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Über die Schmähschriften214-1
(April 1759)

Es gibt viele Arten, sein Auskommen zu finden. Fleiß und Erfindungsgeist liefern täglich neue, von den gewöhnlichen Gewerben ganz abzusehen. Schon allein das schriftstellerische Talent bereichert die Gelehrten durch die Früchte ihrer Nachtwachen. Schriftsteller zweiten Ranges leben von ihren Buchhändlern. Die einen ernähren sich durch Versemachen, die anderen durch Lesen der Korrekturbogen, wieder andere durch Abschreiben, und noch andere schließlich widmen sich dem edlen Berufe, an den Schoßkindern Fortunas und den Machthabern Fehler zu entdecken. Sinnreich machen sie sich an Charaktere, die ihnen unbekannt sind. Sie malen aus der Phantasie, und da ihr Pinsel schwärzer ist als der Spagnolettos214-2, sind ihre Gemälde voll tiefer Schatten. Sie besitzen die Kunst, ihre Helden verhaßt zu machen, und wie man gestehen muß, ist dies schöne Geschäft noch einträglich. Solche gefährliche Keckheit nimmt in unseren Tagen zu und verbreitet sich mehr und mehr. Die Herren, die sich ihr hingeben, müssen fürchten, daß ihre große Zahl die Honorare drück und sie schließlich an den Bettelstab bringt. Sollte man es wohl glauben: sie möchten sich die Rechte der Zensoren im alten Rom aneignen! Nur finde ich einen kleinen Unterschied: Rom wählte seine Zensoren, diese Herren aber setzen sich selber ein; sie können wie die Könige von sich sagen: „von Gottes Gnaden und nicht durch Menschengunst“. Man muß gestehen, daß ihre Arbeit ihnen wenig Mühe kostet; sie besieht größtenteils nur aus Schimpfreden, oder sie ist die Frucht düsterer Einbildungskraft und finsterer Vorstellungen. Mit diesen Beschimpfungen treiben sieHandel und verteilen sie nach dem Gutdünken ihrer Beschützer, die ihreDienste anzuerkennen wissen. Man erstaunt immerfort über ihre kecke Dreistigkeit; doch gewährt ihnen ihre obskure Stellung eine Zuflucht. Was sie rettet, ist die Geringschätzung, mit der die Reichen und Stolzen ihre Schmähschriften behandeln. Ihr Geschrei erzeugt einen mißtönenden Lärm, der in der Luft verhallt. Sie kommen mir wie Mücken vor, die zu ihrem Spaß einen Elefanten stechen.

Vor einiger Zeit reiste ich in Holland und kam durch eine Stadt, wo ich in einem Gasthofe einkehren mußte. Dort sah ich einen ziemlich gut gekleideten Mann mit stolzer Miene und gebieterischer Haltung eintreten. Er betrachtete seine Umgebung<215> mit verächtlichen Blicken und schien das ganze Menschengeschlecht zu bemitleiden. Ich hielt ihn für einen der Herren, die zwei-, dreimal wöchentlich Könige auf der Bühne darstellen und dank dem fortwährenden Spielen solcher Rollen sich schließlich selbst für Könige halten. Das merkwürdige Benehmen des Mannes erregte meine Neugier, und ich fragte, wer es sei. Der Wirt, der ihn kannte, sagte: „Er ist einflußreicher, als Sie glauben. Er besitzt die Gabe, guten Ruf zu schaffen und zu vernichten; doch nach Art der Eroberer beschäftigt er sich mehr mit dem Zerstören als mit dem Aufbauen. Er lebt von seiner Feder, wie die Landleute von ihren Feldern. Sein Hausrat, seine Kleidung, seine Nahrung, alles ist auf Kosten der großen Herren erworben, die er ihren Nebenbuhlern opfert. Er treibt es fast so, wie der selige Kardinal Polignac, der, wie man sagt, für jede Antike, die er nach Paris senden durfte, dem Papst einen jansenistischen Bischof opferte, den er verbannen ließ. So kann auch unser Mann von jedem Stück seines Hausrats nachweisen, daß es auf Kosten des guten Rufes von bem und dem erworben ist. Er wälzt jetzt einen großen Plan in seinem Kopfe, und gelingt er, so möchte er sein Vermögen nicht mit dem eines Taxera noch eines Schwartzau215-1 tauschen.“—„Darf man wissen, worin dieser wunderbare Plan besteht?“ fragte ich. —„Es handelt sich“, sprach der Wirt, „um eine gute Satire gegen einen Herrscher. Macht er ste recht kräftig und so boshaft, wie man verlangt, so wird er mit Ehren überhäuft werden.“

Alles, was ich vernommen hatte, steigerte meine Neugier, dies Original kennen zu lernen, und ich bekam Lust, eine Unterhaltung mit dem Despoten anzuknüpfen, der es wagte, die Großen bei ihren Lebzeiten zu richten, wie die alten Ägypter es nach ihrem Tode taten. Ich glaubte in ihm den Geist jener Päpste zu erkennen, die Herrscher in den Bann taten und Königreiche mit dem Interdikt belegten. So trat ich denn an den furchtbaren Zensor heran und redete ihn an. Er empfing mich mit jener würdevollen oder frechen Miene, wie sie von Fürstengunst aufgeblähte Minister annehmen, wenn jemand eine Gnade von ihnen erbittet. Sein Hochmut, der mich tränkte, ließ mich zögern; aber schließlich faßte ich Mut und machte ihm ein ziemlich lahmes Kompliment über das Vergnügen, ihn kennen zu lernen.

Nach einigen allgemeinen Redensarten stellte ich die Frage, ob er mit seinem Gewerbe zufrieden sei. — „Ungemein“, entgegnete er. „Ich stehe mit mehr als einem Hofe in geheimem Briefwechsel und habe mit vielen großen Herren zu tun, die wich fürchten und aufsuchen. Ich habe mir durch meine Tätigkeit ein Reich gegründet, herrsche ohne Staat und schalte despotisch ohne Macht.“—„Aber, mein Herr,“ fragte ich, „ist Ihr Reich auch fest begründet, und haben Sie keinen der Schicksalsschläge zu befürchten, denen die Hochstehenden so sehr ausgesetzt sind?“ — „Was hätte ich zu befürchten?“ erwiderte er. „Entthronen kann man mich nicht. Ich beherrsche die Geister, und solange es Federn und Tinte auf Erden gibt, gehe ich meinen Weg. Von<216> meinem Arbeitszimmer aus lenke ich die Geschicke der Weltbedrücker. In meinen Händen halte ich den Ruf aller Großen, vor denen das Volk im Staube liegt. Beliebt es mir, st lasse ich sie vor Ärger vergehen, senke Verzweiflung in ihr Herz und raube ihnen die Früchte aller Gunstbeweise, mit denen Fortuna sie überschüttet.“ — „Ach!“ rief ich, „welch unmenschliches Vergnügen können Sie daran finden, Menschen unglücklich zu machen, vorausgesetzt daß Sie wirklich so handeln! Plagt Sie denn der geheime Drang jener bösen Geister, die grausame Freude daran haben sollen, das Menschengeschlecht zu verfolgen? Ach, mein Herr, ich bitte Sie...“—„Wie?“ unterbrach er mich. „Glauben Sie denn, mein Blut wäre Rosenwasser? Skrupeln und zarte Rücksichten überlasse ich den ängstlichen Gemütern. Mir gefällt es, die Eitelkeit und Anmaßung derer zu demütigen, die nichts zu fürchten haben, die harten Herzen, die mit dem öffentlichen Elend niemals Mitleid fühlen, zu betrüben und in Verzweiflung zu bringen, und die etwas leiden zu lassen, die täglich Leid stiften.“ — „Ach, mein Herr, ich bitte umGnade für das Menschengeschlecht!“ riefich aus. „Glauben Sie nicht, es sei so verderbt, wie Sie es sich vorstellen! Gewiß bedeckt das Lasier die Erde, aber die Seuche ist nicht allgemein. Glauben Sie nicht, daß Wohlergehen und Tugend unvereinbar seien; machen Sie wenigstens Unterschiede...“ — „Ich mache keine Unterschiede“, entgegnete er. „Alle Menschen sind schlecht, also kann ich sie alle mit gutem Gewissen angreifen.“ — „Das Ihre ist scheinbar nicht zart“, sagte ich. — „Wer würde mich ernähren?“ fuhr er fort. „Wenn ich Hunger habe, wovon soll ich leben? Denn schließlich muß man heutzutage doch etwas vorstellen, sonst wird man verachtet. Mein Schweigen bezahlt niemand, aber meine Arbeiten werden teuer bezahlt, und ich arbeite ja nur an Menschenherzen.“ — „Welch tiefer Fall“, rief ich aus, „für einen so despotischen Herrscher, für diesen schrecklichen, so gefürchtsten Zensor, für diesen obersten Richter über alle Großen der Welt! Wie? Krösus ist inmitten seiner Schätze auf Almosen angewiesen?“ — „Scherz beiseite! Mein Königtum ernährt mich nur insoweit, als ich meines Amtes walte. Ich bin zwar viel unumschränkter als die Könige; sie sind die Sklaven der Gesetze und können nur insoweit strafen oder belohnen, als diese es gestatten; sie haben keine Macht über den Ruhm, können ihn nicht verleihen noch nehmen. Ich dagegen mache mich zum Beherrscher der öffentlichen Meinung. Durch meinen Einfluß auf sie bildet man sich seine Vorstellungen über die Personen, je nachdem, wie ich sie schildere, und gleich den Königen beziehe ich Sübsidien, die die Bosheit der einen mir zahlt, um die Verderblichkeit der anderen aufzudecken. Daher besteuere ich die Großen und Fürsten; sie sind meine Sklaven; ich verkauft ihren Namen teurer oder billiger, je nach der Schwierigkeit, ihr Verdienst herabzuwürdigen. Ich brandschatze Haß und Neid und beschränke mich nicht auf Privatleute. Der Thron hat für mich nichts Furchtgebietendes; und so, wie Sie mich hier sehen, ohne Schatz und Heer, erkläre ich den Königen den Krieg und greife sie an, so mächtig sie sein mögen.“ — „Wahrhaftig,“ rie fich, „Sie wagen da viel. Der Krieg hat seine Wechselfälle, und eines Tages könnte Sie das Miß<217>geschick ereilen, das auch die größten Feldherren erfahren haben: völlig geschlagen zu werden.“ — „Scherz beiseite!“ erwiderte er. „Die Fürsten, die Monarchen verstehen sich meiner Waffen nicht zu bedienen; sie können knapp ihren Namen schreiben. Wollten sie einen Federkrieg beginnen, so ginge es lustig her. Ihre Schriften würden verworfen, während man den meinen Glauben schenkt. Was mich furchtbar macht, ist, daß ich der Lehrmeister des Publikums bin; ich schreibe ihm vor, was es denken soll.“—„Aber“, wandte ich ein, „die Herrscher haben es nicht nötig, sich der Feder zu bedienen ...“ — „Gemach!“ erwiderte er. „Ich glaube. Sie kommen mir ins Gehege.“—„Gott behüte!“ rief ich aus. „Sofern nicht irgend eine Kraft von Ihnen ausströmt, wie von den Leichnamen der Heiligen, und auf mich einwirkt. Aber um auf unser Thema zurückzukommen: belehren Sie mich doch bitte, wie es Ihnen gelingt, die in Verruf zu bringen, denen die Verleumdung nicht beikommen kann.“ — „Besitze ich denn keine Phantasie?“ erwiderte mein Mann. „Ist es schwerer, eine Schmähschrift als einen Roman zu schreiben? Was kostet es, geheime Anekdoten zu erfinden und Geschichten zu fabrizieren, die wahrscheinlich klingen? Der Grad von Wahrscheinlichkeit, den man den aufgetischten Märchen zu geben weiß, verschafft ihnen den meisten Glauben; und ist es überhaupt so schwer, die Menschen lächerlich zu machen?“

Er war im Begriff, mir alle seine Geheimnisse zu enthüllen, als ich mich nicht enthalten konnte, ihm zu sagen, ich schätzte mich sehr glücklich, vom Schicksal nicht zu einem Rang erhoben zu sein, bei dem ich Gefahr liefe, in seine Hände zu fallen. Ja, ich priese den Himmel für meine bescheidene Stellung, die mich zu unwichtig machte, um von ihm vor der Welt an den Pranger gestellt zu werden. „Ich kann Ihnen nicht verhehlen,“ setzte ich hinzu, „daß ich an Ihrer Stelle die Mächtigen fürchten würde; denn ihr Arm reicht so weit, daß sie überall hinlangen. Zudem scheint es mir, daß Sie, der als Tyrann schalten will, sich selbst das Los der Tyrannen bereiten.“

Darob geriet unser Mann in edle, heroische Begeisterung und führte mir zu Gemüte, daß es nichts Erhabeneres und Mutvolleres gäbe als kühne Wagnisse, daß man Leute, die auf der Straße spazieren gehen, nicht bezahle/wohl aber die Seiltänzer, und daß man schwierige und gewagte Pläne entwerfen müsse, um seinen Namen unsterblich zu machen. So entwickelte er mir bombastisch die Gefühle der Standhaftigkeit und Charakterstärke, die ihn beseelten. „Ja,“ fügte er hinzu, „gern unterwürfe ich mich der grausamsten Marter, um meine Unabhängigkeit, meine Freiheit, meine Rechte und die innere Genugtuung zu wahren, die ich darin finde, über die ganze Welt meine Glossen zumachen.“—„Recht schade,“ erwiderte ich, „daßSie nicht während der ersten Jahrhunderte der Kirche zur Welt kamen! Ihr Name hätte in den Verfolgungen geglänzt und gehörte jetzt der Legende an, und sicherlich würde Ihr Namenstag gefeiert. Ich fürchte nur, es kommt ganz anders, als Sie sich denken. Nachdem Sie eine Weile der geheimen Rachsucht hochstehender Neider zum Werkzeug gedient haben, werden Sie tragisch enden, ohne die erhoffte Berühmtheit zu erlangen.“

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Er wollte mir antworten, als jemand, der den Schluß unserer Unterredung gehört hatte, auf uns zutrat und ihm mit dürren Worten und ziemlich dreist die berühmte Geschichte von dem eisernen Käfig erzählte, in den Ludwig XIV. einen Schwätzer seines Schlages, der sein Talent gegen ihn geübt hatte, eingesperrt haben soll. Unser Mann erwiderte, es herrschten alljährlich im Frühjahr böse Fieber, aber nicht jeder stürbe daran; die Großen wüßten gute Witzworte garnicht zu schätzen; das Zeitalter sei sehr wählerisch und würde es immer mehr, und man machte zu wenig Aufhebens von Verdienst und Talent. Allein ich bemerkte, daß seine Miene sich seit der Geschichte von dem eisernen Käfig verdüstert hatte; er wurde in der Tat nachdenklich und schweigsam. Als ich ihn so finster sah, ging ich fort und überließ ihn seinen trüben Gedanken.

Kann man aus alledem nicht schließen, daß die Bosheit, auch wenn sie die GeWissensbisse erstickt, doch niemals von schrecklichen Befürchtungen frei ist, und daß ein tugendhaftes Leben allein Ruhe gewährt?


214-1 Vgl. S. 207 ff.

214-2 Jusepe de Ribera, genannt Lo Spagnoletto (1588—1656), spanischer Maler.

215-1 Reiche portugiesische Juden, die am Ende des 17. Jahrhunderts in Amsterdam lebten,