel im Tempel des Ruhmes haben.

<278>

Frage: Da Du so denkst, wirst Du ihn sicherlich einnehmen. Plato sagt, die letzte Leidenschaft des Weisen sei die Liebe zum Ruhm. Ich bin hocherfreut, so edle Neigungen bei Dir zu finden. Du weißt, das wahre Glück des Menschen liegt in der Tugend. Bewahre Dir diese hohe Gesinnung, und es wird Dir im Leben nicht an Freunden fehlen und nach Deinem Tode nicht an Ruhm.

<279>

Briefe über die Vaterlandsliebe
(1779)

1. Brief des Anapistemon

Gerührt von der freundlichen Aufnahme, die ich auf Ihrem Landsitze fand, drängt es mich, Ihnen meinen Dank dafür auszudrücken. In Ihrer Gesellschaft fand ich die größten Güter, die Menschen zuteil werden können: Freundschaft und Freiheit. Aus Furcht, Ihre Güte zu mißbrauchen, verließ ich Sie mit tiefem Bedauern. Die Erinnerung an die glücklichen Tage, die ich bei Ihnen verbrachte, wird mir unauslöschlich bleiben. Das Gute, das uns begegnet, geht vorüber, aber das Üble hält an. Jedoch die Erinnerung an das genossene Glück verlängert seine Dauer. Mein Gedächtnis ist noch ganz erfüllt von allem, was ich sah und hörte, besonders aber von jener letzten Unterhaltung, die wir am Abend nach Tisch führten. Ich bedaure nur, daß Sie sich in der Erörterung der Bürgerpflichten auf allgemeine Ideen beschränkten und nicht auf Einzelheiten eingingen. Sie würden mir eine große Freude bereiten, wenn Sie sich über diesen wichtigen Gegenstand weiter auslassen wollten. Er geht alle Menschen an und verdient darum gründliche Erörterung. Wie ich Ihnen gestehen muß, habe ich in meinem stillen, mehr dem Genuß als der Betrachtung zugewandten Leben über die gesellschaftlichen Bande und die bürgerlichen Pflichten garnicht nachgedacht. Ich hielt es für hinreichend, ein ehrlicher Mensch zu sein und die Gesetze zu achten. Weiter, glaubte ich, sei nichts nötig. Mein Vertrauen zu Ihnen ist jedoch so groß, daß ich niemanden für befähigter halte, mich über diesen Gegenstand zu belehren. Es gäbe noch so vieles, worüber Sie mich aufklären könnten, doch ich begnüge mich hiermit. Haben Sie also die Güte, mir alle die Kenntnisse mitzuteilen, die Sie sich durch Ihre Studien und Ihr Nachdenken über diesen Gegenstand erworben haben. Jedermann handelt, wenige denken. Sie gehören nicht zu den Gedankenlosen; Sie prüfen die Dinge aufmerksam, erwägen das Für und Wider und geben sich nur mit offenbaren Wahrheiten zufrieden. Sie leben sozusagen mit den alten und neuen Schriftstellern, haben sich alle ihre Kennt<280>nisse angeeignet, und das macht Ihre Unterhaltung so reizvoll und fesselnd, daß man, von Ihnen getrennt und Ihren Worten entrückt, wenigstens den Trost haben möchte, Sie zu lesen. Wenn Sie die Güte haben wollten, meine Wißbegier zu befriedigen und mir Ihre Anschauungen mitzuteilen, so würden Sie den Gefühlen der Achtung und Freundschaft, die ich für Sie hege, noch das der Dankbarkeit Hins zufügen. Vale!

2. Brief des Philopatros

Die liebenswürdigen Ausdrücke, mit denen Sie mich bedenken, waren mir äußerst schmeichelhaft. Ich verdanke sie allein Ihrer Höflichkeit und nicht der Aufnahme, die ich Ihnen bereitete. Sie erkennen meine gute Absicht an, obwohl die Taten ihr nicht so entsprachen, wie ich es gewünscht hätte. Ich hätte Sie durch muntere und aufgeräumte Plaudereien erheitern sollen. Statt dessin lenkte ich die Unterhaltung auf ernste und wichtige Gegenstände. Ich allein trage die Schuld daran. Ich führe eine sitzende Lebensweise, bin von Krankheit geplagt und dem Treiben der großen Welt entrückt. Durch die Lektüre hat sich mein Geist allmählich dem Nachsinnen zugewandt; mein Frohsinn ist dahin und die trübe Vernunft hat ihn ersetzt.

Unwillkürlich sprach ich mit Ihnen so, wie ich denke, wenn ich in meinem Arbeitszimmer allein bin. Ich hatte den Kopf voll von der Republik von Sparta und Athen, deren Geschichte ich gelesen hatte, und von den Bürgerpflichten, über die Sie eine ausführlichere Erklärung wünschen. Sie tun mir zuviel Ehre an. Sie halten mich für einen Lykurg, einen Solon, mich, der nie Gesetze gegeben, sich nie mit einer andren Regierung befaßt hat als der meiner Güter, auf denen ich nun schon seit Jahren in tiefster Zurückgezogenheit lebe. Da Sie indes zu erfahren wünschen, worin nach meiner Meinung die Pflichten eines guten Bürgers bestehen, so seien Sie überzeugt, daß ich diesem Wunsche nur willfahre, um Ihnen zu gehorchen, nicht aber, um Sie zu belehren.

Die neuere PHUosophie verlangt mit Recht, daß man Begriff und Sache zuerst definiere, um Mißverständnissen vorzubeugen und die Gedanken auf bestimmte Gegenstände zu richten. Ich definiere also den guten Bürger, wie folgt. Er ist ein Mann, der es sich zur unverbrüchlichen Regel gemacht hat, der Gesellschaft, deren Mitglied er ist, nach besten Kräften zu nützen, und zwar aus folgendem Grunde. Der Mensch kann als Einzelwesen nicht bestehen. Selbst die barbarischsten Völker bilden kleine Gemeinwesen. Die gesitteten Nationen, die ein Gesellschaftsvertrag280-1<281> bindet, sind sich gegenseitigen Beistand schuldig. Ihr eigner Vorteil, das Gemeinwohl verlangt es. Sobald sie aufhören würden, sich gegenseitig zu helfen und beizustehen, entstände so oder so eine allgemeine Verwirrung, die den Untergang jedes Einzelnen nach sich zöge. Diese Grundsätze sind nicht neu. Sie bildeten die Grundlage aller Republiken, von denen das Altertum uns Kunde gibt. Auf solchen Gesetzen beruhten die griechischen Freistaaten. Auch die römische Republik hatte die gleiche Grundlage. Wurden sie späterhin zerstört, so kommt dies daher, weil die Griechen durch ihren unruhigen Geist und die Eifersucht aufeinander sich selbst das Unglück zuzogen, das über sie hereinbrach, und weil einige römische Bürger, die für Republikaner zu mächtig geworden waren, ihre Regierung in zügellosem Ehrgeiz stürzten, schließlich auch, weil auf der Welt nichts beständig ist. Fassen Sie alles zusammen, was die Geschichte hierüber berichtet, so werden Sie finden, daß der Fall der Republiken nur einigen, durch Leidenschaft verblendeten Bürgern zuzuschreiben ist, die ihren Eigennutz dem Vorteil des Vaterlandes vorzogen, den Gesellschaftsvertrag brachen und wie Feinde des Gemeinwesens handelten, dem sie angehörten.

Ich entsinne mich, daß Sie der Meinung waren, es ließen sich wohl Bürger in den Republiken, nicht aber in den Monarchien finden. Gestatten Sie mir, Sie über diesen Irrtum aufzuklären. Gute Monarchien, die mit Weisheit und Milde regiert werden, kommen durch ihre Regierungsform heutzutage der Oligarchie näher als der Tyrannis; die Gesetze allein herrschen. Gehen wir auf Einzelheiten ein. Stellen Sie sich die Menge von Personen vor, die im Staatsrat, in der Justiz, im Finanzwesen, bei auswärtigen Gesandtschaften, im Handel, in den Heeren, bei der inneren Verwaltung angestellt sind. Rechnen Sie dazu noch die, welche Sitz und Stimme in den Landständen haben: sie alle nehmen an der Regierung teil. Der Fürst ist also kein Despot, der allein seinen Launen frönt. Man muß ihn als den Mittelpunkt betrachten, in dem sich alle Linien der Peripherie vereinigen. Diese Regierungsform sichert die Geheimhaltung bei den Beratungen, die in Republiken fehlt. Da die verschiedenen Verwaltungszweige vereinigt sind, so werden sie Stirn an Stirn in der gleichen Bahn gelenkt, wie die Quadriga der Römer281-1, und wirken gemeinsam zum Wohle des Ganzen. Außerdem finden Sie in Monarchien, wenn ein entschlossener Fürst an ihrer Spitze sieht, immer weniger Parteigeist, wogegen die Republiken oft von den Ränken der Bürger zerrissen werden, die einander zu verdrängen suchen. Die einzige Ausnahme davon dürfte in Europa das Türkische Reich bilden oder irgend eine andre Regierung, die unter Verkennung ihrer wahren Interessen den Vorteil der Untertanen nicht eng genug mit dem des Herrschers verknüpft hat. Ein gut regiertes Königreich muß wie eine Familie sein, deren Vater der Fürst und deren Kinder die Bürger sind. Glück und Unglück werden geteilt; denn der Herrscher könnte nicht glücklich sein, wenn sein Volk elend ist. Ist diese Einheit gut<282> befestigt, so bringt die Dankespfiicht gute Bürger hervor; denn ihre Verbindung mit dem Staate ist zu innig, als daß sie sich von ihm losreißen könnten. Dabei hätten sie alles zu verlieren, aber nichts zu gewinnen. Wollen Sie Beispiele? Die Regierung von Sparta war oligarchisch und hat eine Menge großer, dem Vaterland ergebener Bürger hervorgebracht. Rom lieferte nach dem Verlust seiner Freiheit noch einen Agrippa, einen Paetus Thrasea, einen Helvidius Priscus, einen Corbulo und Agricola282-1, Kaiser wie Titus, Mark Aurel, Trajan, Julian, kurz eine Fülle männlicher und mannhafter Seelen, die die öffentliche Wohlfahrt dem eignen Vorteil vorzogen.

Aber ich weiß nicht, wie ich unmerklich abschweife. Ich wollte Ihnen einen Brief schreiben, und wenn ich so fortfahre, wird eine Abhandlung daraus. Ich bitte tausendmal um Entschuldigung! Das Vergnügen, mich mit Ihnen zu unterhalten, reißt mich fort, und ich fürchte, Ihnen zur Last zu fallen. Seien Sie jedoch versichert, daß ich unter allen Gliedern des Staatskörpers, dem ich angehöre, keinem so gern diene als Ihnen, lieber Freund. Ich bin mit größter Achtung usw.

3. Brief des Anapistemon

Tausend Dank für die Mühe, die Sie sich geben, mich über einen Gegenstand aufzuklären, den ich nur wenig untersucht und über den ich nur sehr unbestimmte Begriffe habe! Ihr Brief erschien mir nicht nur nicht zu lang, sondern vielmehr zu kurz; denn ich ahne schon, Sie werden mir noch mancherlei erklären müssen. Inzwischen wundern Sie sich bitte nicht, wenn ich einige Einwendungen mache. Klären Sie meine Unwissenheit auf, zerstören Sie meine Vorurteile oder bestärken Sie mich in meinen Ansichten, wenn sie richtig sind!

Kann man sein Vaterland wirklich lieben? Ist diese sogenannte Liebe nicht die Erfindung irgend eines PHUosophen oder eines grüblerischen Gesetzgebers, die von den Menschen eine Vollkommenheit fordern, die ihre Kräfte übersteigt? Wie soll man das Volk lieben? Wie kann man sich für das Wohl irgend einer Provinz unsrer Monarchie aufopfern, auch wenn man sie nie gesehen hat? Das alles läuft für mich auf die Frage hinaus, wie man mit Inbrunst und Begeisterung etwas lieben kann, was man garnicht kennt? Solche Betrachtungen, die sich dem Geiste schier von selbst<283> aufdrängen, haben mich überzeugt, daß es für einen verständigen Menschen das klügste ist, ein ruhiges, sorgloses und müheloses Pflanzendasein zu führen und sich so wenig wie möglich anzustrengen, bis wir ins Grab sinken, das uns allen beschieden ist.

Nach diesem Plane habe ich stets gelebt. Da begegnete mir eines Tages Professor Garbojos, dessen Verdienste Sie kennen. Wir unterhielten uns über diesen Gegenstand, und er erwiderte mir mit der ihm eignen Lebhaftigkeit: „Ich gratuliere Ihnen, Herr Baron, daß Sie ein so großer Philosoph sind!“ — „Ich? Durchaus nicht!“ entgegnete ich. „Ich kenne diese Art von Leuten garnicht und habe nichts von ihren Machwerken gelesen. Meine ganze Bibliothek besieht nur aus sehr wenigen Büchern; Sie finden darin nur den 'Perfekten Landwirt', die Zeitungen und den laufenden Kalender; das genügt.“ — „Trotzdem“, fuhr er fort, „sind Sie voll von den Grundsätzen Epikurs. Wenn man Sie so hört, sollte man glauben, Sie wären in seinem Garten heimisch.“ — „Ich kenne weder Epikur noch seinen Garten“, erwiderte ich; „aber was lehrt denn dieser Epikur? Bitte, unterrichten Sie mich doch darüber.“ Da nahm mein Professor eine würdevolle Miene an und sprach also: „Ich sehe, daß die schönen Geister sich berühren, da der Herr Baron ebenso denkt wie ein großer Philosoph. Epikur lehrte, sich nie in Geschäfte noch in die Regierung zu mischen, und zwar aus folgenden Gründen. Um sich jene Seelenruhe zu bewahren, worin nach seiner Lehre das Glück besieht, darf der Weise seine Seele nicht der Gefahr aussetzen, von Verdruß, Zorn und andren Leidenschaften erregt zu werden, die die Sorgen und Geschäfte notwendig mit sich bringen. Es sei also besser, jede Verlegenheit, jede unangenehme Tätigkeit zu meiden, die Welt gehen zu lassen, wie sie geht, und alle Kräfte zur Selbsterhaltung zusammenzunehmen.“ — „Guter Gott“, rief ich aus, „wie entzückt bin ich von diesem Epikur! Bitte leihen Sie mir sein Buch.“ — „Wir besitzen von ihm“, erwiderte jener, „kein vollständiges Lehrgebäude, sondern nur verstreute Bruchstücke. Lukrez hat einen Teil seines Systems in schöne Verse gebracht. Einzelne Brocken finden wir in den Werken von Cicero, der einer andren Sekte angehörte und alle seine Behauptungen widerlegt und vernichtet.“

Sie können sich nicht vorstellen, wie stolz ich war, in mir selbst das gefunden zu haben, was ein alter griechischer Philosoph vor fast dreitausend Jahren gedacht hat! Das bestärkt mich mehr und mehr in meinen Ansichten. Ich beglückwünsche mich zu meiner Unabhängigkeit; ich bin frei, bin mein eigner Herr, Fürst und König. Ich überlasse ungestümen Toren den trügerischen Traum von Größe, dem sie nachjagen. Ich lache über die Habgier der Geizigen, die eitle Schätze sammeln, die sie im Tode verlassen müssen, und stolz auf die Vorzüge, die ich besitze, erhebe ich mich über die ganze Welt.

Ich hoffe auf Ihren Beifall; denn ich denke wie ein Philosoph, den ich weder gesehen noch gelesen habe. Die Natur allein muß diese Übereinstimmung der Meinungen erzeugt haben; sie müssen also Wahrheit enthalten. Haben Sie die Güte,<284> mir zu sagen, was Sie darüber denken. Vielleicht stimmen wir überein. Wie dem aber auch sei, nichts wird die Gefühle der Achtung und Freundschaft vermindern, mit denen ich bin usw.

4. Brief des Philopatros

Ich glaubte, lieber Freund, mit der zusammenhängenden Darlegung meiner Ansichten über die bürgerlichen Pflichten Ihre Wißbegier befriedigt zu haben, aber da kommen Sie mir mit einer neuen Frage. Ich sehe, Sie wollen mich mit Epikur in Streit bringen. Das ist kein unsanfter Gegner; ich schlage den Kampf also nicht aus. Und da Sie mich nun einmal in die Schranken geführt haben, so will ich mein möglichstes tun, um die Bahn zu durchlaufen. Um aber die Dinge nicht zu verwirren, werde ich Ihren Einwendungen in der Ordnung folgen, die Ihr Brief enthält.

Ich weise Sie zunächst darauf hin, daß es für einen Ehrenmann nicht genügt, keine Verbrechen zu begehen; er muß auch tugendhaft sein. Wenn er die Gesetze nicht übertritt, so vermeidet er nur Strafen. Ist er aber weder gefällig noch dienstfertig, noch nützlich, so ist er ohne alles Verdienst und muß folglich auf die öffentliche Achtung verzichten. Sie werden also zugeben, daß Ihr eigner Vorteil Ihnen anrät, sich nicht von der Gesellschaft loszulösen, vielmehr eifrig an allem mitzuwirken, was ihr ersprießlich sein kann. Wie? Sie halten die Vaterlandsliebe für eine abstrakte Tugend, wo so viele geschichtliche Beispiele beweisen, wieviel Großes sie vollbracht hat, indem sie die Menschen hoch über alles Menschliche erhob und ihnen die Kraft zu den edelsten und ruhmvollsten Taten einhauchte! Das Wohl der Gesellschaft ist auch das Ihre. Ohne es zu wissen, sind Sie mit so starken Banden an Ihr Vaterland geknüpft, daß Sie sich weder absondern, noch von ihm lossagen können, ohne diesen Fehler schwer zu büßen. Ist die Regierung glücklich, so werden Sie selbst gedeihen. Leidet sie, so fällt ihr Mißgeschick auf Sie zurück. Erfreuen die Bürger sich ehrbaren Wohlstands, so wird es auch dem Fürsien wohl ergehen. Werden aber die Bürger vom Elend bedrückt, so ist die Lage des Fürsien bedauernswert. Die Vaterlandsliebe ist also nicht etwas rein Ideelles, sie ist sehr real. Nicht diese Häuser, Mauern, Wälder und Felder nenne ich Ihr Vaterland, sondern Ihre Eltern, Ihr Weib, Ihre Kinder und Freunde, die, welche in den verschiedenen Zweigen der Staatsverwaltung für Ihr Wohl arbeiten und Ihnen tägliche Dienste leisten, ohne daß Sie sich nur die Mühe geben, von ihrem Wirken Notiz zu nehmen. Das sind die Bande, die Sie an die Gesellschaft ketten: der Vorteil der Menschen, denen Sie Liebe schulden, Ihr eigner und der Vorteil der Regierung, die, unlöslich verknüpft, das sogenannte Ge- meinwohl der Gesamtheit bilden.

<285>

Sie sagen, man könne weder das Volk noch die Bewohner einer Provinz lieben, die man garnicht kennt. Wenn Sie darunter einen Bund vertrauter Freunde verstehen, so haben Sie recht; es handelt sich hier aber nur um jenes Wohlwollen gegen das Volk, das wir aller Welt schuldig sind und erst recht denen, die mit uns denselben Boden bewohnen und uns beigesellt sind. Und was die Provinzen unsrer Monarchie betrifft — müssen wir gegen sie nicht wenigstens die Pflichten erfüllen, die man Bundesgenossen schuldet? Angenommen, vor Ihren Augen fiele ein Unbekannter in einen Fluß. Würden Sie ihn nicht vor dem Ertrinken retten? Und wenn Sie einem Wandrer begegneten, den ein Mörder erschlagen will, würden Sie ihm nicht zu Hilfe eilen und ihn zu retten versuchen? Das Gefühl des Mitleids ward von der Natur in uns gelegt. Es treibt uns unwillkürlich an, einander beizustehen und die Pflichten gegen unsre Nächsten zu erfüllen. Sind wir also selbst Unbekannten Beistand schuldig, so schließe ich daraus, daß wir ihn erst recht unsren Mitbürgern schulden, mit denen wir durch den Gesellschaftsvertrag verbunden sind. Gestatten Sie mir noch ein Wort über die Provinzen unsrer Monarchie, gegen die Sie mir so lau scheinen. Sehen Sie nicht ein, daß der Verlust dieser Provinzen die Regierung schwächen würde? Also wäre sie, wenn ihr die aus diesen Provinzen gezogenen Hilfsmittel fehlten, weniger als jetzt imstande, Ihnen beizustehen, wenn Sie dessen bedürften. Sie ersehen aus meinen Darlegungen, lieber Freund, daß die staatlichen Beziehungen sehr ausgedehnt sind und daß man nur durch tieferes Eingehen einen rechten Begriff davon erhält.

Aber nun zu einer andern Behauptung, die ich Ihnen nicht hingehen lassen kann. Wie? Ein Mann von Talent und Geist wie Sie wagen zu behaupten, daß das Vegetieren der Pflanzen den Vorzug vor der tierischen Bewegungsfreiheit habe? Ist es möglich, daß ein verständiger Mann schlaffe Ruhe der ehrbaren Arbeit und ein weichliches, weibisches, nutzloses Dasein tugendhaften Handlungen vorzieht, die den Namen dessen, der sie vollbracht hat, unsterblich machen? Jawohl, wir gehen alle unsrem Grabe entgegen, das ist ein allgemeines Gesetz! Aber selbst unter den Toten macht man einen Unterschied. Sind die einen, kaum begraben, schon vergessen und hinterlassen die mit Verbrechen Befleckten ein schmähliches Andenken, so werden die Tugendhaften, die dem Vaterlande nützliche Dienste geleistet haben, mit Lob und Segen überhäuft und der Nachwelt als Vorbilder hingestellt, ja ihr Andenken geht niemals unter. Zu welcher von diesen drei Klassen möchten Sie gehören? Ohne Zweifel zur letzten.

Nachdem ich so viele irrige Schlüsse zerstört habe, dürfen Sie wirklich nicht erwarten, daß Ihr Epikur, obwohl ein Grieche, mir imponiert. Gestatten Sie, daß ich seine eignen Worte erläutere, um ihn gründlich zu widerlegen. „Der Weise soll sich weder in Geschäfte noch in die Regierung mischen.“ Ja, wenn er auf einer wüsten Insel haust. „Seine unempfindliche Seele soll keiner Leidenschaft, weder schlechter Laune noch der Eifersucht noch dem Zorn ausgesetzt sein.“ Das ist also Epikur, der Lehrer<286> des Wohlbehagens, der die stoische Unempfindlichkeit predigt! Nicht dies mußte er sagen, sondern das Gegenteil. Das edelste Trachten des Weisen besteht nicht darin, die Gelegenheiten zu vermeiden, sondern wenn sie sich darbieten, die Seelenruhe zu bewahren — in den Augenblicken, wo alles ringsum seine Leidenschaften erregt und aufreizt. Es ist kein Verdienst, wenn ein Steuermann sein Schiff auf ruhiger See lenkt, wohl aber, wenn er es den Stürmen und widrigen Winden zum Trotz glücklich in den Hafen bringt. Leichte und bequeme Dinge achtet niemand; nur Überwindung von Schwierigkeiten wird anerkannt. „Es ist also besser, die Welt gehen zu lassen, wie sie geht, und nur an sich zu denken.“ Oh, Herr Epikur, sind das eines Philosophen würdige Gefühle? Ist nicht das erste, woran Sie denken sollten, das Wohl der Menschheit? Sie wagen zu verkünden, daß ein jeder nur sich selbst lieben soll? Würde ein Mensch, der das Unglück hat, Ihren Grundsätzen zu folgen, nicht mit Recht allgemein verabscheut werden? Wenn ich niemanden liebe, wie kann ich da Liebe beanspruchen? Sehen Sie nicht ein, daß man mich dann als gefährliches Ungeheuer ansehen würde, dessen Beseitigung im Interesse der öffentlichen Sicherheit statthaft wäre? Wenn die Freundschaft verschwände, welcher Trost bliebe dann unsrem armen Geschlecht?

Nehmen wir ein Gleichnis zu Hilfe, um uns noch verständlicher zu machen! Vergleichen wir den Staat mit dem menschlichen Körper. Aus der Tätigkeit und dem einmütigen Zusammenwirken aller seiner Teile entsieht seine Gesundheit, Kraft und Stärke. Venen, Schlagadern, ja die feinsten Nerven wirken an seinem animalischen Dasein mit. Wenn der Magen seine Verdauungsarbeit verlangsamte, die Gedärme ihre wurmförmige Bewegung nicht kräftig ausführten, die Lunge zu schwach atmete, das Herz sich nicht rechtzeitig erweiterte und zusammenzöge, die Pulse sich nicht nach den Bedürfnissen des Blutumlaufs öffneten und schlössen, der Nervensaft nicht nach den Muskeln strömte, die sich zur Ausführung der Bewegungen zusammenziehen müssen, so würde der Körper erschlaffen, unmerklich hinsiechen, und die Untätigkeit seiner Glieder würde seine völlige Zerstörung herbeiführen. Dieser Körper ist der Staat. Seine Glieder sind Sie und alle Bürger, die ihm angehören. Sie sehen also, daß jeder einzelne seine Aufgabe erfüllen muß, damit die Gesamtheit gedeiht. Was wird nun aus der glücklichen Unabhängigkeit, die Sie so preisen, wenn nicht dies, daß sie Sie zu einem gelähmten Gliede des Körpers macht, dem Sie angehören?

Bemerken Sie doch gütigst, daß Ihre Philosophie die klarsten Begriffe verwirrt. Sie empfiehlt Trägheit und Müßiggang als Tugend, während doch jeder zugibt, daß sie Lasier sind. Ist es eines Philosophen würdig, uns anzuspornen, unsre Zeit zu verlieren, die das Kostbarste ist, was wir haben, da sie stets entflieht und nie zurückkehrt? Soll man uns ermutigen, ein müßiges Leben zu führen, unsre Pflichten zu verabsäumen, für alle andren unnütz und uns selbst zur Last zu werden? Ein altes Sprichwort sagt: Müßiggang ist aller Lasier Anfang. Man könnte hinzufügen:<287> Fleiß ist aller Tugenden Beginn. Das ist eine feststehende Wahrheit, bestätigt durch die Erfahrung aller Zeiten und Länder.

Soviel von Epikur; ich glaube, es genügt. Wenden wir uns nun Ihren eignen Meinungen zu. Verurteilen Sie die Ehrsüchtigen; das ist mir recht. Tadeln Sie die Geizigen; ich stimme Ihnen bei. Aber dürfen Sie sich deshalb durch unverdaute Begriffe und armselige Vorurteile verleiten lassen, Ihre Mitarbeit am allgemeinen Wohl zu verweigern? Sie besitzen alles, was zu solcher Arbeit erforderlich ist, Geist, Rechtschaffenheit, Talente. Da die Natur Ihnen nichts versagt hat, was Ihnen guten Ruf verschaffen könnte, so sind Sie unentschuldbar, wenn Sie die Gaben, mit denen Sie überhäuft sind, unbenutzt lassen. Sie übertreiben Ihre Unabhängigkeit, Ihr angebliches Königtum, die Freiheit, die Sie zu genießen vorgeben und die Sie über die ganze Welt erhebt. Ja, ich zolle Ihnen Beifall, wenn Sie unter Ihrer Unabhängigkeit Selbstbeherrschung, unter Ihrem Königtum Gewalt über Ihre Leidenschaften verstehen. Sie können sich über viele Ihres Geschlechts erheben, wenn glühende Liebe zur Tugend Sie beseelt, wenn Sie ihr alle Tage, was sage ich, alle Augenblicke Ihres Daseins weihen. Ohne diese Berichtigung aber ist die Unabhängigkeit, deren Sie sich rühmen, nichts als Neigung zum Müßiggang, mit schönen Worten verbrämt; und die Trägheit, die Sie beständig preisen und die Sie zu allem und jedem unbrauchbar macht, erzeugt als natürliche Folge Langeweile. Fügen Sie das boshafte Urteil der Welt hinzu, die stets zu übler Nachrede bereit ist. Man wird Ihren Müßiggang beim rechten Namen nennen und Gott weiß welche Spöttereien gegen Sie loslassen, um sich an Ihrer Gleichgültigkeit gegen das öffentliche Wohl zu rächen.

Genügt das alles noch nicht, um Sie zu überzeugen, so muß ich wohl noch eine Stelle aus der Bibel anführen: „Im Schweiße Deines Angesichts sollst Du Dein Brot essen.“ Wir sind auf der Welt, um zu arbeiten. Das ist so wahr, daß auf hundert Menschen achtundneunzig kommen, die arbeiten, und zwei, die mit ihrer Untätigkeit prahlen. Wenn es so törichte Menschen gibt, die ihre Eitelkeit dareinsetzen, nichts zu tun und den ganzen Tag die Arme zu verschränken, so sind die Arbeitsamen doch weit besser dran; denn der Geist braucht etwas, das ihn beschäftigt und zerstreut; er bedarf der Gegenstände, die seine Aufmerksamkeit fesseln; sonst ergreift ihn Überdruß und macht ihm sein Dasein zur unerträglichen Last.

Ich rede hier ohne Rückhalt zu Ihnen; denn Sie sind für die Wahrheit geschaffen, Sie sind wert, sie zu hören, und ich liebe Sie zu sehr, um Ihnen etwas zu verhehlen. Mein einziges Ziel ist, Sie dem Vaterlande wiederzugewinnen und ihm in Ihrer Person ein nützliches Werkzeug zu geben, aus dem es Nutzen ziehen kann. Das allein leitet meine Feder und bewegt mich, Ihnen alles darzulegen, was die Vaterlandsliebe mir eingibt. Der Eifer für das allgemeine Wohl war der Grundsatz aller guten Regierungen in alter und neuer Zeit, die Grundlage ihrer Größe und ihres Gedeihens. Die unbestreitbaren Wirkungen davon brachten gute Bürger hervor und<288> jene hochherzigen und tugendhaften Seelen, die den Ruhm und die Stütze ihrer Landsleute bildeten.

Entschuldigen Sie die Länge dieses Briefes! Die Fülle des Stoffes könnte viele Bände liefern, ohne daß man ihn erschöpfte. Doch es genügt, Ihnen die Wahrheit zu zeigen, um den Irrtum und die Vorurteile zu vernichten, die einem Geist wie dem Ihren ftemd sind. Ich bin usw.

5. Brief des Anapistemon

Ich habe Ihren Brief mit der ihm gebührenden Aufmerksamkeit gelesen. Ich war überrascht von der Menge der Gründe, mit denen Sie mich niederschlagen. Sie sind entschlossen, mich zu besiegen und meine Meinungen, an Ihren Wagen gefesselt, im Triumph dahinzuführen. Ich gesiehe, es liegt viel Überzeugungstraft in den Motiven, mit denen Sie mich zu bekehren suchen, und sie gründlich zu wider, legen, wird mir viel Mühe kosten. Um mich rascher niederzuwerfen, sagen Sie, mein Verstand habe mein Herz irregeführt, ich redete der Trägheit das Wort und veredelte dies Lasier durch den verführerischen Schein der Mäßigung oder ähnlicher Tugenden. Nun wohl, ich gebe Ihnen zu: Müßiggang ist ein Lasier, man soll dienstfertig und gefällig gegen jedermann sein, soll das Volk zwar nicht wie seine Nächsien lieben, wohl aber sich um sein Wohlergehen kümmern, mehr noch, ihm so nützlich wie möglich sein. Ich sehe ein, daß der Allgemeinheit, der ich angehöre, kein Unglück zustoßen kann, ohne daß ich dessen Wirkungen verspüre, und daß, wenn die Bürger leiden, der Staat dadurch verliert.

In allen diesen Punkten gebe ich klein bei. Ferner gebe ich zu, daß alle, die in der Staatsverwaltung tätig sind, an der höchsten Gewalt teilhaben. Aber was geht mich das alles an? Ich bin weder eitel noch ehrgeizig. Aus welchem Grunde könnte ich mir eine Last aufladen wollen, die ich nicht tragen mag, und mich in Geschäfte stürzen, wenn ich glücklich lebe, ohne daß der Gedanke an solche Tätigkeit mir in den Sinn käme? Sie räumen ein, daß maßloser Ehrgeiz ein Lasier ist. Sie müssen mir also beipflichten, wenn ich nicht in dies Lasier verfalle, und dürfen nicht verlangen, daß ich meine süße Gemütsruhe aufgebe, um mich nach Herzenslust allen Launen Fortunas auszusetzen. Ach, lieber Freund, woran denken Sie bei solchen Ratschlägen! Machen Sie sich doch eine lebhafte Vorstellung von dem harten Joche, das Sie mir aufbürden wollen, welche Beschwerden es mit sich bringt und welche leidigen Folgen es hat! In meiner jetzigen Lage schulde ich mir allein Rechenschaft über mein Benehmen. Ich bin der einzige Richter meiner Handlungen, genieße ein<289> anständiges Einkommen und brauche mein Brot nicht im Schweiße meines Angesichts zu verdienen, wie es nach Ihrer Versicherung unsren Voreltern anbefohlen ward. Ich genieße meine Freiheit. Welche Torheit sollte mich dazu bringen, mich für mein Benehmen gegen andre verantwortlich zumachen? Die Eitelkeit? Ich kenne sie nicht. Der Wunsch, Gehalt zu beziehen? Das brauche ich nicht. Ich soll mich also ohne irgend einen Grund in Geschäfte mischen, die mich nichts angehen, Geschäfte, die unbequem, peinlich, ermüdend sind und angestrengte Tätigkeit erfordern? Weswegen sollte ich all diese Mühen auf mich nehmen? Um mich dem Urteil irgend eines Vorgesetzten zu unterwerfen, von dem ich nicht abhängen will noch mag? Sehen Sie nicht, wie viele Menschen sich schon um Ämter bewerben? Warum soll ich ihre Zahl vermehren? Ob ich Diensie nehme oder nicht, es geht doch alles seinen Gang.

Aber gestatten Sie mir, diesen Gründen noch einen stärkeren hinzuzufügen. Zeigen Sie mir das Land in Europa, wo das Verdienst seines Lohnes stets sicher ist! Nennen Sie mir den Staat, wo das Verdienst anerkannt wird und ihm Gerechtigkeit widerfährt! Ach, wie ärgerlich ist es, wenn man Zeit, Ruhe und Gesundheit seinem Amt aufgeopfert hat und dann beiseite geschoben wird oder noch empörenderen Undank erdulden muß! Beispiele solchen Mißgeschicks fallen mir in Menge ein. Wenn Ihr Sporn mich zur Arbeit antreibt, hält dieser Zügel mich auf der Stelle zurück.

Meine offene Sprache zeigt Ihnen, daß ich Ihnen nichts verhehle. Ich öffne Ihnen mein Herz als Freund, lege Ihnen all die Gründe dar, die Eindruck auf mich gemacht haben, zumal wir uns ja nicht streiten, sondern jeder nur seine Meinung auseinandersetzt und die triftigste siegen muß. Ich erwarte, daß Sie mir nichts schuldig bleiben und mir in kurzem Stoff zu neuen Betrachtungen geben. Das wird Ihnen dann wieder eine neue Antwort von mir eintragen. Ich bin mit herzlicher Hochachtung usw.

6. Brief des Philopatros

Ich bin stolz darauf, lieber Freund, einige Ihrer Vorurteile untergraben zu haben. Sie sind alle gleich schädlich, und man kann sie nicht genug zerstören. Sie sagen mit Recht, der Streit herrsche in Wirklichkeit nicht zwischen uns, sondern zwischen den Gründen, von denen die stärksten und triftigsten über die schwächeren siegen muffen. Wir tun ja auch nichts, als einen Gegenstand zu erörtern, um zu entdecken, wo die Wahrheit liegt, und uns auf feiten des Augenscheins zu stellen. Glauben Sie indes nicht, meine Gründe seien erschöpft. Bei nochmaliger Durchsicht Ihrer<290> Briefe stellte sich in meinem Geiste eine Fülle neuer Gedanken ein. Es erübrigt nur, sie Ihnen möglichst klar und bündig darzulegen.

Wenn Sie gestatten, beginne ich mit der Erklärung, was ich unter dem Gesellschaftsvertrage versiehe. Er ist eigentlich eine stillschweigende Übereinkunft aller Staatsbürger, mit gleichem Eifer an der allgemeinen Wohlfahrt mitzuwirken. Hieraus entspringt für jeden Einzelnen die Pflicht, nach Maßgabe seiner Mittel, seiner Talente und seines Standes zum Wohl des gemeinsamen Vaterlandes beizutragen. Die Notwendigkeit der Selbsierhaltung und der eigne Vorteil wirken auf den Geist des Volkes und treiben es an, um des eignen Nutzens willen für das Wohl seiner Mitbürger zu arbeiten. Daher der Land-, Wein- und Gartenbau, die Viehzucht, die Manufakturen, der Handel; daher die vielen tapferen Vaterlandsverteidiger, die dem Staat ihre Ruhe, ihre Gesundheit und ihr ganzes Dasein weihen. Ist aber auch der Eigennutz zum Teil die Triebfeder dieser edlen Tätigkeit, so gibt es doch noch mächtigere Motive, sie zu wecken und anzuregen, besonders bei denen, die durch edlere Geburt und höhere Gesinnungen mit ihrem Vaterlande enger verknüpft sein sollen. Pflichttreue, Ehr- und Ruhmliebe sind die stärksten Triebfedern, die in wahrhaft tugendhaften Seelen wirken.

Wie kann man sich vorstellen, daß Reichtum dem Müßiggang zum Schild dienen könnte und daß man der Regierung um so weniger anhinge, je mehr man besäße? Solche irrigen Behauptungen sind unhaltbar; sie können nur aus einem ehernen Herzen, einer fühllosen, in sich verschlossenen Seele entspringen, die nichts als Eigenliebe kennt und sich nach Kräften von allen absondert, an die Pflicht, Vorteil und Ehre sie bindet. Herkules allein ist, so sehr die Sage ihn auch als Herkules darstellt, nicht furchtbar; er wird es erst, wenn seine Genossen ihm helfen und beistehen.

Aber vielleicht ermüdet Sie die abstrakte Beweisführung. Nehmen wir Beispiele zu Hilfe. Ich will Ihnen einige aus dem Altertum, besonders aus den Republiken anführen, für die Sie, wie ich bemerkt habe, besondere Vorliebe hegen. Ich mache also den Anfang mit einigen Zitaten aus den Reden des Demosthenes, die unter dem Namen „Philippika“ bekannt sind. „Man sagt, Athener, Philipp sei gestorben. Aber was liegt daran, ob er tot oder lebendig ist? Ich sage Euch, Athener, ja ich sage Euch, Ihr werdet Euch durch Eure Nachlässigkeit, Eure Trägheit und Eure Achtlosigkeit bei den wichtigsten Geschäften bald einen andren Philipp schaffen.“ Nun werden Sie wenigstens überzeugt sein, daß dieser Schriftsteller so wie ich dachte. Doch ich begnüge mich nicht mit der einen Stelle. Hier eine zweite. Demosihenes sagt vom König von Mazedonien: „Man hält es stets mit dem, bei dem man Eifer und Tätigkeit findet.“ Dann fährt er fort: „Wenn Ihr also ebenso denkt, Athener, wenigstens jetzt, denn bisher tatet Ihr es nicht, wenn Jeder von Euch, sobald es nötig sein wird und er sich nützlich machen kann, jeden schlechten Vorwand beiseite läßt und bereit ist, der Republik zu dienen, die Reichen mit ihrem Vermögen, die Jugend mit ihrem Leben, wenn jeder handeln will wie für sich selbst und sich nicht mehr darauf verläßt,<291> daß andre für ihn tätig sind, wahrend er müßig geht, so werdet Ihr mit Hilfe der Götter Eure Sache wiederherstellen und das zurückgewinnen, was Ihr durch Nachlässigkeit verloren habt.“ Noch eine andre, fast gleichlautende Stelle aus einer Rede für die Regierung: „Hört, Athener! Die öffentlichen Gelder, die in überflüssigen Ausgaben verloren gehen, sollt Ihr gleichmäßig und nutzbringend verteilen. Das heißt, die unter Euch, die im waffenfähigen Alter sind, durch Kriegsdienste, die über dies Alter hinaus sind, durch Ämter beim Gericht oder in der Verwaltung oder sonstwie. Ihr sollt selbst dienen, keinem andren diese Bürgerpflicht abtreten und selbst ein Heer bilden, das man das Volk in Waffen nennen kann. Dadurch werdet Ihr leisten, was das Vaterland von Euch fordert.“ Das verlangte Demosthenes von den athenischen Bürgern.

Ebenso dachte man in Sparta, obwohl die Regierungsform dort oligarchisch war. Der Grund dieser gleichen Gesinnung war ganz einfach: kein Staat, welche Verfassung er auch habe, kann bestehen, wenn nicht alle Bürger übereinstimmend zur Erhaltung ihres gemeinsamen Vaterlandes beitragen.

Gehen wir nun die Beispiele durch, die uns die römische Republik liefert. Ihre große Zahl bringt mich in Verlegenheit um die Auswahl. Ich will Ihnen nicht von Mucius Scävola, Decius291-1 und dem alteren Brutus291-2 reden, der das Todesurteil seines eignen Sohnes unterschrieb, um die Freiheit der Republik zu retten. Aber wie könnte ich die Hochherzigkeit des Atilius Regulus vergessen, der seinen eignen Vorteil dem der Republik opferte und nach Karthago zurückkehrte, um dort einen quälvollen Tod zu erleiden? Nach ihm kommt Scipio Africanus, der den Krieg, den Hannibal in Italien führte, nach Afrika verlegte und ihn durch einen entscheidenden Sieg über die Karthager ruhmvoll beendete. Dann erscheint Cato, der Zensor, Ämilius Paullus, der Besieger des Königs Perseus, dann Cato von Utica, der eifrige Verfechter der alten Verfassung. Soll ich Cicero vergessen, der sein Vaterland vor den Mordanschlägen Catilinas rettete, Cicero, der die sterbende Freiheit der Republik verteidigte und mit ihr unterging? Soviel vermag die Vaterlandsliebe über die energische, hochherzige Seele eines guten Bürgers. Dem von dieser glücklichen Begeisterung erfüllten Geiste erscheint nichts unmöglich; er schwingt sich rasch zum Heldentum empor. Das Andenken jener großen Männer wurde mit Lob überschüttet; alle Jahrhunderte bis auf unsre Zeit haben es nicht zu schwächen vermocht: ihre Namen werden noch heute mit Verehrung genannt. Das sind Vorbilder, würdig der Nachahmung bei allen Völkern und in allen Verfassungen. Aber das Geschlecht dieser männlichen Seelen, dieser Männer voller Nero und Tugend, scheint ausgestorben. Weichlichkeit ist an Stelle der Ruhmesliebe getreten. Müßiggang hat die Wachsamkeit ersetzt, und elender Eigennutz zerstört die Vaterlandsliebe.

<292>

Glauben Sie nicht, ich beschränke mich auf Beispiele aus den Republiken. Ich muß Ihnen auch solche aus den Annalen der Monarchien anführen. Frankreich darf sich rühmen, große Männer hervorgebracht zu haben: Bayard, Bertrand du Guesclin292-1, Kardinal d'Amboise292-2, den Herzog von Guise, der die Picardie rettete292-3, Heinrich IV., Kardinal Richelieu, Sully, kurz vorher den Kanzler L'Hôpital292-4, einen trefflichen, tugendhaften Bürger, dann Turenne, Conde, Colbert, die Marschälle von Luxemburg und Villars, kurz, eine Fülle berühmter Namen, die sich in einem Briefe nicht alle aufzählen lassen.

Wenden wir uns nun nach England und übergehen wir Alfred den Großen und eine Menge berühmter Männer aus vergangenen Jahrhunderten, um gleich auf die neuere Zeit zu kommen. Da finde ich einen Marlborough, Stanhope Ehesterfield292-5, Bolingbroke und Pitt292-6, deren Namen nie untergehen werden.

Deutschland hat im Dreißigjährigen Krieg Energie entfaltet; ein Bernhard von Weimar, ein Herzog von Braunschweig292-7 und andre Fürsten taten sich durch ihren Mut hervor, eine Landgräfin von Hessen, die Regentin des Landes292-8, bewies hohe Standhaftigkeit.

Man muß gestehen, wir leben in einem kleinen Jahrhundert; die Epochen großer und tugendhafter Geister sind vorüber. Wenn aber in jenen für die Menschheit so ruhmreichen Zeiten verdienstvolle Männer, von edlem Wetteifer getrieben, sich ihrem Vaterlande nützlich machten, warum folgen Sie dann nicht ihrem glorreichen Beispiel, Sie, der Sie gleichfalls Verdienste haben? Entsagen Sie hochherzig den abstoßenden Ausreden, die Ihnen die Trägheit einflüstert, und ist Ihr Herz nicht fühllos, so beweisen Sie durch Ihre Dienste Ihre Liebe zum Vaterland, dem Sie Dank schulden. Sie sind nicht ehrgeizig, sagen Sie. Das billige ich, aber ich tadle es, wenn Sie ohne Wetteifer sind; denn es ist eine Tugend, unsre Mitbewerber in unsrer Laufbahn in edlen Taten zu überholen. Ein Mensch, der aus Trägheit nicht handelt, gleicht einer Statue von Erz oder Marmor, die stets die gleiche Stellung bewahrt, die der Künstler ihr gab. Tätigkeit unterscheidet uns und erhebt uns über das Pflanzenreich; Müßiggang aber bringt uns ihm näher.

Doch kommen wir der Sache noch näher und greifen wir unmittelbar die Beweggründe an, mit denen Sie Ihre Nutzlosigkeit und Ihre Gleichgültigkeit gegen das öffentliche Wohl zu rechtfertigen wähnen. Sie fürchten sich, sagen Sie, sich für irgend ein Amt verantwortlich zu machen. Wahrhaftig, diese Entschuldigung sieht<293> Ihnen nicht an! Sie gehörte eher in den Mund eines, der seinen geringen Talenten mißtraut, sich seiner Unfähigkeit bewußt ist oder fürchtet, daß sein Mangel an Zuverlässigkeit ihn um seinen Ruf bringen möchte. Dürfen Sie so reden, Sie, ein Mann von Geist, Kenntnissen und guten Sitten? Welch schlimmes Urteil würde die Welt fällen, wenn sie solche üblen Ausreden erführe? Sie sagen ferner, jetzt wären Sie niemandem Rechenschaft über Ihr Tun und Lassen schuldig. Sind Sie denn nicht verantwortlich vor der Öffentlichkeit, deren durchdringendem Blick nichts entgeht? Sie wird Sie entweder der Trägheit oder der Fühllosigkeit zeihen, wird sagen, daß Sie Ihre Fähigkeiten brach liegen lassen, daß Sie Ihre Talente vergraben, daß Sie, gleichgültig gegen Ihre Mitmenschen, nichts als Eigenliebe kennen. Sie fügen hinzu, Sie brauchten sich nicht zu Diensten zu bequemen, da Sie reich wären. Ich gebe zu, Sie brauchen kein Tagelöhner zu sein, um Ihr Dasein zu fristen. Aber gerade weil Sie reich sind, haben Sie mehr als irgend jemand die Pflicht, Ihrem Vaterlande Anhänglichkeit und Dankbarkeit zu beweisen, indem Sie ihm mit Liebe und Eifer dienen. Je weniger Sie es nötig haben, um so größer ist Ihr Verdienst. Die Leistungen der einen entspringen aus ihrer Dürftigkeit, die der andren sind unentgeltlich.

Ferner füllen Sie mir die Ohren mit alten, abgedroschenen Redensarten, daß Verdienst wenig Anerkennung und noch seltener Lohn fände, daß Sie nach langem Aufwand von Sorgen und Mühen in Ihrem Amte doch Gefahr liefen, zurückgesetzt zu werden, ja wohl gar schuldlos in Ungnade zu fallen. Hierauf wird mir die Antwort sehr leicht. Ich bin überzeugt. Sie besitzen Verdiensie: machen Sie sie bekannt! Vernehmen Sie, daß edle Taten in unsrem Jahrhundert so gut Beifall finden, wie in früheren Zeiten. Die ganze Welt stimmt in das Lob des Prinzen Eugen ein; noch heute bewundert man seine Talente, seine Tugenden und Großtaten. Als der Marschall von Sachsen den ruhmreichen Feldzug von Laveld (1747) beendet hatte293-1, bezeigte ihm ganz Paris seine Dankbarkeit. Nie vergißt Frankreich, was es dem Kriegsminster Colbert verdankt. Das Andenken dieses großen Mannes wird länger bestehen als das Louvre. England rühmt sich eines Newton, Deutschland eines Leibniz. Wollen Sie neuere Beispiele? Preußen achtet und ehrt den Namen seines Großkanzlers Cocceji, der seine Gesetze so weise erneuert hat293-2. Und was soll ich erst von so vielen großen Männern sagen, deren Verdiensten man Denkmäler auf öffentlichen Plätzen in Berlin errichtet hat293-3? Hätten diese berühmten Toten so gedacht wie Sie, die Nachwelt hätte nie von ihrem Dasein erfahren.

Sie setzen hinzu, es bewürben sich so viele um Ämter, daß es unnütz wäre, in ihre Reihen zu treten. Hier liegt der Fehler Ihrer Beweisführung. Dächte alle Welt wie Sie, so blieben notwendig alle Stellen leer und folglich alle Ämter unbesetzt.<294> Ihre Grundsätze würden also bei allgemeiner Befolgung unerträgliche Mißstände in der Gesellschaft hervorrufen. Nehmen wir schließlich an, Sie hätten treulich Ihres Amtes gewaltet und fielen durch eine schreiende Ungerechtigkeit in Ungnade. Bliebe Ihnen da nicht ein großer Trost im Zeugnis Ihres guten Gewissens, das Ihnen für alles andre Ersatz zu bieten vermag, ganz abgesehen davon, daß die öffentliche Meinung Ihnen Gerechtigkeit widerfahren ließe?

Wenn Sie wollen, führe ich Ihnen eine Menge von Beispielen großer Männer an, deren Ruhm durch ihr Unglück nicht geschmälert, sondern vielmehr gesteigert wurde. Hier einige Beispiele aus Republiken. Im Kriege des Xerxes gegen die Griechen rettete Themistokles zweimal die Athener, indem er sie bewog, ihre Mauern zu verlassen, und indem er die berühmte Seeschlacht von Salamis gewann. Dann erneuerte er die Mauern seiner Vaterstadt und legte den Piräushafen an. Trotzdem ward er durch das Scherbengericht verbannt. Er ertrug sein Mißgeschick mit Seelengröße, und sein Ruf litt darunter nicht nur nicht, sondern nahm noch zu, und sein Name wird in der Geschichte oft neben denen der größten Männer genannt, die Griechenland hervorbrachte. Aristides, mit dem Beinamen der Gerechte, erfuhr fast das gleiche Schicksal. Er wurde verbannt, dann zurückgerufen, aber stets wegen seiner Weisheit geschätzt. Ja, nach seinem Tode setzten die Athener seinen unbemittelten Töchtern einJahresgehalt aus. Soll ich Sie noch an den unsterblichen Cicero erinnern, der durch Ränke verbannt wurde, nachdem er das Vaterland gerettet hatte? Soll ich Sie an all die Gewalttaten erinnern, die sein Feind Clodius gegen ihn und seine Angehörigen verübte? Trotzdem rief ihn das römische Volk einstimmig zurück. Er selbst spricht sich folgendermaßen darüber aus: „Ich wurde nicht allein zurückgerufen; meine Mitbürger trugen mich gleichsam auf ihren Schultern nach Rom zurück, und meine Heimkehr in die Vaterstadt war ein wahrer Triumph.“294-1

Unglück kann den Weisen nicht erniedrigen; denn es kann ebenso leicht gute wie schlechte Bürger treffen. Nur Verbrechen, die wir begehen, entehren uns. Also, statt Beispiele verfolgter Tugend als Zügel zu brauchen und sich durch sie abhalten zulassen, sich auszuzeichnen, lassen Sie sich lieber durch meinen Sporn dazu antreiben! Ich ermuntere Sie, Ihre Pflichten zu erfüllen, Ihre guten Eigenschaften an den Tag zu legen, durch Taten zu beweisen, daß Sie für das Vaterland ein dankbares Herz haben, kurz, die Laufbahn des Ruhmes einzuschlagen, die Sie zu betreten würdig sind. Ich verlöre Zeit und Mühe, überzeugte ich Sie nicht, daß meine Ansichten richtiger sind als die Ihren und allein einem Manne Ihrer Herkunft geziemen. Ich liebe mein Vaterland mit Herz und Seele. Meine Erziehung, mein Hab und Gut, mein Dasein — alles verdanke ich ihm. Hätte ich tausend Leben, ich würde sie alle mit Freuden opfern, wenn ich ihm dadurch einen Dienst erweisen oder meine Dankbarkeit bezeigen könnte. Mein Freund Cicero sagt in einem seiner Brefe: „Ich glaube niemals dankbar<295> genug sein zu können.“ Ich gestatte mir, wie er zu denken und zu fühlen, und ich wage zu hoffen, Sie werden nach reiflicher Erwägung aller dargelegten Gründe einer Meinung mit mir über das Verhalten eines Ehrenmannes sein und wir werden einander ermuntern, die Pflichten eines guten Bürgers zu erfüllen, der mit zärtlicher Liebe an seinem Vaterland hängt und von patriotischem Eifer erglüht.

Sie haben mir Einwendungen gemacht, die ich widerlegen mußte. Ich war außerstande, so viele Dinge in weniger Worte zu fassen. Finden Sie meinen Brief zu lang, so bitte ich um Entschuldigung. Sie werden mir hoffentlich Verzeihung gewähren in Anbetracht der aufrichtigen Freundschaft, mit der ich bin usw.

7. Brief des Anapistemon

Ich muß gestehen, lieber Freund, daß Sie mir stark zusetzen. Nicht die geringste Kleinigkeit lassen Sie mir durchgehen. Zur Zerstörung einiger kleiner Schlußfolgerungen, die ich nach Kräften zu verteidigen suche, fahren Sie schweres Geschütz auf, das in meine armen Beweisgründe Bresche schießt, und stellen das Feuer nicht eher ein, als bis meine zerstörten und eingestürzten Verteidigungswerke Ihnen kein Ziel mehr bieten. Ja, Sie haben es beschlossen, ich soll mit aller Gewalt mein Vaterland lieben, ihm dienen und anhängen, und Sie bedrängen mich derart, daß ich fast nicht mehr weiß, wie ich Ihnen entkommen soll.

Indes hat man mir von irgend einem Enzyklopädisten erzählt, nach dessen Worten die Erde der gemeinsame Wohnsitz aller Menschen ist und der Weise ein Weltbürger, der sich überall wohl befindet295-1. Vor einiger Zeit hörte ich einen Gelehrten dies Thema erörtern. Alles, was er sagte, nahm mein Geist mit solcher Leichtigkeit auf, als hätte ich es selber gedacht. Diese Ideen erhoben meine Seele. Meine Eitelkeit gefiel sich in dem Gedanken, daß ich mich nicht mehr als unbekannten Untertan eines kleinen Staates, sondern fortan als Weltbürger betrachten könnte. Ich wurde alsbald Chinese, Engländer, Türke, Franzose und Grieche, wie es meiner Laune gefiel. Ich versetzte mich im Geiste bald in das eine, bald in das andre Volk und verweilte bei dem, das mir am meisten zusagte.

Aber mir ist, als hörte ich Sie schon. Sie möchten auch diesen holden Traum zerstören. Er ist leicht zu verscheuchen, allein was gewinne ich dabei? Ist schöner Trug nicht besser als traurige Wahrheiten, die uns anwidern? Ich weiß, wie schwer man Sie von Ihren Meinungen abbringt. Sie wurzeln in so festen Gründen,<296> sind durch so viele Beweise in Ihrem Geiste verankert, daß ich umsonst versuchen würde, sie zu entwurzeln. Ihr Leben ist eine beständige Betrachtung; das meine stießt sanft dahin. Ich begnüge mich mit dem Genießen, überlasse das Nachdenken andren und bin zufrieden, wenn es mir gelingt, mich zu unterhalten und zu zerstreuen. Eben dadurch haben Sie soviel vor mir voraus, besonders bei der Erörterung schwieriger Fragen, die viele Gedankenverknüpfungen erfordern. Ich bin also darauf gefaßt, daß Sie mit Ihrem ganzen Rüstzeug gegen meine letzten Verschanzungen vorgehen werden. Ich sehe voraus, daß ich mein Unabhängigkeitssystem werde aufgeben müssen, in dem ich mich so bequem eingerichtet hatte. Ihre zwingenden Beweise werden mich nötigen, einen neuen Lebensplan zu entwerfen, der besser als der bisher von mir verfolgte den Pflichten meines Standes entspricht.

Allein es entstehen immerfort neue Zweifel in meinem Geiste. Sie sind der Arzt, dem ich die Leiden meiner Seele anvertraue; Ihr Amt ist es, sie zu heilen. Sie sprachen mir von einem Gesellschaftsvertrag; niemand hat mich davon unterrichtet. Wenn dieser Vertrag besieht, ich habe ihn nicht unterschrieben. Nach Ihrer Ansicht habe ich Pflichten gegen die Gesellschaft; ich weiß nichts davon. Ich soll eine Schuld abzutragen haben: an wen? An das Vaterland. Für welches Kapital? Ich ahne es nicht. Wer hat mir dies Kapital geliehen? Wann? Wo ist es? Indes gebe ich Ihnen zu, wenn alle Welt müßig ginge und nichts täte, müßte unser Geschlecht notwendig zugrunde gehen. Allein das ist nicht zu befürchten; denn die Not zwingt den Armen zur Arbeit, und es hat nichts weiter auf sich, wenn ein Reicher sich ihr entzieht. Nach Ihren Grundsätzen wäre in der Gesellschaft alles tätig, jeder handelte, jeder arbeitete. Ein solcher Staat gliche einem Bienenkorbe, wo jede Biene ihre Beschäftigung hat. Die eine gewinnt den Saft aus den Blumen, die andre knetet Wachs in den Zellen, eine dritte dient der Fortpflanzung der Art, und es gibt keine unsühnbare Sünde außer dem Müßiggang.

Sie sehen, ich gehe ehrlich zu Werke. Ich verhehle Ihnen nichts, ich gestehe Ihnen alle meine Zweifel. Es fällt mir schwer, mich so rasch von meinen Vorurteilen zu trennen, wenn es welche sind. Die Gewohnheit, die Tyrannin der Menschen, hat mir eine gewisse Lebensart beigebracht, an der ich hänge. Vielleicht müßte ich mich erst mit den neuen Ideen vertrauter machen, die Sie mir darlegen. Ich gestehe, mir widerstrebt es noch etwas, mich unter das Joch zu beugen, das Sie mir aufbürden wollen. Der Verzicht auf meine Ruhe, die Überwindung meiner Trägheit kostet mir schwere Anstrengungen. Die unaufhörliche Beschäftigung mit fremden Angelegenheiten, die Plackerei um das öffentliche Wohl schreckt mich ab. Aristides, Themistokles, Cicero und Regulus sind freilich Beispiele von Seelengröße und Hochherzigkeit, die die Welt anerkannt hat. Aber wieviel Mühe ist nötig, um ein wenig Ruhm zu erkaufen! Man erzählt, Alexander der Große habe nach einem seiner Siege ausgerufen: „O Athener, wenn Ihr wüßtet, was es kostet, von Euch gelobt zu werden!“296-1

<297>

Sie werden mir diese Betrachtungen nicht hingehen lassen, werden sie zu weichlich und weibisch finden. Sie verlangen eine Regierung, in der alle Bürger nur Nerv und Energie sind, alle nur Tatkraft zeigen. Ich glaube, Sie dulden Ruhe nur bei Schwachsinnigen, Kranken, Blinden und Greisen. Da ich zu diesen nicht gehöre, so bin ich auf meine Verdammung gefaßt.

Ich kann Ihnen nicht verhehlen, daß der Gegenstand, den wir erörtern, weit umfangreicher ist, als ich mir gedacht hatte. Wie viele ineinander verschlungene Zweige, wie unendlich viele Verknüpfungen sind nötig, um einen so vielgliedrigen Körper wie eine regelrechte Regierung zu bilden! Bücher gibt es nur wenige über dies Thema, und die sind auch noch von tätlicher Pedanterie. Sie haben alles ergründet und machen mir Ihre Kenntnisse zugänglich. Ihnen verdanke ich es, daß Sie mich bis auf die angedeuteten Schwierigkeiten belehrt haben. Fahren Sie bitte fort, wie Sie angefangen haben. Ich betrachte Sie als meinen Lehrer und rechne es mir zur Ehre an, Ihr Schüler zu sein.

Die Beziehungen der Bürger zueinander, die verschiedenen gesellschaftlichen Bande, die Forderungen unsrer Pfiichten — all diese Gedanken kochen und gären unaufhörlich in meinem Kopfe. Ich denke an fast weiter nichts mehr. Begegne ich einem Landmann, so segne ich ihn für die Beschwerden, die er erträgt, um mich zu ernähren. Sehe ich einen Schuhmacher, so danke ich ihm im Herzen für die Mühe, die er sich gibt, mir Schuhe zu machen. Geht ein Soldat vorüber, so bete ich für den tapferen Vaterlandsverteidiger. Sie haben mein Herz mitfühlend gemacht. Nun schließe ich alle meine Mitbürger dankerfüllt hinein, besonders aber Sie, der mir die Natur meiner Pfiichten erklärt und mir dadurch ein neues Vergnügen verschafft hat. Sie haben gesprochen, und die Nächstenliebe erfüllt meine Seele mit einem göttlichen Gefühl. Ich bin mit der größten Hochachtung und der vollkommensten Dankbarkeit Ihr usw.

8. Brief des Philopatros

Nein, lieber Freund, ich bekriege Sie nicht, ich ehre und achte Sie. Ich trenne Ihre Person von dem Gegenstand, der uns beschäftigt, und greife lediglich die Vorurteile und Irrtümer an, die sich von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzen würden, gäben die Freunde der Wahrheit sich nicht die Mühe, sie zu enthüllen und der Welt die Augen zu öffnen. Ich sehe mit größter Genugtuung, daß Sie sich mit einigen meiner Meinungen vertraut zu machen beginnen. Mein System zielt einzig und allein auf das Allgemeinwohl ab; es will die Bande zwischen den Bürgern nur enger knüpfen, um sie dauerhafter zu machen. Ihr wohlverstandener Vorteil soll<298> einen wie den andren dazu anspornen, ihrem Vaterlande aufrichtig zu dienen. Sie sollen mit gleichem Eifer zum Wohle der Gesellschaft beitragen; denn je mehr sie daran arbeiten, um so besser gelingt es ihnen.

Bevor ich aber in dem fortfahre, was ich Ihnen noch zu sagen habe, muß ich erst eine neue Schwierigkeit beseitigen, die Sie über den Gegenstand unsrer Erörterung erheben.

Sie sagen, Sie wüßten nicht, worin der Gesellschaftsvertrag besiehe. Hören Sie: er entstand durch das gegenseitige HUfsbedürfnis der Menschen. Da aber keine Gemeinschaft ohne Tugend und gute Sitten bestehen kann, so mußte jeder Bürger einen Teil seines Eigennutzes dem seiner Nächsien opfern. Daraus folgt: wenn Sie nicht betrogen werden wollen, dürfen Sie selbst nicht betrügen. Wollen Sie nicht bestohlen werden, so müssen Sie selbst nicht stehlen. Verlangen Sie Hilfe in der Not, so müssen Sie selbst stets hilfsbereit sein. Wollen Sie nicht, daß jemand unnütz sei, so arbeiten Sie selbst. Soll der Staat Sie verteidigen, so tragen Sie mit Ihrem Gelde dazu bei, besser noch, durch Ihre eigne Person. Wünschen Sie die öffentliche Sicherheit, so gefährden Sie sie selbst nicht. Soll Ihr Vaterland gedeihen, so ermannen Sie sich und dienen Sie ihm mit allen Kräften!

Sie sagen ferner, niemand habe Sie über den Gesellschaftsoertrag belehrt. Das ist die Schuld Ihrer Eltern und Erzieher, die einen so wichtigen Gegenstand nicht hätten außer acht lassen dürfen. Hätten Sie jedoch nur ein wenig nachgedacht, so hätten Sie ihn leicht selbst erraten.

Sie sagen weiter: Ich weiß nicht, welche Schuld ich der Gesellschaft abzutragen habe, noch wo das Kapital ist, dessen Zinsen sie fordert. Das Kapital sind Sie, Ihre Erziehung, Ihre Eltern, Ihr Vermögen. Dies Kapital ist in Ihrem Besitz. Die Zinsen, die Sie entrichten sollen, sind, daß Sie Ihr Vaterland wie Ihre Mutter lieben und ihm Ihre Talente weihen. Indem Sie sich nützlich machen, zahlen Sie alles heim, was das Vaterland von Ihnen zu fordern das Recht hat. Ich setze hinzu: es ist gleichgültig, welche Regierungsform Ihr Vaterland hat. Alle Verfassungen sind Menschenwerk, und vollkommen ist keine. Ihre Pflichten bleiben also die gleichen; ob Monarchie oder Republik, ist einerlei.

Gehen wir weiter. Wie ich mich erinnere, erwähnt Ihr Brief den Ausspruch eines Enzyklopädisten, den man Ihnen berichtet hat. Seit einigen Jahren werden wir von solchen Werken überschwemmt. Man findet darin eine kleine Anzahl guter Dinge und einige wenige Wahrheiten; der Rest scheint mir ein Haufen von Aberwitzigkeiten und leichtfertig vorgebrachten Ideen, die man erst hätte prüfen und verbessern müssen, ehe man sie dem Urteil der Öffentlichkeit unterbreitete. In gewissem Sinne trifft es zu, daß die Erde der Wohnsitz der Menschen ist, wie die Luft den Vögeln, das Wasser den Fischen gehört und das Feuer den Salamandern — wenn es welche gäbe. Aber es verlohnte sich nicht, einen solchen Gemeinplatz mit so großer Emphase zu verkünden.

<299>

Sie sagen ferner, nach den Enzyklopädisten sei der Weise ein Weltbürger. Zugegeben, wenn der Verfasser damit meint, alle Menschen seien Brüder und müßten einander lieben. Aber ich höre auf, seine Meinung zu teilen, wenn es seine Absicht ist, Landstreicher heranzubilden, Menschen, die an nichts hängen, die aus Langeweile die Welt durchstreifen, aus Not Spitzbuben werden und schließlich hier oder dort für ihr zügelloses Leben bestraft werden. Dergleichen Ideen finden leicht Aufnahme und setzen sich in leichtfertigen Köpfen fest. Ihre Folgen sind dem Wohl der Gesellschaft stets zuwider. Sie führen zur Auflösung des gesellschaftlichen Verbandes; denn sie entwurzeln im Herzen der Bürger unmerklich den Eifer und die Anhänglichkeit, die sie ihrem Vaterlande schulden.

Dieselben Enzyklopädisten haben sogar die Vaterlandsliebe, zu der das Altertum uns so sehr mahnt und die jederzeit die Quelle der edelsten Handlungen war, so lächerlich gemacht, wie sie konnten. Über diesen Gegenstand urteilen sie ebenso kläglich, wie über viele andre. Sie dozieren, es gäbe kein Ding, das sich Vaterland nennt. Das sei der hohle Begriff irgend eines Gesetzgebers, der das Wort geschaffen habe, um die Bürger zu regieren. Was aber in Wirklichkeit nicht vorhanden sei, könne unsre Liebe nicht verdienen. Das nenne ich eine erbärmliche Beweisführung! Sie machen keinen Unterschied zwischen dem, was die Schulweisheit ens per se und ens per aggregationem nennt. Das eine bedeutet ein einzelnes Ding für sich, wie Mensch, Pferd, Elefant; das andre faßt mehrere zu einem Ganzen zusammen, z. B. die Stadt Paris, worunter man ihre Einwohner versieht, ein Heer, das heißt eine Menge Soldaten, ein Reich, das heißt eine zahlreiche Gesellschaft von Menschen. So heißt das Land, in dem wir zur Welt kamen, das Vaterland. Es ist also wirklich vorhanden und kein abstraktes Wesen. Es besieht aus einer Menge von Bürgern, die im selben Gesellschaftsverbande, unter den gleichen Gesetzen und Sitten leben. Da unsre Interessen mit den ihren eng verknüpft sind, schulden wir ihm Anhänglichkeit, Liebe und Dienstleistungen. Was könnten diese lauen und schlaffen Seelen antworten, was könnten alle Enzyklopädisten der Welt erwidern, wenn das Vaterland plötzlich in Person vor sie träte und sie etwa so anredete:

„Ihr entarteten, undankbaren Kinder, denen ich das Leben gab, werdet Ihr denn stets fühllos gegen die Wohltaten sein, mit denen ich Euch überhäufe? Woher stammen Eure Voreltern? Ich habe sie erzeugt. Woher nahmen sie ihre Nahrung? Aus meiner unerschöpflichen Fruchtbarkeit. Ihre Erziehung? Sie verdanken sie mir. Ihr Hab und Gut? Mein Boden hat sie geliefert. Ihr selbst seid meinem Schoß entsprossen. Kurz, Ihr, Eure Eltern, Eure Freunde, alles, was Euch aus Erden teuer ist — ich gab ihm das Dasein. Meine Gerichtshöfe schützen Euch vor Unbill, verteidigen Eure Rechte, verbürgen Euer Eigentum. Meine Polizei wacht über Eure Sicherheit. Ihr zieht durch Land und Stadt ebenso sicher vor dem Überfall von Räubern wie vor dem Dolche der Mörder. Meine Truppen schützen Euch vor den Gewalttaten, der Raubgier und den Einfällen unsrer gemeinsamen Feinde. Ich befriedige nicht nur<300> Eure unmittelbarsten Bedürfnisse, sondern verschaffe Euch auch alle Annehmlichkeiten und Bequemlichkeiten des Lebens. Wollt Ihr Euch unterrichten, so findet Ihr Lehrer aller Art. Wollt Ihr Euch nützlich machen, so harren Eurer die Ämter. Seid Ihr krank oder unglücklich, so hält meine Zärtlichkeit Hilfe für Euch in Bereitschaft. Und für alle die Wohltaten, die ich Euch täglich spende, verlange ich von Euch keinen andren Dank, als daß Ihr Eure Mitbürger von Herzen liebt und mit aufrichtiger Hingabe für alles eintretet, was ihnen ersprießlich ist. Sie sind meine Glieder, sie sind ich selbst. Ihr könnt sie nicht lieben, ohne Euer Vaterland zu lieben. Aber Eure verhärteten und ungeselligen Herzen wissen meine Wohltaten nicht zu schätzen. Ein zügelloser Wahn hat Eure Sinne umwölkt und lenkt Euch. Ihr wollt Euch von der Gesellschaft trennen, Euch absondern, alle Bande zerreißen, die Euch an mich fesseln sollen. Wo das Vaterland alles für Euch tut, wollt Ihr nichts für das Vaterland tun. Ihr seid widerspenstig gegen alle meine Liebesmühe, taub gegen alle meine Vorstellungen. Kann denn nichts Euer ehernes Herz beugen und erweichen? Geht in Euch! Laßt Euch durch den Vorteil Eurer Verwandten, Euer eignes wahres Interesse rühren! Möge Pflicht und Dankbarkeit sich dazugesellen und mögt Ihr fortan so gegen mich verfahren, wie Tugend und der Sinn für Ehre und Ruhm es von Euch fordern.“

Ich für mein Teil würde dem Vaterlande mit diesen Worten entgegeneilen: „Mein Herz ist von Liebe und Dankbarkeit durchdrungen. Ich brauchte Dich nicht zu sehen und zu hören, um Dich zu lieben! Ja, ich gestehe, daß ich Dir alles verdanke. Darum hänge ich zärtlich und unlöslich an Dir. Meine Liebe und Dankbarkeit werden erst mit meinem Tode enden. Mein Leben selbst ist Dein Eigentum. Wenn Du es zurückforderst, werde ich es Dir mit Freuden opfern. Für Dich sterben, heißt ewig im Gedächtnis der Menschen leben. Ich kann Dir nicht dienen, ohne mich mit Ruhm zu bedecken!“

Verzeihen Sie, lieber Freund, die Begeisterung, zu der mich der Eifer hinreißt. Sie sehen meine Seele unverhüllt. Wie könnte ich Ihnen auch verbergen, was ich so lebhaft fühle? Wägen Sie meine Worte, prüfen Sie alles, was ich Ihnen gesagt habe, und ich glaube, Sie werden mir zustimmen, daß nichts verständiger und tugendhafter ist als die echte Vaterlandsliebe. Lassen wir die Schwachsinnigen und Blinden aus dem Spiel: ihre Ohnmacht springt in die Augen. Was die Greise und Kranken betrifft, so können sie für das Wohl der Gesellschaft zwar nicht wirken, müssen aber für ihr Vaterland doch die gleiche zärtliche Anhänglichkeit hegen, wie Söhne für ihre Väter, an seinem Glück und Unglück teilnehmen und wenigstens für sein Wohl beten. Haben wir schon als Menschen die Pflicht, jedermann Gutes zu tun, so sind wir als Bürger erst recht gehalten, unsren Landsleuten nach besten Kräften beizustehen. Sie sind uns näher als fremde Völker, von denen wir keine oder nur geringe Kenntnis haben. Wir leben mit unsren Landsleuten. Unsre Sitten, Gesetze und Bräuche sind die gleichen. Wir atmen nicht nur die gleiche Luft, sondern teilen mit ihnen auch Glück und Unglück. Kann das Vaterland das Opfer unsres<301> Lebens von uns fordern, so kann es erst recht verlangen, daß wir uns ihm durch unsre Dienste nützlich machen: der Gelehrte durch Unterricht, der Philosoph durch Enthüllung der Wahrheit, der Finanzmann durch treue Verwaltung der Einkünfte, der Jurist, indem er der Sache die Form zum Opfer bringt, der Soldat, indem er sein Vaterland eifrig und tapfer verteidigt, der Staatsmann durch kluges Komdinieren und richtiges Schlußfolgern, der Geistliche durch Predigen der reinen Sittenlehre, der Landmann, der Handwerker, der Fabrikant, der Kaufmann durch Vervollkommnung des erwählten Berufes. Jeder Bürger, der so denkt, arbeitet für das Allgemeinwohl. Diese verschiedenen Zweige vereint und auf das gleiche Ziel gerichtet, bringen das Gedeihen der Staaten, ihr Glück, ihre Dauer und ihren Ruhm hervor. Das, lieber Freund, hat mein Herz mir in die Feder diktiert. Ich habe nicht wie ein Professor über diesen Gegenstand geschrieben; denn ich habe nicht die Ehre, ein Gelehrter zu sein, und unterhalte mich mit Ihnen einzig und allein, um Ihnen auseinanderzusetzen, was ich unter den Pflichten eines redlichen und treuen Bürgers gegen sein Vaterland versiehe. Diese flüchtige Skizze genügt für Sie, da Sie die Dinge rasch erfassen und durchdringen. Ich versichere Ihnen, ich hätte nicht so viel Papier bekritzelt, ohne die Absicht, Ihnen gefällig und dienstbar zu sein. Ich bin mit aufrichtiger Zuneigung usw.

9. Brief des Anapistemon

Ihr letzter Brief, lieber Freund, bringt mich zum Schweigen; ich bin gezwungen, mich zu ergeben. Von nun an schwöre ich meine Trägheit und Gleichgültigkeit ab. Ich entsage den Enzyklopädisten wie der Lehre Epikurs und weihe alle Tage meines Daseins dem Vaterlande. Ich will künftig Bürger sein und Ihrem löblichen Vorbild in allen Stücken folgen. Meine Fehler gestehe ich Ihnen offen ein. Ich habe mich mit unbestimmten Begriffen begnügt, habe über den Gegenstand nicht genügend nachgedacht und ihn nicht reiflich erwogen. Meine sträfliche Unwissenheit hat mich bisher an der Erfüllung meiner Pflichten gehindert. Sie leuchten mir mit der Fackel der Wahrheit ins Gesicht, und meine Irrtümer verschwinden. Ich will die verlorene Zeit nachholen, indem ich jeden durch meinen Eifer für das allgemeine Wohl übertreffe. Zum Vorbild nehme ich mir die größten Männer des Altertums, die sich im Dienste des Vaterlands ausgezeichnet haben, und nie werde ich vergessen, daß Ihr tugendsiarker Arm es war, der mir die Laufbahn erschloß, in der ich Ihren Schritten folge. Wie und wodurch könnte ich Ihnen meinen Dank für alles heimzahlen, was ich Ihnen schulde? Seien Sie wenigstens versichert, wenn etwas die Gefühle der Hochschätzung und Freundschaft, die ich für Sie hege, übertreffen kann, so ist es meine tiefe Dankbarkeit, mit der ich zeitlebens bin usw.

<302>

10. Brief des Philopatros

Sie überschütten mich mit Freude, lieber Freund! Ihr letzter Brief versetzt mich in Entzücken. Ich habe nie gezweifelt, daß eine so redliche Seele wie die Ihre der rechte Boden sei, um den Samen aller Tugenden aufzunehmen. Ich bin gewiß, das Vaterland wird die reichsten Ernten einsammeln. Die Natur hatte alles in Sie gelegt; Ihre Gefühle mußten nur aufkeimen. Wenn ich dazu beitragen durfte, bin ich stolz; denn die Bereicherung des Vaterlandes um einen guten Bürger ist mehr wert als eine Erweiterung seiner Grenzen. Ich bin usw.


251-1 Die Akademie wurde am 1. März 1765 errichtet. Vgl. Bd. VII, S. 142.

251-2 Der Plan gelangte nicht zur Ausführung; der Unterricht erfolgte vielmehr in der Ritterakademie selbst durch besondere Lehrer.

252-1 Graf Godefroi d'Estrades, französischer Staatsmann und Feldherr († 1686). Vgl. Bd. II, S. 12.

252-2 Arnaud d'Ossat, Kardinal und französischer Staatsmann († 1604).

252-3 Laurent Echard, Histoireromaine depuis la fondation de Rome jusqu'à la translation de l'empire par Constantin (Paris, 1737).

252-4 Joseph Barre, Histoire générale d'Allemagne (Paris, 1748).

253-1 Vgl. S. 50.

253-2 Johann Hübner (1668—1731), Verfasser des 1693 zuerst erschienenen und immer wieder neu aufgelegten Lehrbuches „Kurze Fragen aus der alten und neuen Geographie“.

253-3 Vgl. S. 44 ff.

253-4 Vgl. S. 17.

254-1 Vgl. S.40ff.

254-2 Vgl. Bd. III. S. 8.

256-1 Generalmajor Johann Jobst Heinrich Wilhelm von Buddenbrock, zugleich Chef des Kadettenkorps.

257-1 Die Abhandlung wurde am 15. Dezember 1769 abgeschlossen und 1770 gedruckt. Der als Empfänger des Briefes fingierte Professor Johann Jakob Burlamaqui (1694—1748) lebte in Genf und hat zwei Werke über Völkerrecht verfaßt.

258-1 Vgl. Bd. II, S. 47.

258-2 Vgl. S. 251 ff.

258-3 Für die Kritik des Unterrichts und Lebens auf den Universitäten vgl. S. 88 ff. und das Lustspiel „Die Schule der Welt“ (Bd. IX).

259-1 Vgl. S. 79.

259-2 Vgl. S. 81.

260-1 Vgl. S. 81 und 218.

260-2 Vgl. S. 92.

260-3 Vgl. S. 86.

260-4 Vgl. S. 40 f. 90. 96. 236.

260-5 Wahrscheinlich der Philosophieprofessor Georg Friedrich Meyer in Halle, den der König bei seinem dortigen Besuche am 16. Juni 1754 lennen lernte.

261-1 General von Buddenbrock (vgl. S. 256).

262-1 Vgl. den Kabinettserlaß vom 5. September 1779 an den Staatsminister Freiherrn von Zedlitz (Anhang, Nr. 2).

268-1 Die Schrift wurde für die Académie des Nobles und das Kadettenkorps verfaßt und zugleich mit dem französischen Text in deutscher übersehung von Ramler gedruckt. Der Dialog ist eine Nutzanwendung der Abhandlung „Die Eigenliebe als Moralprinzip“ (vgl. S. 44 ff.).

273-1 Vgl. Band III, S. 120.

273-2 Vgl. dazu S. 37 f.

280-1 Diese von J. J. Rousseau in seinem „Contrat social“ (1762) gebrauchte Bezeichnung des von der Naturrechtslehre angenommenen Vertrages kommt auch in der Abhandlung über die Regierungs, formen und Herrscherpflichten (vgl. Bd. VII, S. 225 ff.) vor.

281-1 Vgl. Bd. VII, S. 165. 215 f.

282-1 Marcus Vipsanius Agrippa, Freund und Feldherr des Kaisers Augustus; Paetus Thrasea und Helvidius Priscus, römische Senatoren, die wegen ihres lauteren Charakters von Kaiser Nero verfolgt wurden; Gnäus Domikius Corbulo, Feldherr unter den Kaisern Claudius und Nero; Gnäus Julius Agricola, Feldherr unter den Kaisern Vespasian und Domitian.

291-1 Vgl. E. 50.

291-2 Lucius Junius Brutus († 509 v. Chr.). Vgl. S. 239.

292-1 Bertrand du Guesclin (1320—1380), Connetable von Frankreich.

292-2 Georg d'Amboise (1460 bis 1510), Kardinal und Minister Ludwigs XII.

292-3 Gemeint ist Franz von Lothringen, Herzog von Guise (1519—1563), und die Eroberung von Calais (1558), das den letzten englischen Besitz in Frankreich bildete.

292-4 Vgl. S. 28.

292-5 Philipp Dormer Stanhope Lord Chesterfield (1694—1773), Staatsmann und Schriftsteller.

292-6 Vgl. Bd. IV, S. 122.

292-7 August der Jüngere (1635—1666), Herzog zu Braunschweig und Lüneburg, Begründer der jüngeren Wolfenbüttler Linie des braunschweigischen Hauses.

292-8 Amalie Elisabeth (1602—1651), Enkelin Wilhelms I. von Oranien, Gemahlin des Landgrafen Wilhelm V. von Hessen-Kassel, führte nach dessen Tod (1637) die Regentschaft.

293-1 Vgl. Bd. III, S. 16.

293-2 Vgl. S. 36.

293-3 Das Reiterstandbild des Großen Kurfürsten auf der Kurfürstenbrücke wurde 1703 errichtet, die Statuen auf dem Wilhelmsplatz vom Feldmarschall Schwerin 1769, von Winterfeldt 1777. Später folgten die von Seydlitz (1784), Feldmarschall Keith (1786), Zielen (1794) und Fürst Leopold von Anhalt-Dessau (1800).

294-1 Oratio post reditum in senatu, Kap. XI, XV.

295-1 Die Erwähnung der Enzyklopädisten begründet der König in dem Schreiben an d'Alembert vom 3. Dezember 1779 mit den Worten: „Ich habe in ihren Werten gelesen, daß die Vaterlandsliebe ein Vorurteil sei.“

296-1 Plutarch, Leben Alexanders, Kap. 60.