<123>

Unterdessen sah ich, wie der Lama ganz leise ein paar Worte murmelte und etliche hieroglyphische Zeichen machte, von denen ich nichts verstehen konnte. Dann nahm er einen Weihwedel, tauchte ihn in ein Wasserbecken und besprengte damit Hut und Degen. „Was ist das?“ fragte ich. — „Weihwasser“, entgegnete der Portugiese. „Das ist Wasser, mit etwas Salz und heiligem öle gemischt. Sobald Hut und Degen damit besprengt sind, bekommen sie ihren ganzen Wert und werden dem Feldherrn, der sie erhält, Weisheit, Glück und Sieg verleihen.“ — „Ach!“ rief ich aus, „warum hatten wir nicht solche Hüte und Degen, als die Tartaren unser Land eroberten! Der Feldherr wird also alles unterjochen?“ — „So hofft er“, sagte der andre. — „Aber wozu wird dieser Krieg denn geführt?“ fragte ich weiter. Er entgegnete: „Damit eine Nachbarmacht von Portugal einen Fisch fangen kann, den man in Amerika Stockfisch nennt, wird ein Fürst des Nordens bekriegt1“ — „Das ist aber doch unbegreiflich“, wandte ich ein. — „Die Erklärung des Zusammenhangs würde zu weit führen“, entgegnete jener. „Aber wissen Sie nicht, daß man Leute, die Kopfweh haben, an den Füßen zur Ader läßt?“ — „Und was haben Kopf und Füße mit der Politik zu tun? Halten Sie mich nicht zum besten, weil ich ein Chinese bin.“

Während wir so hin und her stritten, hatte der große Lama sich zurückgezogen. Wir ergingen uns noch in dem Tempel, um seine Schönheiten zu betrachten. Er ist zweifellos das schönste Denkmal des menschlichen Kunstfleißes. Während der Portugiese mich alle Einzelheiten bewundern ließ, trat ein Bonze, den er kannte, auf ihn zu und fragte ihn, wer ich sei. Als er erfuhr, daß ich ein Chinese wäre, musterte er mich aufmerksam und sagte mehrfach: „Er sieht fürwahr recht chinesisch aus.“ Da er aber merkte, daß ich etwas Italienisch verstand — ich habe es von den jesuitischen Geometern Deiner Herrlichkeit gelernt —, so sprach er mich an und fragte mich, ob ich getauft sei. Ich erwiderte, ich hätte nicht die Ehre. Dann fragte er weiter, ob ich nicht vielleicht Lust dazu hätte. „Nach allem, was ich gesehen und gehört habe,“ erwiderte ich, „weniger denn je.“ — „Ach, da sind Sie zu beklagen, mein lieber Herr“, erwiderte er. „Schade drum, aber Sie werden verdammt werden. Gottes Gnade hat Sie an die Stätte geführt, wo sie sich auf Sie ergießen könnte. Sie widerstehen ihr; Ihr Irrtum ist gewollt. Sie werden verdammt, mein Herr, verdammt!“ Ich gestattete mir die Frage, ob er glaubte, daß Konfutse das gleiche Schicksal erleiden würde. „Kann man daran zweifeln?“ entgegnete der Bonze. — „Ach!“ rief ich, „lieber will ich mit ihm verdammt sein, als mit Ihnen gerettet werden.“ Und wir trennten uns.

Du siehst, erhabner Kaiser, wie anders alle Dinge in Europa und in Asien sind. Religion, Regierung, Sitten und Politik, alles überrascht mich. Vieles erscheint


1 Der Anspruch Frankreichs auf den einträglichen Stockfischfang in Neufundland war einer der Streitpunkte, die zum französisch-englischen Koloniallrieg geführt hatten. Mit dem Ausbruch dieses Krieges erfolgte der allgemeine europäische Systemwechsel, es bildete sich die Koalition der Kaiserhöfe und Frankreichs, gegen die König Friedrich dann im Herbste 1756 zu Felde zog.