<158>Wer Einsicht fühlt und Feinsinn, der verehrt
Statt Schönheit Geist, der unser Wesen klärt.
In Ihnen sind die Gaben wohlverbunden;
Ihr Sinn, der hundertfältig Früchte bringt,
Ist menschlich mild und immer frohbeschwingt.
Ihr Geistesreichtum lebt zu allen Stunden,
In allen Landen und in jeder Zeit.
Daß Sie so manchen wahren Freund gefunden
Und Glücks noch mehr, ist nur Gerechtigkeit.
Ihr graues Haar wird nimmer von Geschmeiden,
Von Flitterkram und Bändern nicht bedrückt.
In Riesenreifenröcken, goldgeschmückt,
Braucht nicht Ihr Körper Folterqual zu leiden.
Doch unter Ihres Haares Tracht entzückt
Uns Mannesgeist, so selten, ach! zu finden,
Dem wir so wohlverdiente Kränze winden.
So viele Freuden scheuchen Alters Pein —
Worauf wollt ihr euch, fade Schönen, stützen?
Die Lärvchen sind ja hübsch im Iugendschein;
Ihr ältlich Grinsen wird euch garnichts nützen.
Ihr äugelt schmeichlerisch, ihr tut gar fein,
Und Schönheit muß wohl allem Anmut geben.
Allein — ich sag' es nur mit Widerstreben —
Dasselbe gilt für unser Augenmerk
Von Bouchardon1 ein schönes Bildnerwerk.
Ach, wenn der Himmel, günstig eurem Lieben,
Euch stumm geschaffen hätt' von Anbeginn!
Wär' euren Buhlen Hörsinn ausgeblieben!
Dann konnte unser liebeglühnder Sinn
Sich länger mindstens in den Wahn versenken,
Daß euer Geist berufen sei, zu denken.
Doch jetzt ist jede so sehr Schwätzerin —
Mich überläuft ein todesfrostig Schaudern,
Vernehm' ich nur die Spur von eurem Plaudern;
Und eures Lockens sämtlichen Gewinn
1 Edme Bonchardon (1698—1762), französischer Bildhauer.