Kronprinz Friedrich an Voltaire
(6. Juli 1737)
Das Wiederaufleben der Wissenschaften danken wir den Franzosen. Blutige Kriege, die Heraufkunft des Christentums und häufige Barbareneinfälle hatten den Künsten, die aus Hellas nach Italien geflohen waren, einen tötlichen Schlag versetzt. Noch verstrichen Jahrhunderte voller Unwissenheit, bis endlich die Fackel von den Franzosen neu entzündet wurde. Sie entfernten das Dorngestrüpp von dem Wege des Ruhmes, den man durch die Pflege der schönen Literatur beschreitet und der bis dahin völlig ungangbar war. Ist es da nicht recht und billig, wenn die andren Völker Frankreich dankbar bleiben für den Dienst, den es ganz Europa geleistet hat? Schulden wir nicht gleichen Dank denen, die uns das Leben schenken, wie denen, die uns die Mittel geben, uns zu bilden?
Den Deutschen fehlt es nicht an Geist. Der gesunde Menschenverstand ist ihr Erbteil; ihr Charakter kommt dem englischen ziemlich nahe. Die Deutschen sind fleißig und tief. Haben sie mal einen Gegenstand ergriffen, so erschöpfen sie ihn gründlich. Ihre Bücher sind von erdrückender Weitschweifigkeit. Könnte man ihnen ihre Schwerfälligkeit abgewöhnen und sie etwas mehr mit den Grazien befreunden, ich würde nicht daran verzweifeln, daß meine Nation große Männer hervorbringt.
Trotzdem wird es stets ein Hindernis für die Entstehung guter Bücher in unsrer Sprache geben, nämlich den Umstand, daß der Wortgebrauch nicht feststeht305-2. Da Deutschland in eine Unzahl von Staaten zerfällt, wird man ihre Herrscher nie dazu bewegen, sich den Entscheidungen einer Akademie zu unterwerfen. Unsren Gelehrten bleibt also nichts andres übrig, als in fremden Sprachen zu schreiben, und bei der großen Schwierigkeit ihrer völligen Beherrschung sieht sehr zu befürchten, daß unsre Literatur nie große Fortschritte machen wird.
<306>Nicht geringer ist eine zweite Schwierigkeit: die Fürsten verachten die Gelehrten insgemein. Ihre nachlässige Kleidung, mit Bibliothekssiaub bedeckt, und das Miß, Verhältnis zwischen einem mit guten Kenntnissen ausgestatteten Him und dem leeren Schädel der hohen Herrschaften führt dahin, daß diese sich über das Äußere der Gelehrten lustig machen, während die bedeutende Persönlichkeit ihnen entgeht. Für die Höflinge ist die Meinung der Fürsten zu sehr Gesetz, als daß sie anders zu denken wagten, und so verachten sie gleichfalls die Leute, die tausendmal mehr wert sind als sie. O tempora, o mores
305-2 Vgl. S.75.