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10. Denkschrift über die gegenwärtige Lage Europas und die von den Verbündeten zu ergreifenden Maßregeln, um im nächsten Feldzuge die Oberhand über ihre Feinde zu erlangen199-1
(November 1756)

Bei unparteiischer Prüfung dessen, was die Feinde Englands und Preußens in diesem Jahre unternommen haben, wird man ohne weiteres zugestehen, daß die Franzosen große Erfolge über die Engländer errungen haben, sowohl in Amerika wie in Europa. Sie haben Minorka weggenommen199-2 und Truppen in Korsika gelandet. Infolgedessen konnten die Engländer sich nicht in den Besitz dieser Insel setzen, die den Verlust von Port-Mahon hätte aufwiegen können. In Amerika sind die Franzosen nach der Meinung aller, die über die englischen Kolonien in Amerika Bescheid wissen, durch die Eroberung des Forts Oswego in der Lage, alles zu unternehmen, was sie wollen. In Deutschland haben Englands Verbündete zwar einige Erfolge errungen, aber bisher ist es zu keiner Entscheidung zwischen beiden Parteien gekommen, und die Würfel liegen, wie das Sprichwort sagt, noch auf dem Tische. Das Duumvirat199-3 beabsichtigt nach allem, was man hört, im nächsten Jahre die größten Anstrengungen zu machen. Laut den Nachrichten, die darüber vorliegen, bestehen die feindlichen Pläne in folgendem.

Erstens will Frankreich große Verstärkungen nach Kanada schicken, um seine dortigen Eroberungen auf englischem Gebiet wirksam fortzusetzen. Zweitens will es eine Flotte mit Landungstruppen nach Pondichery senden, um die Engländer aus Madras zu vertreiben. Drittens gedenkt es seine Demonstrationen am Kanal fortzusetzen, um die englischen Schiffe und Truppen in der Defensive zu halten. Viertens scheint es entschlossen, ein Heer von 50 000 Mann über den Rhein zu schicken, das Wesel erobern und ins Hannöversche eindringen soll.

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Die Königin von Ungarn stachelt ihrerseits alle Reichsfürsten munter gegen Preußen auf. Sie zieht alle ihre Streitkräfte in Böhmen zusammen und will dort ein Heer von 130 000 Mann aufbringen, um den König von Preußen zu Boden zu schlagen. Ferner intrigiert sie in Rußland und allerorten, um dem König Feinde zu machen.

Das ist kurz und bündig die jetzige Lage Europas. Bevor ich auf die geeigneten Maßnahmen zur Abwehr so verderblicher Pläne näher eingehe, ist eine kurze Untersuchung nicht unangebracht, was wohl im vergangenen Feldzuge zu den Fortschritten der Franzosen am meisten beigetragen hat. Unzweifelhaft kommt ihre Seemacht weder an Zahl noch an Güte der englischen gleich. Fest steht, daß es beiden Mächten an Hilfsquellen bisher nicht fehlt. Wenn aber ein guter Verbündeter, der als wahrer Staatsbürger denkt, es sich herausnimmt, mit republikanischer Offenheit zu reden, so darf er wohl seine Vermutungen über die Gründe der französischen Erfolge äußern.

Ihm scheint, soweit er unterrichtet ist, daß England zweierlei außer acht gelassen hat. Erstens hat es die Gefahr, die Minorka und seinen amerikanischen Kolonien drohte, nicht rechtzeitig vorhergesehen, und zweitens hat es sich durch die Demonstrationen der Franzosen am Kanal irreführen lassen. Was den ersten Punkt betrifft, so ist es Sache eines tapferen und erfahrenen Mannes, die Gefahr vorherzusehen, selbst wenn sie nicht unmittelbar bevorsteht; denn für Unglücksfälle, die man zu spät voraussieht, gibt es keine Abhilfe mehr. Was den zweiten Punkt betrifft, so läuft man nach einer zuverlässigen Kriegsregel bei offensivem Vorgehen weniger Gefahr, als wenn man sich in der Defensive hält. Hätten also die Engländer irgend eine Unternehmung gegen ihre Feinde ins Werk gesetzt und mit Glück durchgeführt, so hätte dieser Gewinn auf der einen Seite sicher den Verlust auf der anderen aufgewogen. Außerdem verliert man beim Ergreifen der Offensive nichts, sondern gewinnt fast stets.

Jetzt, wo noch Zeit ist, für die Zukunft zu sorgen, wo ganz Europa, insbesondere England und Deutschland, sich in einer kritischen Lage befindet, aus der sich die Alliierten nur befreien können, wenn sie die rechten Maßregeln ergreifen, die ihnen im nächsten Jahre kraftvolleres Handeln erlauben, hört man nicht ohne tiefe Betrübnis von den inneren Unruhen und dem Geiste der Zwietracht, der in England herrscht200-1. Ist jetzt der richtige Augenblick, um sich über Kleinigkeiten zu streiten, wo die Freiheit Europas auf dem Spiele steht? Wo es sich fragt, ob England seine Kolonien behalten wird, die bisher der Quell seines Reichtums waren? Ob Deutschland und der Protestantismus weiterbestehen werden? Ob schließlich der König von England sein Kurfürstentum, seine Alliierten ihre Staaten und das Menschengeschlecht die Gedankenfreiheit behalten wird? Kann jemand sich einen Staats<201>bürger zu nennen wagen, der zur Vernichtung so vieler großer Interessen beiträgt, indem er die Uneinigkeit schürt, die England lahm legt und seinen Feinden gewonnenes Spiel gibt? Sollte ein so hochherziges Volk vorübergehende Interessen den ewig bleibenden, der Wohlfahrt des Vaterlandes und der Unabhängigkeit der mit ihm verbündeten Nationen vorziehen, denen England früher so hochherzig sein Hab und Gut und das Leben so vieler braver Männer geopfert hat? Welch unseliger Taumelgeist macht die Engländer jetzt zu ärgeren Feinden ihres Vaterlandes, als es selbst die Franzosen sind? Jawohl, ich wage dreist zu behaupten: Jeder Engländer, der in der gegenwärtigen kritischen Lage Europas seine Regierung an der unverzüglichen Unterstützung der gemeinsamen Sache hindert, kann nur als Feind des Vaterlands gelten; denn er macht England den rechtzeitigen Gebrauch seiner Macht und seiner Kräfte unmöglich. Aber da es nicht wahrscheinlich ist, daß eine so besonnene Nation sich lange dem Wahnsinn hingibt, gegen ihre eignen Interessen zu handeln, bin ich überzeugt, daß die Stille nach dem Sturm eintreten wird. Für diese Zeit der Wiederbesinnung erlaube ich mir, einige Vorschläge zu machen und sie dem Urteil der aufgeklärten Männer zu unterbreiten, die diese Denkschrift lesen werden.

Hält es die englische Regierung nicht für angezeigt, durch Abschluß neuer Bündnisse ein Gegengewicht gegen das Duumvirat zu schaffen, das sich zum Untergang der Alliierten verschworen hat? Geht man die europäischen Mächte durch, so scheint der Anschluß Hollands an die Alliierten in seinem eignen Interesse zu liegen. Nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung könnte auch Dänemark beitreten.

Es liegt im Interesse Hollands, mit den protestantischen Mächten verbündet zu sein, eine Barriere zum Schutz gegen ehrgeizige Unternehmungen von seiten Frankreichs zu haben und sich seinen Handel zu erhalten. Wie also kann Holland kaltblütig zusehen, daß die Franzosen ins Herzogtum Kleve eindringen, daß das Kurfürstentum Hannover zugrunde gerichtet und die beiden Säulen des Protestantismus von Feinden gestürzt werden, die die Protestanten rings umgeben und nur auf die Vernichtung der beiden Könige lauern, um die evangelische Freiheit zu unterdrücken? Diese Tatsachen springen doch gewiß genug in die Augen, um von vernünftigen Menschen eingesehen zu werden. Da in Republiken aber zu viele Bürger an ihren eignen Vorteil denken, so wäre es wohl nicht unmöglich, der Republik Holland zu schmeicheln, indem man angesichts der großen Dienste, die sie leisten könnte, über den Schmuggel der Privatleute ein Auge zudrückte201-1. Ja, ich halte es nicht für unangemessen, daß man Holland in dem eventuellen Vertrage einen neuen Festungsgürtel bewilligt, der aus den Städten Ostende, Brügge, Gent, Antwerpen und Mecheln bestehen und an der Demer entlang bis Maastricht führen könnte. Bei den Summen, die das Haus Österreich der Republik schuldet, und den Subsidien, die es ihr laut<202> dem Barrieretraktat202-1 zu zahlen verpflichtet ist, würde diese neue Grenze nicht einmal eine volle Entschädigung für das bieten, was Holland zu fordern hat.

Auch zu einem Bündnis mit Dänemark scheint jetzt der rechte Augenblick zu sein. Die Ansprüche des dänischen Hofes und seine gegenwärtigen Streitigkeiten wegen der Besetzung der Stelle des Koadjutors im Bistum Lübeck202-2 sind wohl bekannt und könnten, wie ich meine, ausgenutzt werden.

Für den Landkrieg ist dieser Denkschrift ein Feldzugsplan für das Heer der Alliierten in Westfalen202-3 beigefügt. Zugleich aber wird darauf hingewiesen, daß, wenn es nicht noch einmal so kommen soll wie bei Minorka, kein Augenblick zu verlieren ist, um die notwendigen Maßregeln zur Aufstellung dieses Heeres zu ergreifen und besonders die Magazine zu errichten. Ich füge zu dem in jenem Plane Gesagten noch hinzu, daß es von größter Wichtigkeit ist, in dieser Hinsicht rasche und bestimmte Entschlüsse zu fassen. Fällt Wesel in Feindeshand, so ist das Kurfürstentum Hannover schwer bedroht; und haben die Franzosen es erst einmal in Besitz, so wüßte ich nicht, wie man sie daraus vertreiben soll.

Preußen seinerseits trifft schon zu dieser Stunde Maßregeln gegen seine Feinde, deren Zahl täglich wächst. Über die Haltung der Russen besteht noch keine Gewißheit. Obwohl in dieser Hinsicht noch ein schwacher Schimmer von Hoffnung bleibt, genügt er doch nicht, um schon jetzt zu bestimmen, wozu die Armee in Ostpreußen im Laufe des nächsten Feldzuges benutzt werden könnte.

Ich schließe diese Darlegungen mit der Bitte an die englische Regierung, die gegenwärtige Lage Großbritanniens und seiner Alliierten ernstlich zu erwägen, Kleinigkeiten den Interessen ganzer Nationen zu opfern, wenn möglich ein Bündnis mit Holland zu schließen, Rußland in Untätigkeit zu halten, Dänemark zu gewinnen und unverzüglich mit den feilen deutschen Fürsten, die ihre Truppen verkaufen wollen, Subsidienverträge abzuschließen202-4. Ferner empfiehlt es sich, mit den Rüstungen früher fertig zu sein als die Franzosen und, soweit möglich, Offensivpläne zu entwerfen, um den Krieg in Feindesland zu tragen und ihn von den eignen Grenzen fernzuhalten. Kurz, was auch geschehen möge, alles wird gut sein, wenn man nur zu irgend einem Entschluß kommt und Untätigkeit und Langsamkeit vermeidet. Sonst wird der Feind noch stärker, als er es ohnedies durch seine Macht, seine Hilfsquellen und die große Zahl seiner Truppen ist.


199-1 Obige „Denkschrift“ nebst dem „Feldzugsplan“ (vgl. S. 203 ff.) wurde am 20. November 1756 von König Friedrich dem englischen Gesandten Mitchell für seinen Hof übergeben. Vgl. dazu S. 61.

199-2 Vgl. S. 35.

199-3 Österreich und Frankreich.

200-1 Anspielung auf die Krise innerhalb des englischen Ministeriums, die am 11. November 1756 zum Rücktritt des Herzogs von Newcastle führte (vgl. S. 60).

201-1 Vgl. S. 198.

202-1 Artikel 19 des Barrierevertrags vom 15. November 1715.

202-2 Am 4. Oktober 1756 war Prinz Friedrich von Dänemark, der zweite Sohn König Friedrichs V., zum Koadjutor des Bistums Lübeck gewählt worden. Die Wahl des Prinzen wurde von dem Hause Holstein-Gottorp angefochten.

202-3 Vgl. S. 203 ff.

202-4 Vgl. S. 163 f.