<283> Bardus. Ja, ich habe allen Grund, ihn zu lieben. Er schlägt ganz nach mir. Schon im zartesten Kindesalter war er so vielversprechend. Mit acht Jahren konnte er schon lesen und schreiben. Sanft war er wie ein Lamm. Mit fünfzehn Jahren hatte er bereits das ganze Rabbinersiudium hinter sich.

Argan. Aber warum ein so unfruchtbares Studium?

Bardus. Wie! Unfruchtbar? Unfruchtbares Studium! Sie haben ja keine Ahnung, mein Bester! Durch das Rabbinersiudium erwirbt man sich eine tiefgründige Gelehrsamkeit. Und es macht sich wunderhübsch, wenn man in einem Brief oder einer größeren Arbeit diesen oder jenen Rabbiner zitieren kann.1 Aber das ist natürlich noch nicht alles! Ich habe meinen Sohn auch Cujaz und Bartolo2 studieren lassen, Metaphysik und Physik und die höhere Mathematik.

Argan. Mr deucht, die Metaphysik ist kein ratsames Fach für einen jungen Mann. Das ist gerade so, als lehrte man ihn die chimärische Geschichte eines Landes, wo nie ein Mensch gewohnt hat oder wohnen wird. Ich will Ihren Geschmack gewiß nicht verurteilen, aber die schöne Literatur —

Bardus. Gehen Sie mir bloß mit Ihrer schönen Literatur! Das ist ja so gewöhnlich, so eine Allerweltssache! Dazu geben sich doch nur kleine Geister her, die den Weiberchen gefallen wollen. Virgil und Homer und am Ende sogar Cicero waren nicht würdig, dem Plato die Schuhriemen zu lösen. Und dieser große Philosoph wiederum verstand nicht einmal Algebra. Wie tief stand er noch unter dem doctissimus Leibniz und seinen Schülern.

Argan. Darin bin ich nicht ganz Ihrer Meinung. Mir scheint die schöne Literatur durchaus das Richtige für junge Leute, die für die feine Welt und hoffentlich auch für die große Welt bestimmt sind. Soll ein junger Mann gut sprechen, so muß er sich auf die Redekunst verstehen. Um seiner Konversation Nahrung zu geben, muß er sein Gedächtnis mit allen Meisterwerken aus alter und neuer Zeit ausstaffieren. Die schöne Literatur gibt der Rede den artigsten Firnis. Die Kunst der feinen Welt ist die Kunst zu gefallen. Daher wird ein begabter junger Mann sicherlich besser vorwärtskommen, wenn er sich mit einem Wort des Horaz schmückt, als wenn er einen Lehrsatz des Archimedes vorbringt.

Bardus. Mein werter Freund — es tut mir leid — mit diesen Studien, die lediglich Talent voraussetzen, haben Sie sich den Verstand verdorben. Wir Andersgearteten verschmähen eine so seichte Beschäftigung. Wir sind die Erforscher der Natur. Wir gehen den Dingen auf den Grund, während ihr nur über ihre Oberfläche hingleitet. Durch Berechnung einerseits, durch unsere metaphysischen Systeme


1 Vielleicht ein Stich auf Marquis d'Argens, den Verfasser der „Lettres juives“ (vgl. Bd. VIII, S. 132ff.).

2 Jacques Cujas (Cujacius), französischer Rechtslehrer (1522—1590); Bartolo (1314 bis 1357), italienischer Rechtslehrer.