33. Epistel über die Falschheit
(Februar 1750)96-1
Verflucht sei jener erste Schuldbefleckte,
Der vormals arge Ränke spielen ließ,
Der in den Staub die hehre Wahrheit stieß
Und Falschheit mit der Tugend Firnis deckte!
Den Sonnenstrahl, das helle Licht
Ertrug sein blinzelnd Auge nicht;
Sein schlimmes Werk, im Schutz der Nacht,
Lichtscheu und heimlich ward's vollbracht.
Die Welt nahm sich den Frevler zum Exempel
Und ließ die Wahrheit ohne Kult und Tempel.
Seitdem war bei den Menschen nichts mehr echt:
Die Tugend ward dem Lasier preisgegeben;
Der Lump verlangte Achtung wie ein Recht
Und ließ zum „Höhren Geist“ sich frech erheben.
Freundschaft ward selten; Doppelzüngigkeit
Trug das Gewand treuherz'ger Biederkeit.
In dieser Maske, schwer erkenntlich, barg
Sich wie ein Freund der Schurke, der Verräter.
Und so nasführt die Welt ein Übeltäter
Und meint, sie hätte seines Trugs kein Arg.
Mit Abgefeimtheit, wähnt er, werd's ihm glücken,
Und sicher fühlt er sich durch seine Tücken...
Weh dem, der einem falschen Freunde traut!
Ein grimmer Leu steckt in der Lammeshaut;
<97>Er wechselt gleichwie Proteus die Gestalt,
Schillert in hundert Farben mannigfalt:
Woran erkennst du, wie er dir gesinnt,
Ob er dich liebt, ob haßt und Ränke spinnt?
Leicht läßt sich in der Tiere Mienen lesen,
Ob sie uns freund, ob feindlich und verstellt.
Das sanfte Lamm grast blökend auf dem Feld,
Der Löwe brüllt und zeigt ein stolzes Wesen,
Der wilde Eber schäumt vor Wut,
Der Hase läuft davon in blinder Scheu;
Falsch, tückisch blickt der Tiger, lechzt nach Blut,
Der Hund liebkost den Herrn und ist ihm treu.
Doch uns, geformt von gleicher Schöpferhand,
Uns merkt man weder Tugend an noch Fehle;
Im Engelsleib wohnt eine Teufelsseele:
Der Augenschein narrt ewig den Verstand.
In diesem grausen Zweifel: was ist echt?
Mißtraust du wohl dem ganzen Staubgeschlecht.
Ein finstrer Menschenfeind — nicht ohne Grund —
Fliehst du Gesellschaft, fluchst auf deinesgleichen;
Der Boden scheint bei jedem Schritt zu weichen,
Dich dünkt die Welt ein zweiter Höllenschlund;
Und lebtest du auch bei den Kannibalen,
Nicht schlimmer könntest du dein Loos dir malen.
Ja, die Gesellschaft ist dem Sturz geweiht
Und alles wankt, gebricht's an Redlichkeit.
So wie am Spieltisch schändliche Gesellen
Mit Gaunerkniffen ihre Börse schwellen,
Wär' auch bei uns stets Ebbe oder Flut:
Bald prellten wir, bald würden wir geprellt,
Und brächten wechselnd uns um Hab und Gut.
Du Tor, der viel auf seine Falschheit hält.
Du schmeichelst deinem Lasier, ziehst es groß!
Erschrick! Du sagst dich von der Weisheit los
Und endest noch als ausgemachter Schächer!
Des Bösen Grenzen sind gar leicht verwischt;
Ins Ränkespiel ist schon Verrat gemischt.
<98>In diesem Labyrinth, wo immer schwächer
Vernunft dir leuchtet und zuletzt verlischt,
Verirrst du dich und endest als Verbrecher!
So löst vom Berghaupt sich im Sonnenstrahl
Ein wenig Schnee und rollt hinab ins Tal;
Doch wie es rollt, so wächst es dichtgeballt,
Und die Lawine stürzt mit Allgewalt.
So zeugt das erste Unrecht rasch das zweite
Und reißt uns stürmisch weiter, schwer und schwerer;
Unsre Verderbtheit drängt hinaus ins Weite,
Der Schüler des Verbrechens wird zum Lehrer,
Und überall das Lasier übend, enden
Wir abgrundtief, umstarrt von Felsenwänden!
Jedoch in dieser bösen Welt — so lehrt
Uns Machiavell — ist Tugend ganz verkehrt.
Umringt von Schurken, tut uns Arglist not;
Betrug verdient, wer mit Betrug uns droht.
Doch der beschönigt nur sein arges Herze,
Und was ihm Unschuld, mir ist's Höllenschwärze.
Er bildete sein schändliches Idol
An Borgia,98-1 an Cartouche98-2 und Mohammed.98-3
Gewunden spricht er, trügerisch-beredt,
Zeigt sich als Frömmler bald und bald frivol.
Und Heuchlermienen weiß er aufzusetzen,
Um dreist den blöden Pöbel zu verhetzen.
Wohlweislich bettet seine Schurkenhand
In Blumenzier die Schlingen, die er spannt.
Doch ist des Schelmes Glück nicht von Bestand!
Mit ränkevollem und verlognem Sinn
Strebt er versteckt zu jedem Ziele hin;
Allein der Zauber ist gar bald verblaßt:
Die Gaunerkniffe treten rasch zutage,
Die Augen gehen auf mit einem Schlage:
Mag er denn dunkel, seinem Volt verhaßt,
Ein Aussatz von Florenz, im Staube kriechen
<99>Und bettelarm, verfemt zu Tode siechen —
Bis diese Schlange, die das Licht erschreckt,
Im Schlamm verkommt, mit eklem Kot bedeckt!
Doch ihr, die ihr der Welt Gesetze gebt,
Die eure Macht zur Götterhöhe hebt —
Wie duldet ihr's, daß euer hoher Rat
Zur Freistatt wird für Treubruch und Verrat?
O Zeiten, Sitten! Frevler auf dem Throne!
So dankt dem Himmel ihr für Glanz und Krone?
Die Ehre müßte, aus der Welt verstoßen,
In euren Herzen noch ein Obdach finden,
Die Wahrheit heimisch sein bei allen Großen
Und jede Himmelstugend sie umwindend99-1
Die guten Fürsten sind der Gottheit Spiegel,
Doch Falschheit drückt auf Königsstirn ihr Siegel,
Bricht aus der Krone ihren hellsten Stein:
Dämonen freveln, Götter bleiben rein!
Entschließt euch denn: wollt ihr die Welt bedrücken,
Wollt ihr durch eure Güte sie entzücken?
Ein Drittes gibt es nicht! Mit halber Kraft
Erwies kein Fürst sich noch als tugendhaft!
Luchsäugig schaut ein ganzes Volk euch zu,
Und mächtig wirkt das Vorbild, das ihr gebt.
Die leichtverführte Menge tritt im Nu
In eure Spur, wenn ihr in Lastern lebt —
Allein was sag' ich? Wohin schweif' ich? Kronen
Und Herrscherpurpur laßt uns hier verschonen!
Die Tugend strahlt in tausend Farben hell ...
Seht jenen Kurfürst, unsres Ruhmes Quell,
So groß im Frieden wie im Schoß der Siege!
Als starker Feind bewies er sich im Kriege,
Doch zeigt' er auch an Edelmut sich groß.
Als sich ein Meuchelmörder, ein Franzos,99-2
Erbot, Turenne, den Feldherrn, umzubringen,
Fiel Friedrich Wilhelm nicht in seine Schlingen:
Mit Graus erfüllt' ihn dieser Schurkenplan;
<100>Den Anschlag zeigt' er selbst dem Gegner an.
„Zu siegen weiß ich,“ lautete sein Spruch,
„Doch nicht versteh' ich mich auf Treuebruch!“
Wahrhaft'ger Sinn schämt sich der Gaunerkniffe;
In seinen Worten spiegelt sich die Seele.
Doch trachtet er, wie sich mit feinem Schlisse,
Mit Reiz und Anmut Redlichkeit vermähle.
Sagt drum nicht fürder, ihr verworfnen Geister,
Die in der Hölle finden ihre Meister,
Die Lebenskunsi sei Falschheit, schlaue Lüge,
Die Wahrheit aber sei der Welt zuwider,
Ein alter Kauz mit struppigem Gefieder,
Dem bald sein letztes Stündlein schlüge!
96-1 Die Epistel war im Mai 1740 verfaßt und im Februar 1750 für die Aufnahme in die „Œuvres du philosophe de Sanssouci“ umgearbeitet worden.
98-1 Vgl. Bd. VII, S. 26. ff.
98-2 Vgl. Bd. VII, S. 33.
98-3 Vgl. Bd. VII, S. 23.
99-1 Vgl. Bd. III, S. 64; VII, S. 72.
99-2 Anmerkung des Königs: „Der Elende hieß Villeneuve“ (vgl. Bd. I, S. 71).