<262>angenehm, daß ihr tätiges Leben sich beständig in Widerspruch zu ihren theoretischen Grundanschauungen setzt.

Der Verfasser des „Systems der Natur“ hat zuvörderst alle Gründe, die sein Vorstellungsvermögen ihm lieferte, erschöpft, um zu beweisen, daß eine Schicksalsnotwendigkeit die Menschen bei allen Handlungen durchaus binde und leite. Daraus hätte er doch folgern müssen, daß wir nichts als eine Art von Maschinen oder, wenn man will, Marionetten seien, die durch eine blinde Triebkraft bewegt würden. Statt dessen eifert er gegen die Priester, gegen die Regierungen und die Erziehung. Er setzt also voraus, die Menschen, die diese Ämter innehaben, seien frei, während er ihnen doch beweist, daß sie Sklaven seien. Wie abgeschmackt, wie unvereinbar! Wird alles durch notwendige Ursachen bewegt, so werden Ratschläge, Unterweisungen, Gesetze, Strafen, Belohnungen überflüssig und unnütz. All das hieße nur, einem gefesselten Mann sagen: sprenge deine Ketten! Geradeso gut könnte man eine Eiche durch Predigen überreden wollen, sich in einen Orangenbaum zu verwandeln. Die Erfahrung bezeugt uns jedoch, daß es gelingen kann, Menschen zu bessern; also muß mit Notwendigkeit geschlossen werden, daß sie wenigstens teilweise der Freiheit genießen. Bleiben wir bei den Lehren dieser Erfahrung und lassen wir uns keinesfalls auf eine Weltanschauung ein, der wir ohne Unterlaß durch unsere Handlungen widersprechen.

Aus der Grundanschauung der Fatalität ergeben sich die unheilvollsten Folgen für die menschliche Gesellschaft. Hätte sie Geltung, so wären Mark Aurel und Catilina, der Präsident de Thou1 und Ravaillac2 an Verdiensten einander gleich. Die Menschen würden nur noch als Maschinen anzusehen sein, die teils für das Lasier, teils für die Tugend bestimmt wären. Auf jeden Fall wären sie unfähig, aus sich heraus verdienstlich zu handeln oder zu sündigen und so Strafe oder Lohn zu ernten. Das würde die Moral, die guten Sitten und alle Grundlagen der Gesellschaft untergraben. Woher kommt dann aber die Liebe zur Freiheit, die gemeiniglich in allen Menschen lebt? Wenn sie nur in der Vorstellung existierte, woher wüßten sie dann von ihr? Sie müssen sie also durch Erfahrung, durch ihr Gefühl kennen gelernt haben; folglich muß Freiheit wirklich bestehen, oder es wäre unwahrscheinlich, daß sie Liebe für sie empfinden könnten. Was immer Calvin, Leibniz, die Arminianer3 und der Verfasser des „Systems der Natur“ darüber sagen mögen, sie werden uns niemals überzeugen, daß wir Mühlenräder seien, die von einer notwendigen, unwiderstehlichen Ursache nach Laune in Bewegung gesetzt würden.

All diese Fehler, in die unser Autor verfiel, kommen von seiner Systemwut her; er hat sich in seine Meinungen verrannt. Er traf Phänomene, Umstände und Einzelheiten, die zu seiner Lehre trefflich stimmten. Als er aber daran ging, seine Ideen zu verallgemeinern, fand er andere Kombinationen und Erfahrungswahrheiten, die


1 Jacques Auguste de Thou († 1617), französischer Staatsmann und Geschichtsschreiber.

2 Der Mörder König Heinrichs IV. von Frankreich.

3 Die Arminianer vertraten die freiere Richtung nnerhalb der reformierten Kirche in den Niederlanden.