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10. Kapitel

Wie die Kräfte der verschiedenen Fürstentümer zu bewerten sind.

Seit den Tagen, da Machiavell seinen „Fürsten“ schrieb, hat sich die Welt schier bis zur Unkenntlichkeit verändert. Künste und Wissenschaften, die damals eben aus ihrer Asche wiederzuerstehen begannen, trugen noch alle Merkmale des Barbarentums an sich, darein sie die Einführung des Christentums, die häufigen Goten-einfälle in Italien und eine Folge grausamer und blutiger Kriege versenkt hatten. Heutzutage haben fast alle Völker ihre alten Gewohnheiten gegen neue eingetauscht, schwache Fürsten sind zur Macht gelangt, die Künste haben sich vervollkommnet, und Europa zeigt ein völlig verändertes Gesicht gegen die Tage Machiavells.

Käme heut ein Philosoph aus jenen fernen Zeiten wieder auf die Welt, er würde sich wie ein Narr vorkommen in seiner Unwissenheit; unverständlich wäre ihm die neue Gedankenwelt bis auf ihre Ausdrucksweise. Himmel und Erde wären ihm neu. An Stelle der Untätigkeit, der Ruhe, die er unserm Erdball eigen glaubte, sähe er die Welt und alle Gestirne unterworfen den Gesetzen der Bewegung und der Anziehung, sähe jene in verschiedenen Ellipsen um die Sonne kreisen, diese selber um ihre eigene Achse. An Stelle der hochtrabenden, wunderlichen Redensarten, deren aufgeblasener Schwulst mit seiner Undurchsichtigkeit den Unsinn seiner Gedanken umhüllen mußte, die nur seine dünkelhafte Unwissenheit verbargen, würde man ihn schlicht und klar die Wahrheit und den Augenschein der Tatsachen sehen lehren, und statt der traurigen Fabeleien der Naturlehre seiner Zeit böte man ihm Erfahrungen dar, ebenso zuverlässige wie erstaunliche.

Erschiene heut ein tüchtiger Feldherr Ludwigs XII. wieder, er würde sich nirgends auskennen: Feldzüge sähe er unternommen mit Hilfe von zahllosen Heeren, deren Unterhalt allein im Felde bei ihrer großen Zahl oft ein Ding der Unmöglichkeit ist, und doch unterhalten die Fürsten diese Streitmacht in Friedenszeiten wie im Kriege; demgegenüber genügte zu seiner Zeit für die entscheidenden Schläge und für alle großen Unternehmungen eine Handvoll Menschen, die nach Beendigung des Feldzugs verabschiedet wurden. An Stelle der eisernen Harnische, der Lanzen und Musketen, deren Handhabung ihm geläufig war, fände er Uniformen, fände er Gewehre<41> und Bajonette vor, dazu eine neue Kriegskunst, zahllose mörderische Erfindungen für Angriff und Verteidigung fester Plätze und ein ausgebildetes Verfahren der Truppenverpfiegung, heut so notwendig wie seinerzeit die Kunst, den Feind zu besiegen.

Was aber würde erst Machiavell selbst sagen, sähe er die Neugestaltung der europatschen Machtverhältnisse, so viele große Fürsten, die damals in der Welt nichts bedeuteten und heut eine Rolle spielen, die Macht der Könige fest gegründet, die Art, wie die Herrscher ihre Verhandlungen führen, diese bevollmächtigten Spione, die man wechselseitig an allen Höfen unterhält, und dies Gleichgewicht Europas, das auf dem Bündnis einiger bedeutender Fürsten wider ehrgeizige Störenfriede ruht, einem Bunde, den Weisheit schuf, der die Gleichheit aufrechterhält und der zum Zwecke nur den Weltfrieden hat.

All diese Errungenschaften schufen einen so durchgreifenden Wandel im ganzen wie im einzelnen, daß nun die meisten der Gedanken Machiavells auf unser heutiges Staatsleben gar keine Anwendung mehr finden und entwertet sind. Das erhellt im besonderen aus diesem Kapitel hier. Dafür einige Beispiele.

Machiavell nimmt an: „Ein Fürst mit ausgedehntem Gebiete, zudem mit GeldMitteln und Truppen wohlausgerüstet, kann sich ohne die Unterstützung irgendeines Verbündeten, aus eigener Kraft wider die Angriffe seiner Feinde behaupten.“

Das möcht' ich in aller Bescheidenheit bestreiten, vielmehr die Behauptung wagen, daß ein Fürst, mag er noch so achtunggebietend sein, auf sich selbst gestellt, starken Gegnern nicht gewachsen ist, daß er notwendigerweise der Hilfe eines Verbündeten bedarf. Wenn schon der größte, wehrhafteste und mächtigste Fürst Europas, wenn ein Ludwig XI V. drauf und dran war, im Spanischen Erbfolgekriege zu erliegen, und aus Mangel an Verbündeten dem furchtbaren Bunde der zahllosen Könige und Fürsten, der ihn erdrücken wollte, kaum noch zu widerstehen vermochte, wieviel weniger kann jeder andere Fürst, der ihm nicht zu vergleichen ist, in Vereinzelung, ohne zuverlässige und starke Bundesgenossenschaft verharren, wenn er nicht alles aufs Spiel setzen will!

Man meint, und jeder spricht es nach, ohne es recht zu bedenken, Verträge seien eigentlich ohne Wert, sie würden doch fast niemals in all ihren Abmachungen innegehalten, man sei in unserm Jahrhundert darin noch gewissenloser als in jedem andern. Wer so denkt, dem entgegne ich: Zweifellos finden sich in alter und sogar in neuester Zeit Beispiele von Fürsten, die ihre Verpflichtungen nichts weniger als ernst genommen haben. Und doch ist es vorteilhaft, Verträge zu schließen; denn zum mindesten habt ihr so viel Feinde weniger, als ihr Verbündete gewinnt, und leisten sie euch sonst keine Hilfe, so nötigt ihr sie doch immerhin zur Beobachtung unbedingter Neutralität.

Machiavell spricht dann von den „principini“, jenen Duodezfürsten, die bei der Kleinheit ihrer Staaten kein Heer ins Feld schicken können; denen macht er die Befestigung ihrer Hauptstadt zur dringenden Aufgabe, damit sie sich im Kriegsfalle dort mit ihren Truppen einschließen können.

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Diese Art Fürsten sind eigentlich nur Zwitterwesen zwischen Herrscher und Privatmann, ihre Gebieterrolle können höchstens ihre Bedienten ernst nehmen. Ihnen wüßt' ich keinen bessern Rat zu geben, als die grenzenlose Meinung von ihrer Größe, die ungeheure Verehrung für ihr altes, erlauchtes Geschlecht und den heiligen Eifer für ihren Wappenschild etwas herabzusiimmen. Besser täten sie nach der Ansicht gescheiter Leute, wenn sie sich begnügten, als wohlhabende Privatleute in der Welt aufzutreten, endlich einmal von den Stelzen, auf denen ihr Dünkel einherschreitet, herabzusteigen und allerhöchstens eine ausreichende Schloßwache gegen die Spitzbuben zu halten, vorausgesetzt, daß sie genügend Hungerleider für einen derartigen Posten auftreiben können. Im übrigen mögen sie ihre Wälle und Mauern und was sonst ihrem Herrensitz das Aussehen eines befestigten Platzes geben kann, abtragen.

Meine Gründe sind die: die Mehrzahl dieser kleinen Fürsien, namentlich in Deutschland, richtet sich zugrunde durch die Aufwendungen, zu denen ihr trunkener Größenwahn sie verführt, die in so gar keinem Verhältnis zu ihrem Einkommen stehen; die Ehre ihres Hauses hochzuhalten, sinken sie immer tiefer, aus Eitelkeit geraten sie auf den Weg zum Elend und zum Armenhaus. Noch der allerjüngste Sproß einer apa-nagierten Linie hält sich in seiner Einbildung für einen kleinen Ludwig XIV.: er baut sein Versailles, küßt seine Maintenon und hält sich seine Armee.

Es gibt heut tatsächlich einen apanagierten Fürsten eines großen Hauses in Deutsch, land42-1, der in verschmitztem Großmachtgebaren peinlich alle Truppengattungen, die sich für einen richtigen König gehören, in Sold hat, aber freilich in so verkleinertem Maßstabe, daß ein Mikroskop nötig ist, jede Gattung insbesondere wahrzunehmen; seine Kriegsmacht würde vielleicht ausreichen, im Theater von Verona eine Schlacht aufzuführen, aber mehr dürft ihr nicht von ihr verlangen.

Zweitens habe ich für einen kleinen Fürsten die Befestigung seiner Residenz unzweckmäßig genannt, aus einem sehr einfachen Grunde: mit dem Fall einer Belagerung durch ihresgleichen haben sie nicht zu rechnen, mächtigere Nachbarfürsien würden sich sofort in ihre Streitigkeiten mischen und ihnen eine Vermittlung anbieten, deren Ablehnung nicht in ihrer Macht liegt. So machen, ohne alles Blutvergießen, zwei Federstriche ihren kleinen Händeln ein Ende. Zu welchem Ende also Festungen? Und vermöchten sie auch eine Belagerung, so langwierig wie die von Troja, von seiten ihrer kleinen Gegner auszuhalten, einer wie der von Jericho, durch die Kriegsmacht eines Königs oder sonst eines mächtigen Monarchen, wären sie nicht gewachsen. Wenn schließlich in ihrer Nachbarschaft sich ein ernster Krieg abspielen sollte, so sieht es nicht in ihrer Macht, neutral zu bleiben, wenn sie nicht ihren völligen Untergang wagen wollen; schlagen sie sich aber auf die Seite einer der kriegführenden Mächte, so wird aus ihrer Hauptstadt ein Waffenplatz in der Hand dieses Fürsten.

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Viktor Amadeus43-1, der doch an Macht den Neinen Fürsten der eben besprochenen Art immer noch unendlich überlegen war, machte mit seinen Festungen in allen Kriegen Italiens sehr traurige Erfahrungen. Turin selber mußte sich's gefallen lassen, in schnellem Wechsel bald französisch, bald kaiserlich zu heißen.

Der Vorteil der offenen Städte ist der, daß in Kriegszeiten kein Mensch sich um sie kümmert, daß man sie für wertlos betrachtet und so ihren Besitzer ungeschoren läßt.

Das Bild Machiavells von der Bedeutung der deutschen Reichsstädte paßt garnicht mehr auf die Gegenwart. Mit einem Kanonenschuß oder auch nur einer einzigen Aufforderung wäre der Kaiser Herr einer solchen Stadt. Sie sind alle schlecht befestigt, meist mit alten Mauern unter der Deckung dicker Türme hier und da, umzogen von Gräben, die fast ganz von nachgestürztem Erdreich ausgefüllt sind. Ihre Besatzung ist gering, und die wenige, die sie sich leisten, ohne Kriegszucht; ihre Offiziere sind entweder der Auswurf von Deutschland oder alte Leute, die nicht mehr dienstfähig sind. Einige dieser Reichsstädte besitzen eine leidliche Artillerie, doch gegen den Kaiser würden sie nicht aufkommen, der es liebt, sie recht oft ihre Ohnmacht fühlen zu lassen.

Mit einem Worte: Krieg führen, Schlachten schlagen, Festungen berennen oder verteidigen ist einzig und allein Sache großer Fürsten; wer ohne die dazu nötigen Mittel ihnen das nachmachen will, setzt sich der Lächerlichkeit aus wie Domitian43-2, der den Lärm des Donners nachahmte und das römische Volk glauben machen wollte, er sei Jupiter.


42-1 Herzog Ernst August von Sachsen-Weimar, dessen Truppen Friedrich 1730 im Lager von Mühl, berg gesehen hatte.

43-1 Viktor Amadeus II., König von Sardinien (1666—1732).

43-2 Vielmehr Salmoneus, König von Elis.