<119>An Finck. Tugend gilt mehr als Geist
So will's Natur, daß Geisteskraft im Leibe
Beseelend wohne und das Uhrwerk treibe.
Doch soll der Geist, das himmlische Vermächtnis,
Nicht falschen Vorzugs sich bei mir erfreuen
Vor lautren Herzen, ihrer Pflicht getreuen!
Habt Ihr das staunenswerteste Gedächtnis,
Erwarbt Ihr selbst ein allumfassend Wissen,
Seid Ihr voll Geist und Witz, tief und erhaben —
Das alles läßt sich, fehlt die Achtung, missen:
Mein Beifall hängt an Euren Herzensgaben!
Geist ohne Tugend ist nur Mißgestalt;
Nur sie ist unser Schmuck und fester Halt.
Ob Ihr den Papst, ob Ihr Calvin verehrt —
Seid gute Bürger und Ihr seid mir wert!
Entzückt Ihr mich durch Tugend statt Verstand,
So drück' ich freudig Euch die Freundeshand!
Der Geist verwandelt nicht des Wesens Kern:
La Orange,1 der den Franzosen Schande macht,
Der Pfeile schnellte wider ihren Herrn
Und holden Zauber sanfter Harmonie
Dem meuchlerischen falschen Leumund lieh,
Verband Talent mit schwarzer Niedertracht;
Man las ihn, doch im tiefsten aufgebracht!
Mit reichem Geist ward mancher ein Verräter,
Betrüger, Räuber, Mörder, Missetäter.
Cromwell, der England sich zu Willen zwang,
Ein Schurke, dem der höchste Wurf gelang,
Der seinen König auf dem Blutgerüste
Hinopferte dem eignen Herrschgelüste
Und über seinesgleichen stieg im Flug —
Auch Cromwell hat vom Helden manchen Zug!2
Ein böser Geist zeigt stets die Tigerkralle,
Bestrickt er auch, verführt er doch nicht immer;
Oft blendet er durch äußren Glanz und Schimmer,
1 Vgl. S. 9 und Bd. VII, S. 32.
2 Vgl. Bd. I, S. 90.