<109> sie durch das schwache Licht des Zweifels zu erleuchten, aber die Tyrannei der Kirche vereitelte alle ihre Bemühungen. Sie hatten mit Richtern zu tun, die zugleich Partei waren. Ihnen drohten Verfolgung, Kerker und Schmach, ja selbst die Flammen, die bereits von den Scheiterhaufen der Inquisition aufloderten.
Zur Vervollständigung des Bildes dieser Zeiten des Schwindelgeistes und der Verdummung denke man sich noch die Pracht und Üppigkeit der Bischöfe hinzu, die dem allgemeinen Elend gleichsam Hohn sprach, das schamlose Leben und die schwarzen Verbrechen so vieler Päpste, die die Moral des Evangeliums dreist Lügen straften, den Ablaßschacher, diesen offenbaren Beweis, daß die Kirche, um sich zu bereichern, das Heiligste des Glaubens verriet. Kurz, die Päpste trieben Mißbrauch mit ihrer auf die Leichtgläubigkeit der Menschen gegründeten Macht, genau wie heutzutage manche Völker ihr ideelles Ansehen mißbrauchen. All dieser gehäufte Zündstoff bereitete die Reformation vor.
Der Vollständigkeit halber müssen wir einen Umstand erwähnen, der die Ausführung erleichterte. Seit dem Konzil zu Konstanz1, wo Kaiser Sigismund drei Päpste hintereinander absetzen ließ, fürchtete der Heilige Stuhl die allgemeinen Kirchenversammlungen ebensosehr, als er sie bis dahin gewünscht hatte. Die Väter zu Konstanz hatten erklärt: ein Konzil habe durch göttliches Recht die Macht, die Päpste zu reformieren und abzusetzen. Schon zur Zeit der Ottonen hatten die Kaiser aus Unwillen darüber, die Bannflüche gegen ihre Vorfahren mitzuerben, auch ihrerseits die Religion und die Versammlungen der Bischöfe geschickt benutzt, um den römischen Bischof abzusetzen und ihn mit seinen eignen Waffen zu bekriegen. Seit dem großen Schisma der abendländischen Kirche2 verloren die Päpste viel von ihrem idealen Ansehen. Unheilige Hände griffen das vergoldete Götzenbild an, vor dem die Welt im Staube lag, und fanden, daß es nur aus Ton bestand. Seitdem fürchtete sich der Heilige Stuhl vor den Königen, Kaisern und Konzilen, und die einst so schrecklichen Waffen des Bannfluches verrosteten in den Händen der Päpste. Kurz, alles kündete eine Umwälzung an, als Wycliffe in England und Johann Huß in Böhmen auftraten.
Doch das war erst die schwache Morgenröte des Tages, der die Finsternis verscheuchen sollte. Indes das Maß war voll. So roh und stumpf das Volk auch sein mochte, es war der ewigen Abgaben an die Geistlichen müde, nahm Anstoß an der Pracht und dem schändlichen Leben der Bischöfe und geriet in jene Art von Gärung, die den großen Revolutionen vorherzugehen pflegt. Endlich gab der Ablaßschacher den Anstoß. Halb Europa kündigte dem Heiligen Stuhl den Gehorsam auf und fiel von ihm ab. Diese große Revolution der Geister mußte früher oder später eintreten; denn einerseits kennt die Machtgier keine Grenzen und andrerseits besitzt der menschliche Geist doch nur ein gewisses Maß von Geduld. Die Päpste aber, die
1 1414—1418.
2 1378—1417.