<110> Marschall Catinat in einer Mönchskutte und unterm Scheine priesterlicher Bemühung ums ewige Heil dieser Königsseele ihn der Partei des Kaisers abwendig und zu einem Anhänger der Sache Frankreichs machte. Die Verhandlung, immer unter vier Augen, ward mit solchem Geschick geführt, daß das neue Bündnis zwischen Frankreich und Sardinien den Staatsmännern jener Tage sich als eine unerwartete, unerhörte Erscheinung darstellte.
Dies Beispiel führe ich nicht etwa an, um das Verhalten von Viktor Amadeus zu rechtfettigen; meine Feder verzeiht einem Könige so wenig Falschheit, wie sie einem Bürger Untreue nachsieht; ich will lediglich darauf hinweisen, was geräuschlose Zurückhaltung und Gewandtheit unter Umstanden wert ist — Voraussehung bleibt dabei immer, daß unsere Zwecke nicht unwürdig und unredlich sind.
So gilt denn als allgemeine Regel, daß Fürsten für schwierige Verhandlungen die überlegensten Köpfe auswählen sollen, Männer, die nicht nur über die nötige Verschlagenheit und Geschmeidigkeit verfügen, um sich überall leicht Eingang zu schaffen, sondern auch den rechten Blick haben, um die Geheimnisse des Herzens aus dem Auge abzulesen, verstohlene Absichten der anderen aus ihren Gebärden, aus ihren scheinbar unverfänglichsten Handlungen, damit ihrem Spürsinne nichts entgehe und alles vor der Überlegenheit ihres Verstandes offen daliege.
Nur insoweit sollten Herrscher von Listen und Kunstgriffen Gebrauch machen, wie eine eben umschlossene Stadt sich der Leuchtkugeln bedient, das heißt, nur um die Pläne ihrer Feinde zu entdecken. Wenn sie im übrigen offen und aufrichtig vorgehen, werden sie unfehlbar das Vertrauen Europas gewinnen und ihr Gedeihen finden ohne schändliche Mittel, zu Macht und Bedeutung gelangen lediglich durch das, was sie persönlich wert sind. Alle Verhandlungen von Staat zu Staat haben naturgemäß nur einen Endzweck: das ist der Friede und das Wohlergehen des Landes. In diesem Mittelpunkt müssen alle Wege der Staatskunst immer wieder zusammenlaufen.
Die Ruhe Europas ist in erster Linie bedingt durch die Erhaltung jenes weisen Gleichgewichts, das darin besieht, daß dem Übergewichte einzelner Herrscher die vereinigten Kräfte der anderen Mächte die Wage halten. Jede Störung dieses Gleich, gewichtes beschwört die Gefahr einer allgemeinen Umwälzung herauf und des Emporkommens einer neuen Monarchie auf den Trümmern der Fürstentümer, die ihre Uneinigkeit schwach und kraftlos machte.
So scheint es eine Lebensfrage für die Fürsien Europas, niemals die Verhandlungen, Verträge und Bündnisse aus den Augen zu verlieren, durch die die Aufrechterhaltung eines gewissen Gleichgewichts unter den machtvollsten Herrschern ermöglicht wird, und ängstlich alles zu vermeiden, was das Unkraut der Zwietracht zwischen ihnen aussäen könnte; denn früher oder später würde es sich zu ihrem Verderben auswachsen. Ausgesprochene Vorliebe und Abneigung für und wider die eine oder andere Nation, Vorurteile nach Frauenweise, Zank und Händel der einzelnen, Neine Sonderzwecke, Belanglosigkeiten dürfen niemals den Blick eines Mannes