<122>brechern gewährt. Aber diese Leute haben eine Stirn, die nie errötet. Sie halten sich für gotterfüllt und unfehlbar.“ — „Sie müssen wohl gotterfüllt sein,“ entgegnete ich, „sonst wäre solche Torheit und so schmähliches Betragen unentschuldbar. Ach, wie fromm sind unsre Gelehrten, und wie heilig sind ihre Sitten! Nie verlassen sie den Weg der reinen Tugend. Darum sind sie auch von nichts erfüllt als von dieser reinen Tugend, die im unsterblichen, glückseligen Schoße des Tien entsteht.“ — „Verlieren wir die Zeit nicht mit Worten“, sagte mein Portugiese. „Heute findet im großen Tempel eine Zeremonie statt, die Ihre Aufmerksamkeit verdient.“ — „Eine Zeremonie,“ rief ich, „und warum?“ — „Der große Lama“, erwiderte jener, „wird dabei mitwirken. Kommen Sie hin! Wir wollen in den Tempel gehen und zuschauen.“

Wir brachen sogleich auf und fanden eine ungeheure Voltsmasse vor jenem prachtvollen Gebäude versammelt. Nur mit Mühe bahnten wir uns einen Weg durch die Menge. Da mein Portugiese jedoch der Abgesandte eines großen Königs war, so machte man ihm Platz, und ich schlich hinterdrein. So kamen wir bis zu einer Stelle in der Kirche, von der man die Zeremonie aus der Nähe sehen konnte. Ich wich meinem Portugiesen nicht von der Seite, um jemand zu haben, der mir den Vorgang erklären tonnte. Zunächst machte ein großer Haufe von Bonzen wie gewöhnlich Götter. Dann erschien der große Lama, von seinen Krebsen und einer großen Zahl von Bonzen gefolgt, die große, gespaltene Mühen auf dem Kopfe trugen. Der Lama ist ein Greis von über sechzig Jahren, hat aber scheinbar keine Lust, den Heiligen Geist sobald um die Wahl seines Nachfolgers zu bemühen. Er setzte sich majestätisch unter einen prächtigen Thronhimmel, den man für ihn aufgebaut hatte. Dann überreichte ihm einer der Bonzen mit gespaltener Mütze einen Hut und einen Degen.

„Was bedeutet das?“ fragte ich meinen Portugiesen. — „Er soll Hut und Degen weihen“, antwortete jener. —„Und warum das?“ —„Sie sind für einen großen Feldherrn1 bestimmt, der einen der ketzerischen Fürsten bekriegt, die dem Lama nicht unterworfen sind.“ — „Aber“, wandte ich ein, „man sagte mir doch, der Lama sei der Vater aller Christen? Auch soll er ja ein Diener des Friedens sein. Wie kann er dann den Rasenden, die sich bekriegen, Waffen in die Hände drücken?“ — „Allerdings kann er das,“ erwiderte der Portugiese, „denn die wahren Feinde jenes ketzerischen Königs haben dem Lama eingeredet, sie wollten die Ketzerei ausrotten und alle verirrten Völker in den Schoß der Kirche zurückführen. Überdies verdankt er den Feinden des Ketzers seine Erhebung auf den Papstthron, und so muß er ihnen wohl seine Dankbarkeit beweisen. Deshalb weiht er den Degen. Überdies hat er eine Art von Kreuzzug gegen den Ketzer gepredigt und zwingt alle Bonzen, die mit dessen Feinde, dem sogenannten Kaiser, zu tun haben, diesem einen Tribut zu zahlen, den man sonst nur für den Türkenkrieg erhebt.“


1 Feldmarschall Dann. Vgl. S. 115, Anm. I.