<264> erwarten kann, ist dies: daß unter ihr die schweren Verbrechen seltener seien als unter einer schlechten. Unser Autor müßte ferner wissen, daß Übertreibungen nicht Gründe sind, daß Verleumdungen einen PHUosophen gleichwie jeden anderen Schriftsteller unglaubwürdig machen und daß von ihm im Zustand der Erbosung, in den er etliche Male gerät, das Wort gelten könnte, das Menipp1 zu Jupiter spricht: „Du greifst zum Blitzstrahl; also bist Du im Unrecht!“

Ohne Zweifel gibt es nur eine Moral. Sie umfaßt alles, was die einzelnen Menschen einander schulden, sie ist die Grundlage der Gesellschaft. Unter jedweder Regierung, in jedweder Religion muß sie dieselbe sein. Die des Evangeliums würde, wenn man sie in all ihrer Reinheit nähme, nutzbringend auf das Leben anzuwenden sein. Sobald wir aber das Dogma der Fatalität annehmen, gibt es nicht Moral und Tugend mehr, und der ganze Bau der menschlichen Gesellschaft bricht zusammen. Das Ziel unseres Autors ist es unbestreitbar, die Religion zu stürzen; doch hat er den abseitigsten und schwierigsten Weg gewählt. Mir scheint, das natürlichste Vorgehen für ihn wäre dieses gewesen: ein Angriff auf die geschichtliche Seite der Religion, auf die absurden Fabeln, über denen man ihr Gebäude errichtet hat, auf die Überlieferungen, die absurder, närrischer, lächerlicher sind als das Allertollste, was das Heidentum geleistet hat. Dies wäre das Mittel gewesen, zu beweisen, daß Gott nicht gesprochen hat; das Mittel, die Menschen von ihrer einfältigen, stumpfen Leichtgläubigkeit abzubringen. Noch einen kürzeren Weg hatte der Verfasser zur Erreichung desselben Ziels. Er mußte die Argumente gegen die Unsterblichkeit der Seele vorführen, die Lukrez in seinem dritten Buch2 mit soviel Kraft auseinandersetzt, und mußte dann hieraus den Schluß ziehen: da mit diesem Leben für den Menschen alles zu Ende gehl und nach dem Tode ihm nichts mehr zu fürchten noch zu hoffen bleibt, so kann auch keinerlei Zusammenhang zwischen ihm und der Gottheit bestehen, und diese vermag weder zu strafen noch zu belohnen. Ohne diesen Zusammenhang kann von Kultus, von Religion nicht mehr die Rede sein, und die Gottheit sinkt für den Menschen zum Gegenstand der Untersuchung, der Wißbegier herab.

Wieviel Seltsamkeiten und Widersprüche gibt es demgegenüber im Werk dieses Philosophen! Nachdem er mühselig zwei Bände mit Beweisen für sein System gefüllt hat, gesteht er, daß wenig Menschen fähig seien, es zu erfassen und sich hinein zu vertiefen. Man sollte also glauben, daß er mit derselben Blindheit, die er der Natur nachsagt, ohne Ursache handle und unter dem Zwange einer unwiderstehlichen Notwendigkeit ein Werk schreibt, das geeignet ist, ihn in die größten Gefahren zu stürzen, ohne daß er selbst oder ein andrer je auch nur die geringste Frucht davon ernten könnte.

Kommen wir nun zu den Herrschern, die der Autor ganz besonders aufs Korn genommen hat, um sie in Verruf zu bringen. Ich kann versichern, daß die Geistlichen den Fürsten niemals so törichtes Zeug gesagt haben, wie er ihnen zuschreibt. Wenn


1 Vielmehr Cyniscus in Lucians Dialog: „Der überführte Jupiter“.

2 Des Lehrgedichts: De rerum natura.