Über die Unschädlichkeit des Irrtums des Geistes
(1738)1
Ich halte mich für verpflichtet, Ihnen Rechenschaft über meine Muße und die Anwendung meiner Zeit zu geben. Sie kennen meine Neigung zur Philosophie. Sie ist meine Leidenschaft und begleitet mich treulich auf all meinen Wegen. Einige Freunde kennen diese meine herrschende Neigung und unterhalten sich oft mit mir über spekulative Fragen der Physik, Metaphysik oder Moral, sei es, weil sie selbst Vergnügen daran finden, sei es, um sich nach meinem Geschmack zu richten. Gewöhnlich sind unsere Unterhaltungen ziemlich bedeutungslos, da sie sich um bekannte Dinge drehen oder ihr Gegenstand unter dem Niveau der hohen Gelehrsamkeit liegt.
Mehr Beachtung scheint mir die Unterhaltung zu verdienen, die ich gestern abend mit Philant hatte. Das Thema ist von allgemeinem Interesse, und die Meinungen darüber sind geteilt. Sogleich dachte ich an Sie. Ihnen glaubte ich diesen Bericht schuldig zu sein. Sofort nach dem Spaziergang begab ich mich in mein Zimmer und brachte die noch frischen Ideen, deren mein Kopf voll war, so gut es ging, zu Papier. Ich bitte Sie, lieber Freund, mir Ihre Meinung darüber zu sagen. Bin ich so glücklich, mit Ihnen übereinzustimmen, so wird Ihre Aufrichtigkeit der Lohn meiner
1 Zu dieser Abhandlung wurde Friedrich durch Voltaires Schrift „Eléments de la philosophie de Newton“ angeregt. Wie er am 30. September 1738 an Voltaire schreibt, beabsichtigte er zu beweisen, „daß philosophische oder religiöse Meinungsverschiedenheiten niemals die Bande der Freundschaft und Menschlichkeit bei den Menschen lockern dürfen. Daher mußte ich beweisen, daß der Irrtum unschuldig war, und das habe ich getan.“