<114>Ja, über Freunde gar den Stab zu brechen,
Für Tugend blind, helläugig nur für Schwächen.
Wer dann im Schmähn noch sein Vergnügen sucht,
Den hat mein Herz noch allezeit verflucht.
Mir fällt hier ein, wie ich ein Gleichnis hörte
In Jahren, als man mich noch Fabeln lehrte:
Einst war im Jugendalter der Natur
Voll Einsicht eine jede Kreatur.
Vernunft erleuchtete das Tiergeschlecht,
Zu reden war sogar der Pflanzen heilig Recht,
Vollkommen jedes Ding von Anbeginn,
Und Blatt und Blüte raunten tiefen Sinn.
In einem Garten einst in jener Zeit
— Sein Name sank wohl in Vergessenheit —
Sprach dünkelhaft verächtlich zu dem Wein
Die Rose: „O, wie mußt du elend sein!
„Beschnitte nicht der Mensch dein reich Geäst,
„Und hielten kletternd die gekappten Ranken
„Nicht zärtlich die barmherz'ge Ulme fest,
„Du müßtest kriechend auf dem Boden kranken.
„Dein unbegnadet Holz trägt keine Blüten,
„Dein Laub ist schattenlos, duftlos die Frucht,
„Doch wenn die Sonnenstrahlen mich beglühten,
„Mir selbst Aurora nicht zu gleichen sucht.
„Des Weihrauchs Schwall, des seltnen Balsams Düfte
„Beleben nicht so süß wie ich die Lüfte.
„Ich schmücke hell das Haar der schönen Frauen,
„Man ruft mich stets zu allen Festen hin,
„Und wunderherrlich kannst du mich beschauen
„Als aller Gärten stolze Königin.“
„Ich gelte mehr als du,“ so sprach der Wein.
„Wie oft in deiner Schönheit jungem Schein
„Zerreißt ein rauher Wind dein prächtig Kleid:
„Kaum blühst du auf, bist du dem Tod geweiht.
„Ich schätzte höher deine Himmelsgaben,
„Wäre dein Stiel nicht so an Dornen reich
„Und würde lieber uns mit Früchten laben,
„Dann wärest du mir erst an Nutzen gleich.