<240> spürt etwas davon in sich; unwillkürlich schenken wir den übernatürlichen Dingen, von denen wir hören, Aufmerksamkeit. Es scheint, das Wunderbare erhebt die Seele und adelt unser ganzes Wesen, indem es ein unermeßliches Gebiet erschließt, das den Kreis unserer Vorstellungen erweitert und unserer Phantasie freien Lauf läßt; denn mit Lust verliert sie sich in unbekannte Regionen. Der Mensch liebt alles, was groß ist, was ihm Staunen oder Bewunderung erweckt. Majestätischer Pomp, eindrucksvolle Zeremonien packen ihn. Ein geheimnisvoller Kult verdoppelt seine Anteilnahme. Verkündet man ihm obendrein die unsichtbare Gegenwart einer Gottheit, so bemächtigt sich seines Gemüts ein ansteckender Aberglaube, setzt sich darinnen fest und wächst, bis er zum Fanatismus wird. Diese seltsamen Wirkungen sind die Folgen der Herrschaft, die des Menschen Sinne über ihn ausüben; denn er lebt mehr im Gefühl als im Verstand. Wir sehen also, daß die Mehrzahl der menschlichen Lehrmeinungen auf Vorurteile, Fabeln, Irrtum und Betrug gegründet sind. Was können wir anderes daraus schließen, als daß der Mensch für den Irrtum geschaffen, der ganze Erdball dessen Herrschaft unterworfen ist und daß wir so blind wie die Maulwürfe sind? Der Autor muß daher, nach der Erfahrung aller Zeitalter, gestehen, daß die Welt von abergläubischen Vorurteilen, wie wir sahen, überschwemmt und die Wahrheit also für den Menschen nicht geschaffen ist.
Was aber wird nun aus seinem System werden? Ich bin darauf gefaßt, daß unser Philosoph mich hier unterbricht und mich ersucht, die spekulativen Wahrheiten nicht mit denen der Erfahrung zu verwechseln. Ich habe die Ehre, ihm darauf zu erwidern, daß es bei Lehrsätzen und beim Aberglauben auf spekulative Wahrheiten ankommt; und darum hat es sich gehandelt. Die Erfahrungswahrheiten beeinflussen bloß das bürgerliche Leben, und ich bin überzeugt, ein großer Philosoph wie unser Autor bildet sich nicht ein, er kläre die Menschheit auf, wenn er sie lehrt, daß man am Feuer sich verbrennt und im Wasser ertrinkt, daß man Nahrung zu sich nehmen muß, um das Leben zu erhalten, daß die menschliche Gesellschaft ohne die Tugend nicht bestehen kann, und andere Gemeinplätze mehr. Aber gehen wir weiter.
Der Autor sagt im Anfang seines Werkes, da die Wahrheit allen nützlich sei, müsse man sie ihnen kühn und rückhaltlos sagen. Im achten Kapitel — wenn ich nicht irre, denn ich zitiere aus dem Gedächtnis — spricht er sich ganz anders aus. Da vertritt er die Meinung, die Notlügen seien erlaubt und nützlich. Er geruhe doch sich selber zu entscheiden, ob Wahrheit oder Lüge siegen soll, damit wir wissen, woran wir uns zu halten haben! Wenn ich es wagen darf, nach einem so großen PHUosophen auch meine Meinung in die Wagschale zu werfen, so möchte ich raten, ein vernünftiger Mensch solle mit nichts, nicht einmal mit der Wahrheit, Mißbrauch treiben. Ich werde nicht ermangeln, Beispiele zu nennen, um diese Meinung zu stützen.
Nehmen wir an, eine furchtsame und schreckhafte Frau befinde sich in Lebensgefahr. Wollte man ihr auf unbesonnene Weise die Gefahr, in der sie schwebt, kundgeben, so würde ihr Gemüt durch die Todesfurcht erregt, erschüttert, außer Fassung