„<62> dem, was sie in Wirklichkeit sind, der müßte mit Unfehlbarkeit untergehen.“ Der Verfasser hat vielleicht vergessen, wie er sich im sechsten Kapitel ausgelassen hat, wo er sagt: „Da es nun einmal ein Ding der Unmöglichkeit ist, sein Vollkommenheitsbild ganz zu erreichen, so wird ein Kluger sich immer nur ein möglichst hohes Vorbild wählen, damit er, vermag er ihm nicht ganz gleichzukommen, doch zum mim besten den eigenen Leistungen einen Abglanz seiner Größe sichere.“ Machiavell ist zu bedauern um der Unzuverlässigkeit seines Gedächtnisses willen, wenn nicht der Mangel an Zusammenhang und Folgerichtigkeit in seinen Gedanken und Schlüssen noch bedauerlicher ist.
Er geht in seinen Denkfehlern und den Grundsätzen seiner abscheulichen Mißweisheit so weit, zu behaupten, in dieser so ganz verbrecherischen und verderbten Menschenwelt sei für vollkommene Güte keine Lebensmöglichkeit. Einer hat mal gesagt, wenn die Dreiecke sich einen Gott machten, so würde er drei Seiten haben. So ist auch diese niederträchtige und verderbte Welt eine echte Schöpfung Machiavells.
Ein Redlicher kann immerhin überlegenen Geistes sein, voller Umsicht und Vorsicht, das braucht seiner Herzensreinheit keinen Eintrag zu tun. Seine scharfsinnige Voraussicht ist ihm genug, er erkennt, was seine Feinde im Schilde führen, seine Weisheit, nie Rates verlegen, kann ihm stets die Wege weisen, wie er den Schlingen, die ihre Bosheit ihm legt, entgehe. Was heißt das aber schließlich: unter Schurken nicht vollkommen gut sein? Was sonst als selber ein Schurke sein? Wer sich erst darauf einläßt, „nicht vollkommen gut“ sein zu wollen, der wird zuletzt, nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge, eben ein ganzer Bösewicht; das geht wie beim Donaustrom: der wird auch nicht besser bei seiner Weltreise, in der Schweiz fängt er an, in der Tartarei nimmt er sein Ende.
Man lernt, ich gestehe es, ganz neue und besondere Dinge bei Machiavell: Ehe ich den „Fürsten“ gelesen, war ich dumm und ungebildet genug, nicht zu wissen, daß es Fälle gebe, die einem Ehrenmann erlaubten, ein Schuft zu werden. In meiner Beschränktheit hatte ich keine Ahnung davon, daß Leute wie Catilina, Cartouche, Mir-Weis1 die vorbildlichen Gestalten für die Welt seien; vielmehr lebte ich mit der Mehrheit der Menschen der Überzeugung, es komme der Tugend zu, Vorbilder abzugeben, dem Laster, sich gefälligst danach zu richten. Muß ich mich allen Ernstes auf ein Für und Wider einlassen? Gründe allen Ernstes dafür beibringen, daß wirklich Tugend allerhand vor dem Lasier voraus hat, ein gütiges Herz vor schadenfroher Bosheit und Edelsinn vor Verrätertücke? Ich denke, wer nur seinen Verstand beieinander hat, der weiß zur Genüge, was sein Bestes erheischt, um zu fühlen, auf welcher von beiden Seiten er am ehesten seine Rechnung findet, und um einen Menschen zu verabscheuen, der bei dieser Frage garnicht einmal einen Zweifel, ein Schwanken kennt, sondern der sich für das Verbrechen entscheidet!
1 Mir-Weis ermordete 1709 den Fürsten von Candahar und bemächtigte sich des Thrones, den er bis zu seinem Tode (1717) innehatte.