<197>verei, die täglich drückender wurde, erregte schon Unwillen. Der stumpfsinnigste wie der geistvollste Mensch spürt je nach dem Grade seiner Empfindlichkeit das Leid, das ihm zugefügt wird. Alle streben nach Wohlbefinden; eine Zeitlang halten sie still, aber schließlich geht ihnen die Geduld aus. Die Knechtung so vieler Völker hätte also ohnedies zu einer Reformation geführt, hätte nicht der römische Klerus, durch innere Zwistigkeiten aufgewühlt, selbst das Zeichen zur Befreiung gegeben, indem er die Fahne der Empörung gegen den Papst aufpflanzte. Die Waldenser, Wycliffiten und Hussiten hatten die Bewegung schon eingeleitet; aber erst Luther und Calvin, die ebenso mutig, doch unter günstigeren Umständen geboren waren, vollendeten das große Werk.
Die Augustiner waren im Besitz des Ablaßhandels. Als der Papst die Dominikaner mit der Predigt des Ablasses betraute, entstand ein erbitterter Kampf zwischen beiden Orden. Die Augustiner erklärten sich gegen den Papst, und Luther, der diesem Orden angehörte, griff die kirchlichen Mißbräuche aufs Heftigste an. Mit kühner Hand lüftete er die Binde des Aberglaubens. Bald wurde er zum Führer der Bewegung, und da seine Lehre den Bischöfen ihre Pfründen und den Klöstern ihre Besitztümer streitig machte, schlossen sich die Fürsten dem neuen Bekehrer in Scharen an.
Die Religion gewann nun eine neue Gestalt und näherte sich wieder ihrer alten Einfachheit. Es ist hier nicht der Ort, zu untersuchen, ob es nicht besser gewesen wäre, ihr mehr von ihrem äußeren Prunk zu lassen, damit sie mehr auf das Volk wirkte, dessen Urteil ganz von dem sinnlichen Eindruck abhängt. Eine rein geistige, äußerlich kahle Religion wie der Protestantismus scheint nicht gemacht zu sein für grobsinnliche Menschen, die unfähig sind, sich durch den Gedanken zur Anbetung der höchsten Wahrheiten zu erheben.
Die Reformation war ein Segen für die Welt und besonders für den Fortschritt des menschlichen Geistes. Die Protestanten, die über die Glaubensfragen nachdenken mußten, legten mit einem Schlage alle Vorurteile der Erziehung ab und lernten ihre Vernunft frei gebrauchen, sie, die den Menschen als Führerin gegeben ist, und der sie wenigstens in den wichtigsten Angelegenheiten ihres Lebens folgen sollten. Die Katholiken wurden durch die heftigen Angriffe zur Verteidigung gezwungen. Die Geistlichen studierten, und die schmachvolle, krasse Unwissenheit, in der sie fast alle versunken waren, verschwand.
Gäbe es nur eine Religion in der Welt, so wäre sie hochmütig und würde unumschränkt herrschen. Die Priester wären lauter Despoten, die tyrannisch regierten und nur gegen ihre eignen Verbrechen nachsichtig wären. Glaube, Ehrgeiz und politische Klugheit würden ihnen den Erdball Untertan machen. Heute, wo es viele Sekten gibt, kann keine ungestraft die Wege der Mäßigung verlassen. Das Beispiel der Reformation hindert den Papst, seinem Ehrgeiz die Zügel schießen zu lassen. Mit Recht fürchtet er den Abfall seiner Untertanen, wenn er seine Macht mißbraucht.