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Über die Satirenschreiber
(März 1759)

Werden die Menschen denn nie lernen, die rechte Mittelstraße einzuhalten und mehr der Stimme der Vernunft als dem Taumelder Leidenschaften zu folgen? Sie haben die Neigung, alles zu übertreiben, sie kennen nur das Übermaß. Glühende Einbildungskraft reißt ein erhitztes Hirn weit über das hinaus, was es zu unternehmen gedachte. Es gibt hundert Irrwege. Das hieße mit Plato träumen, verlangte man von den Menschen Vollkommenheit, wo ihr Wesen nur ein Gemisch von Schwächen und Jämmerlichkeiten ist. Trotzdem kann man gewisse Praktiken nicht ohne Entrüstung mit ansehen, und die ganze Menschheit müßte gegen sie aufstehen.

Ich meine zwei Laster, die als Extreme in völligem Gegensatz stehen. Das eine ist die Kriecherei der Schmeichler gegenüber den Großen, die maßlosen, unverdienten Lobhudeleien, die den Empfänger ebenso entehren wie den Spender. Das andere ist jene dreiste, zynische Bosheit der Satirenschreiber, die die Sitten der Großen verzerren und mit ihrem wilden Geschrei auch die Throne nicht verschonen. Jene vergiften die Seele durch einen wohlschmeckenden Trank, diese bohren den Dolch in ein Herz und zerreißen es. Dem Lasier die Farbe der Tugend leihen, menschliche Launen vergöttern, ruchlose Handlungen rechtfertigen, heißt wirklichen Schaden stiften; denn das ermuntert die Menschen, die ein verderblicher Hang beherrscht, in verhängnisvoller Verblendung zu verharren. Lügen und Verleumdungen verbreiten, das Verdienst verdächtigen, die Tugend in Frage stellen und den Ruf von Menschen anschwärzen, weil sie in hoher Stellung sind, heißt ein schreiendes Unrecht begehen und der Bosheit die Krone aufsetzen. Beide allgemeine Seuchen unterscheiden sich dadurch voneinander, daß bei den Schmeichlern gemeiner Eigennutz, bei den Satirenschreibern ein unerschöpflicher Schatz von Mißgunst vorhanden ist. Sie sind wie ein Rost, der sich an die Schoßkinder des Glücks und an das hohe Verdienst großer Talente ansetzt.

Wenn Virgil und Horaz so kriecherisch waren, einem feigen und grausamen Tyrannen zu schmeicheln, so muß ihr Beispiel jeden, der etwas auf seinen guten Ruf hält, vor Nachahmung abschrecken. Wenn Juvenal alle Galle seines ätzenden Spotts über einen Minister wie Sejan1, über Ungeheuer wie Nero und Caligula ergoß,


1 Günstling des Tiberius.