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Liechtenstein: O, das glaub' ich: zu Ihrer Zeit gab es noch keine Enzyklopädisten. Es ist eine Sekte sogenannter Philosophen, die sich in unseren Tagen gebildet hat. Sie dünken sich erhaben über alles, was die Antike in dieser Gattung hervorgebracht hat. Mit der Schamlosigkeit der Zyniker verbinden sie die edle Dreistigkeit, alle Paradoxen, die ihnen in den Sinn kommen, zum besten zu geben. Sie brüsten sich mit Mathematik und behaupten, wer diese Wissenschaft nicht studiert habe, sei nicht recht klug. Folglich besitzen sie allein die Gabe, richtig zu denken. Ihre gewöhnlichsten Reden sind mit gelehrten Ausdrücken gespickt. So werden sie z. B. sagen, das und das Gesetz sei weislich im umgekehrten Verhältnis zum Quadrat der Entfernungen erlassen; die und die Macht, die ein Bündnis mit einer anderen eingehen will, fühle sich durch die Anziehungskraft zu ihr hingezogen, und bald würden beide Völker miteinander assimiliert sein. Schlägt man ihnen einen Spaziergang vor, so ist dabei das Problem einer Kurve zu lösen. Haben sie eine Nierenkolik, so kurieren sie sich nach den hydrostatischen Regeln. Sticht sie ein Floh, so sind es unendlich kleine Größen, die sie belästigen. Fallen sie, so haben sie ihren Schwerpunkt verloren. Ist irgend ein Skribent so dreist, sie anzugreifen, so ertränken sie ihn in einer Sintflut von Tinte und Schmähungen; das Crimen laesae philosophiae ist unsühnbar.

Eugen: Aber welche Beziehung haben diese Narren zu unserem Ruf und dem Urteil, das man über uns fällt?

Liechtenstein: Weit mehr, als Sie glauben; denn sie schmähen alle Wissenschaften, außer ihrer eigenen Rechenkunst. Poesie ist eine seichte Kurzweil, die alten Fabeln müssen aus ihr ausgemerzt werden. Der Dichter soll nur die algebraischen Gleichungen schwungvoll reimen1. Die Geschichte soll man von rückwärts studieren, mit der Gegenwart anfangen und bei der Sintflut enden. Die Staatsverfassungen werden von ihnen samt und sonders verbessert. Frankreich soll unter einem Mathematiker als Gesetzgeber Republik werden. Mathematiker sollen sie beherrschen, indem sie alles, was in der neuen Republik geschieht, der Integralrechnung unterwerfen. Diese Republik wird den ewigen Frieden herbeiführen und sich ohne Heer behaupten.

Marlborough: Alles, was ich da höre, ist wundervoll. Aber leiden die Enzyklopädisten nicht vielleicht an Visionen von Wilden, Quäkern und Pennsylvaniern?

Liechtenstein: Mit der Behauptung würden Sie sie tief kränken. Sie halten sich auf ihre Originalität viel zugute.

Eugen: Wenn ich nicht irre, war der ewige Friede ein Traum eines gewissen Abbé St. Pierre2, der zu meiner Zeit tüchtig ausgelacht wurde.

Liechtenstein: Sie haben ihn wohl der Vergessenheit entrissen; denn sie tragen alle einen heiligen Graus vor dem Kriege zur Schau.


1 Vgl. die Abhandlung „Betrachtungen über die Betrachtungen der Mathematiker über die Dichtkunst“ (Bd. VIII, S. 62 ff.).

2 Vgl. S. 183.