<239>scheinlichkeit würde jeden Irrtum siegreich überwinden und unfehlbar überzeugend wirken. An sicheren Merkmalen würde man sie vom Irrtum unterscheiden, der so oft uns täuscht, wenn er unter der geborgten Form des Wahren erscheint. Alle Vermutungen würden aufhören. Es gäbe nur noch Gewißheiten. Die Erfahrung aber lehrt mich ganz das Gegenteil: sie zeigt mir, daß kein Mensch frei von Irrtum ist; daß die größten Narrheiten, wie die Einbildungskraft sie nur im Fieberwahn gebären kann, zu allen Zeiten aus Philosophenhirnen hervorgingen; daß nur wenige philosophische Systeme ohne Vorurteile und falsche Schlüsse auskommen. Sie erinnert mich an die Wirbel, die Descartes ersann, an Newtons, des großen Newton Erläuterungen zur Apokalypse, an die prästabilierte Harmonie, die Leibniz erfand1, ein Genie, das diesen großen Männern ebenbürtig ist. Überzeugt von der Ohnmacht des menschlichen Verstandes und erschüttert von den Irrtümern so berühmter Philosophen, rufe ich aus: O Eitelkeit der Eitelkeiten, Eitelkeit des philosophischen Geistes!

Die Erfahrung dehnt ihre Untersuchung noch weiter aus. Sie zeigt mir, daß durch alle Jahrhunderte hindurch der Mensch ein Sklave des Irrtums war, der religiöse Kult sich auf absurde Fabeln gründete und absonderliche Riten, lächerliche Feste, abergläubische Bräuche im Gefolge hatte, womit die Völker das Bestehen ihrer Macht verknüpften. Erfahrung lehrt uns, daß Vorurteile den Kult beherrschten, gleichwie sie die ganze Welt von einem Ende bis zum andern regieren.

Forscht man nach den Ursachen dieser Irrtümer, so findet man, daß ihr Ursprung im Menschen selbst liegt. Die Vorurteile sind die Vernunft des Volkes; es hat einen unwiderstehlichen Hang zum Wunderbaren. Dazu kommt, daß der größte Teil der Menschheit, da er auf tägliche Arbeit angewiesen ist, in unüberwindliche Unwissenheit versunken hinlebt. Für Denken und Nachdenken hat er keine Zeit. Da sein Geist an vernunftmäßiges Denken nicht gewöhnt, sein Urteil nicht geschult ist, so kann er unmöglich die Dinge, über die er Klarheit wünscht, nach den Regeln einer gesunden Kritik untersuchen und ebensowenig einer Kette von Schlüssen folgen, wodurch man seine Irrtümer beiseite zu räumen vermöchte. Daher stammt seine Anhänglichkeit an den Kult, dem eine lange Gewöhnung Weihe verlieh; lediglich Gewalt kann ihn davon losreißen. Mit Gewalt haben denn auch jeweils die neuen Religionslehren die alten ausgerottet. Die Henker bekehrten die Heiden, und Karl der Große verkündete den Sachsen das Christentum mit Feuer und Schwert. So müßte auch unser Philosoph mit dem Schwert in der Hand den Völkern predigen, um sie aufzuklären. Indessen, da die Philosophie ihre Jünger sanft und tolerant macht, hoffe ich, er überlegt es sich noch, bevor er Waffen und Rüstung eines kriegerischen Bekehrers anlegt.

Die zweite Ursache des Aberglaubens liegt im Charakter der Menschen: in ihrer Neigung, ihrem starken Hang zu allem, was ihnen wunderbar erscheint. Jedermann


1 Vgl. S. 61.75.76.