Betrachtungen über die militärischen Talente und den Charakter Karls XII. (1759)1
Zu meiner eignen Belehrung habe ich mir von den militärischen Talenten und dem Charakter des Schwedenkönigs Karl XII. ein deutliches Bild machen wollen. Ich urteile weder nach den übertriebenen Schilderungen seiner Lobredner noch nach den Zerrbildern seiner Tadler. Ich halte mich nur an Augenzeugen und an Tatsachen, in denen alle Bücher übereinstimmen. Mißtrauen wir all den Anekdoten, von denen die Geschichtsbücher wimmeln! Aus einem Wust von Lügen und Abgeschmacktheiten muß man die großen Ereignisse herausheben: sie allein enthalten Wahrheit.
Unter den Männern, die es unternommen haben, die Welt zu beherrschen oder umzuwälzen, ragen überlegene Geister hervor, deren Großtaten die Folge großer Entwürfe waren, Männer, die die Ereignisse benutzt oder sie selbst herbeigeführt haben, um die politische Gestalt der Welt zu ändern. So Cäsar. Seine der Republik geleisteten Dienste, seine Fehler und Tugenden, seine Siege — alles trug dazu bei, ihn auf den Thron der Welt zu heben. So der große Gustav Adolf, Turenne, Eugen, Marlborough in engeren oder weiteren Wirkungskreisen. Die einen ordneten ihre militärischen Operationen dem Ziel unter, das sie sich im Lauf eines Feldzuges gesteckt hatten. Die andren knüpften ihr ganzes Wirken und mehrere Feldzüge an den Hauptzweck des unternommenen Krieges. Verfolgt man ihre bald bedächtigen, bald glänzenden Taten, so erkennt man aus ihnen das Ziel, dem sie zustrebten. So Cromwell, so Kardinal Richelieu, dem es durch Ausdauer gelang, die Großen des Reiches, die seine Einheit bedrohenden Protestanten und das Haus Österreich, Frankreichs Erbfeind, zu demütigen.
1 Vgl. S. 210. f. An der Gicht daniederliegend, begann der König im Oktober 1759 in Kiben (vgl. Bd. IV, L. 22) mit der Abfassung dieser Abhandlung, deren (noch unveröffentlichter) erster Entwurf von der Druckausgabe, die unsre Vorlage bildet, stark abweicht. Angeregt wurde Friedrich zu dieser Schrift, wie er dem Marquis d'Argens erklärt, durch den Umstand, daß er sich damals „genau an dem Orte befand, der durch Schulenburgs Rückzug (vgl. S. 74 und Bd. II, S. 41) berühmt geworden ist“, Die Abhandlung, nur in wenigen Exemplaren gedruckt, gelangte bloß an einen kleinen Kreis zur Mitteilung.