<112>Nicht jeden so mit Spott und Hohn befehden.
Er würde mild vor fremden Fehlern stehn
Und sie in Lieb' und Güte übersehn.
Doch alle Freundschaft muß auf Erden sterben,
Wenn jene Krittler scheltend sie verderben.
Vor ihrem hohen Richterstuhl erliegt
Der Freund, vom Wenn und Aber bald besiegt.
Sie hassen ja der Menschen arm Geschlecht
Fast aus Geschmack, aus Zartgefühl erst recht.
Wird doch in diesem eisernen Jahrhundert
Nicht Nisus und Achates1 mehr bewundert.
Ein gütiger Mensch heißt bald ein dummer Junge,
Und Freundschaft redet nur mit böser Zunge:
„Mich schläfert Lycidas, der Gute, ein,
„Doch Perseus' Spottsucht geht fürwahr zu weit.
„Chrysipp will immer zu erhaben sein,
„Der tolle Damon sucht mit jedem Streit.
„Zu peinlich hütet Lytas all sein Gut,
„Zu mild ist Menelas, Sulpiz zu herrisch,
„Und Heraklit hat gar zu schweres Blut,
„Narziß ist ob der eignen Schönheit närrisch.“
Solch ein Geschwätz, zur Bosheit stets bereit,
Zerstört den Geist wahrer Geselligkeit.
O, wenn die Narrn, die sich so weise beuchten,
Sich einmal wollten ehrlich selbst beleuchten!
Im eignen Innern fänden sie nicht selten
Die Schwächen, die sie stolz bei andern schelten.
Wenn sie sich selbst wie ihren Freund belauschen,
Sie könnten wechselnd Fehl um Fehler tauschen
Und würden strahlender die Tugend sehn,
Wenn sie die Schwächen milder übergehn.
Wer alles schlecht nennt, selbst in Bosheit sank,
Wer alles gelb sieht, ist an Gelbsucht krank.
Ein Vorurteil ist öfter, als man denkt,
Der wahre Grund, der unser Handeln lenkt.
Von jeher war es der Natur Bestreben
Ein andres Antlitz jedem Ding zu geben.
1 Nisus ein Muster der Freundschaft, Achates ein treuer Diener, beides Gestalten aus der Äneis.