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13. An Podewils87-1
Man tut nicht alles, was man könnte

Emsiger Freund, Du, der den Frieden liebt
Und unsrem Staatsschiff Ziel und Richtung gibt,
Der meine Plane schaffensfroh erfüllt
Und offnen Augs für unsre Wohlfahrt wacht —
Du siehst gewiß, hast Du des Weltlaufs acht,
Der täglich Deinen Blicken sich enthüllt,
Wie überall bei jedem Menschenschlag,
Vom Mönch zum Papst, vom Schreiber bis zum Thron,
Keiner so viel vollbringt, als er vermag!
Blind tritt in seines Vaters Spur der Sohn;
Voll schlimmer Bräuche ist ein jedes Land;
Man klagt und duldet, doch man bessert nicht.
Wenn einer, für des Staats Gedeihn entbrannt,
Dem Allgemeinwohl neue Bahnen bricht,
Gleich wird er matt im allerersten Lauf
Und gibt die halbgelungne Arbeit auf.

Nur jene Hochgesinnten, die wir ehren,
Der Menschheit dienend ohne Dankbegehren,
Weltbeßrer, die in segensreichen Gaben
Ihr schönstes Denkmal sich errichtet haben,
Nur diese Göttlichen voll Willensstärke
Vollbrachten ihre vorgesetzten Werte.
Allmächtig ist der Wille; wer vorm Ziele
Erlahmt, gleicht einem, der erwacht, sich regt
Und wieder sich aufs Pfühl zum Schlummer legt.
<88>In jedem Land und Stand erblickst Du viele,
An Gaben reich, doch wenige fürwahr
Gibts, die zu wackrer Tat empor sich rafften!
Bei vielen, die im Eigennutz erschlafften,
Erstickte Trägheit, Mißmut, Habsucht gar
Nur allzu rasch den Drang, den tugendhaften,
Der ihres hohen Geistes würdig war.

Was hilft denn auch dem menschlichen Verbande
Ein Staatsmann, der an seiner Größe hängt,
An Macht ein König, wenn auch nicht von Stande,
Der ein System zum Wohl des Staats erdenkt,
Allein sein großes Werk, mit hundert Dingen
Beschäftigt, nicht zum Ziele weiß zu bringen?
Der eine, statt zu schaffen, will genießen;
Ein andrer bangt vor Neid, und nicht verdrießen
Will er das Volk, das stets am Brauche klebt
Und über jede Neurung Lärm erhebt,
Das ihm nicht Dank für seine Dienste weiß
Und Wohltat als erlittne Unbill zählt.
Ein dritter, den die Gier nach Gütern quält,
Gibt alle Pflichten seiner Selbstsucht preis.
Er, der dem Staat ein Vater könnte sein,
Sieht, kennt und liebt nur sich allein.
Dies arge Volk läßt unsre Not bestehn
Und Recht und Brauch drüber und drunter gehn;
Die Götterlust, den Wust mit weiser Hand
Planvoll zu ordnen, ist ihm unbekannt.
Doch oft auch bringt geschickten Staatenleitern
Des Schicksals Neid den besten Plan zum Scheitern.
Selbstsucht und Mißmut, Furcht und Trägheit treiben
Mit unsrer Menschenschwäche stets ihr Spiel;
Wir alle müssen uns ins Schuldbuch schreiben:
Kein Krieger, Staatsmann, König kommt zum Ziel.

Sieh jenen Feldherrn, den der Sieg umwirbt,
Wie er dem eignen Ruhme Schranken zieht,
Dem Feinde goldne Brücken baut, der flieht,
Und seiner Mühen Frucht sich selbst verdirbt!
Die Eigenliebe, die sich schnell begnügt
<89>Und gern zum Heldenrang empor sich lügt,
Umstrickt ihn, zeigt durch ein Vergrößrungsglas
Ihm seine Tat im Riesenmaß.
„Genug!“ spricht sie. „Dein Wagemut
„Hat glorreich heut zum Sieger Dich gemacht.
„Den Lorbeer, den Du pflücktest, hüte gut!“
Das angefangne Werk, er wähnt's vollbracht.

Erfüllt die Selbstsucht eines Staatsmanns Sinn,
Und lockt Bestechung ihn vom Weg der Treue,
Dann opfert der Verruchte ohne Reue
Des Staates Wohl für schnöden Geldgewinn,
Beugt das Gesetz, verkauft an Themis' Thron
Schamlos das heil'ge Recht um Sündenlohn.
Den Nachbarn redet er im Rat das Wort,
Bringt ihre argen Pläne zum Gedeihen,
Schürt Hader, um die Völker zu entzweien,
Und reißt den eignen Staat zum Kriege fort;
So führt Verrat zu Freveln und zu Mord.

Doch Du erkennst an diesem Bilde leicht
Den Schändlichen,89-1dem Zug um Zug es gleicht,
Den Unhold, dessen Härte Moskau fühlt,
Der Heeresmassen an den Grenzen hält,
Des Nordens Frieden ewig unterwühlt
Und unsren Gleichmut auf die Probe stellt!
Indes die Welt sein freches Ränkespiel
Mit kaum verhaltnem Ingrimm knirschend schaut,
Bleibt der Ukraine Fruchtland unbebaut;
In Rigas Pott verfault der Schiffe Kiel;
Gewerb und Kunstfleiß liegen schwer danieder,
Die alte Wildheit kehrt am Hofe wieder,
Und Peters großes Werk zerbröckelt sacht —
Welch Mißbrauch, Freund, der höchsten Herrschermacht!
Welch Schreckbild für Minister und für Fürsten,
Die, statt zu sorgen, daß ihr Land gewinnt,
Nach außen stark, fürs eigne Elend blind,
Nach Ruhm allein und eitlen Ehren dürsten!
<90>Und sei ihr Land auch lange nicht so wild,
Wie jenes Bärenloch, des Orkus Bild,
Kein Staat ist doch so makellos beschaffen,
Daß nichts an ihm zu bessern bleibt,
Daß zwischen Brauch und Recht nicht Lücken klaffen
Und die Vernunft allein Gesetze schreibt.

„Wohl spürt man dieser Mängel Schwergewicht,“
Sprichst Du; „warum beseitigt man sie nicht?“

Laß Dir die wahre Art der Herrscher zeigen,
Vor denen zitternd sich die Menschen neigen!
Sie wachsen auf in Prunk und Müßiggang
Und fürchten ernster Arbeit harten Zwang;
Im Freudentaumel, in des Glückes Schoß
Ziehn sie beschaulich ihre Trägheit groß.
Die Staatsgeschäfte gehn, wie's Gott gefällt,
Der alles, was geschehen kann, bedenkt.
Sorgt nun die Vorsehung für diese Welt,
So bleibt den Herrschern alle Müh' geschenkt.
Sie sagen sich's in lässigem Behagen,
Um müßig Tag' und Jahre totzuschlagen.
Der Menschheit Bürden, auf dem Thron erstarrt,
Für sich voll Rücksicht, gegen andre hart.
So dulden die hochmögenden Schlaraffen
All unsre Not, statt Nützliches zu schaffen.

Wenn Sachsens Macht und Wohlstand mehr und mehr
Verfällt und sein einst Heller Stern erblindet,
Zerrüttung droht, des Staates Ansehn schwindet,
Das Volt bedrückt ist und der Säckel leer —
Schieb's nicht dem Herrscher90-1 zu, der kein Tyrann,
Ja, dessen Trägheit nichts besiegen kann!
Aus Bosheit nicht erzeugt' er all dies Leid,
Nein, weil er sich dem Müßiggange weiht!
Er schläft auf Blumen; seiner schwachen Hand
Entglitt des schwanken Staates Gängelband.
<91>Trotz alten Schäden und dem tragen Hang
Der Großen geht die Welt zwar ihren Gang,
Allein ein Teil der Schuld trifft doch den König,
Geschieht fürs Wohl des Staats so bitterwenig!

Genug des Spotts! Ich schone meinesgleichen.
Kann mich allein der Tadel nicht erreichen?
Bin ich denn immer voller Wachsamkeit?
Gibt Umsicht jeder Arbeit das Geleit?
Gibt's nicht auch Tage, wo der Geist erschlafft,
Unfähig ist und ohne Schaffenskraft,
Wo ich das Ganze nicht vor Augen habe
Und kaum der Dinge Oberfläche streife?
Du siehst, wie ich beschämt ans eigne Herz mir greife!
Leben ist Handeln; Ruhe ist im Grabe.
Hat uns die flücht'ge Zeit nicht offenbart,
Daß kurz das Leben uns bemessen ward,
Daß man kein Ding dem Morgen überlassen,
Nein, die Gelegenheit beim Schopfe fassen
Und jeden Tag mit Taten füllen soll?
Umsonst droht uns die Parze frühen Tod;
Lang wird das Leben, ist es tatenvoll.
Drum nutzen wir die Macht in unsren Händen,
Um unsren Nächsten Gutes zuzuwenden:
Das sei des Daseins oberstes Gebot!
Der Seele Fruchtbarkeit ist unbeschränkt:
Sieh den Orangenbaum, der allezeit
Von Bluten strotzt und voller Früchte hängt,
Ein steter Vorwurf unsrer Lässigkeit!

Doch wenn ich auch das Wort der Tatkraft rede,
So wähne nicht, ich ließe mich betören
Von Brauseköpfen, die den Frieden stören,
Die ihre Unrast treibt zu Krieg und Fehde!
Glaub' nicht, daß mich der Nordlandsfürst entzückte,
Der Mühsal, Fährnis, Tod zu finden brannte
Und keine Lust als Krieg und Schlachten kannte,
Den Herrscher zu entthronen tief beglückte,
Der herrenlos die eignen Lande ließ,
<92>Polen gewann und sie ins Elend stieß!92-1
Doch ist ein Bürger mit der Macht betraut,
So schelt' ich seinen Hang zur Trägheit laut;
Amt, Ehre, Glück und Ansehn — alles drängt
Den Herrscher, daß er seiner Pflicht gedenkt.
Läßt er sich gehn, so ist es schon Verrat,
Und Trägheit wird bei ihm zur Freveltat.
's ist kein Verdienst, daß man das Böse meidet:
Fürs Gute zu erglühn — nur das entscheidet!

Ein Gleichnis noch! Gehüllt in Blumenzier
Zeig' ich der Weisheit strenge Regeln Dir!

Des Ruhmes Heiligtum, in alten Tagen
Sah man's auf einem schroffen Felsen ragen.
Der Gott versprach den Wagemut'gen Lohn,
Die klimmend bis zu seinem Wolkenthron
Ihm huldigten. Von diesem Preis verlocken
Ließ mancher sich und suchte um die Wette
Emporzudringen zu der heil'gen Stätte.
Dem Felsen nahend, blieben tieferschrocken
Die einen stehn ob ihres Unterfangens,
Indes verliebt ins Ziel ihres Verlangens
Waghalsige junge Toren Blumen pflückten
Und andre scheu sich an die Felswand drückten,
Gepackt vom Schwindel, und den Berg verließen.
Auch mancher sank, am steilen Hang erschlafft,
Entkräftet um, von Mühsal hingerafft.
Wohl ließen's Kühnere sich nicht verdrießen,
Emporzuklimmen an den steilen Riffen;
Doch ihre Seele ward vom Neid ergriffen
Auf jeden, dem das Wagnis auch gelang.
Sie rangen wild am Abgrundsrand und stießen
Einander in die Kluft, die sie verschlang.

Ein Weiser ohne Neid und Zagen dringt,
Vom Preis entflammt, der ihm dort oben winkt,
Allein auf kürzrem und noch rauhrem Pfad
<93>An Podewils. Man tut nicht alles, was man könnte
Von Fels zu Fels empor zum höchsten Grat.
Dort schließt in seine Arme ihn der Ruhm;
Sein Name wird vermerkt im Heiligtum
In jenem kleinen Buch der Ruhmeswetten,
Die stark an Mut und Tugend sich bewährten.
Der Gott gibt seinem Heldensinn die Krone
Und spricht: „Heil Dir! Nimm teil am hehren Lohne
„Der rastlosen Gelehrten, Herrscher, Krieger;
„Zu ruhen ziemt allein dem Sieger.“


87-1 Der Kabinettsminister Graf Heinrich Podewils.

89-1 Der russische Großlanzler Graf Alexej Bestushew (vgl. S. 68).

90-1 August III., König von Polen und Kurfürst von Sachsen.

92-1 Vgl. die Abhandlung: „Betrachtungen über die militärischen Talente und den Charakter Karls XII.“ (Bd. VI. S. 367 ff.).