<103> Untersuchung, zu der es erforderlich ist, auf tausenderlei einzugehen, verlangt einen philosophischen und aufmerkenden Geist, solche Vertiefung ist aber nicht jedermanns Sache, und so spart man sich lieber die Mühe. Und ich gebe zu, leichteren Kaufs kommt man schon davon, begnügt man sich mit einem Namen, der eigentlich nichts besagt. So kommt's, daß von der ganzen heidnischen Götterwelt allein Glück und Zufall uns geblieben sind. Nun, immerhin hat's etwas für sich: die Toren sehen ja gern die Ursache ihres Mißgeschicks in der Feindseligkeit des Glückes, und auf der anderen Seite erheben die, so ohne besonderes Verdienst in der Welt vorankommen, gern das blinde Schicksal zur Gottheit, deren Weisheit und Gerechtigkeit aller Bewunderung wert seien.
Solange wir nun Menschen sind, das heißt äußerst bedingte Wesen, werden wir niemals ganz erhaben sein über das, was man Schicksalsfügungen nennt. Wir müssen mit Weisheit und Klugheit das Mögliche dem Zufall, der Stunde entreißen; nur ist unser Sehfeld zu beengt, um alles wahrzunehmen, und unser Denkvermögen zu beschränkt, um alles in die gehörige Beziehung zu bringen. All unsere Unzulänglichkeit aber gibt uns kein Recht, das bescheidene Maß an Kräften, das einmal unser ist, brachliegen zu lassen. Im Gegenteil! Wir sollen herausholen, soviel wir nur vermögen, und darum, well wir nun mal keine Götter sind, unser Wesen nicht gleich auf den Standpunkt des Viehes herabsinken lassen. Tatsächlich gehörte nicht weniger als göttliche Allwissenheit dazu, wollte der Mensch das tausendfach verschlungene Gewebe verborgener Ursachen übersehen und bei jedem Geschehen dem letzten, unscheinbarsten Warum nachgehen, um auf diesem Wege zu richtigen Berechnungen für die Zukunft zu gelangen.
Hier zwei Begebenheiten zum Beweise, daß es keiner Menschenwelsheit gegeben ist, alles und jedes vorauszusehen. Die erste der Überfall Cremonas durch Prinz Eugen1. Das Unternehmen war mit aller erdenkbaren Umsicht angelegt und wurde mit großartigstem Schneid angepackt. Was brachte den Plan zum Scheitern? Der Prinz schaffte sich gegen Morgen Eingang in die Stadt durch einen unterirdischen Gang, den ihm nach geheimer Abrede ein Priester öffnete. Unfehlbar hätte er sich zum Herrn der Stadt gemacht, wären nicht zwei Umstände, die er unmöglich voraussehen konnte, dazwischengetreten. Erstens stand zufällig ein Regiment Schweizer, das gerade am selben Morgen exerzieren sollte, unter Gewehr und leistete ihm Widerstand, bis die ganze Garnison auf den Beinen war. Zweitens traf sich's, daß der Führer, der den Herzog von Vaudemont zu einem anderen Stadttor, auf dessen Einnahme es ankam, hingeleiten sollte, den Weg verfehlte, und so kam diese Abteilung zu spät an. Ich glaube, selbst die begeisterungtaumelnde Priesterin von Delphi hätte auf ihrem heiligen Dreifuß mit allen Geheimnissen ihrer Kunst diese Zwischenfälle nicht voraussehen können.
1 Am 1. Februar 1702.