Schreiben Nicolinis an Franculoni, Prokurator von San Marco1
Aus dem Italienischen.
Konstantinopel, den 16. August 1769.
Seit unsrer Ankunft in Konsiantinopel waren wir mehreren recht peinlichen Szenen ausgesetzt. Die asiatischen Truppen, die auf dem Marsche nach der Donau durch die Hauptstadt rücken, meutern häufig, und bei dieser Art von Empörungen sind namentlich die Fremden allerlei Mißhandlungen ausgesetzt2. Die Regierung ist ohnmächtig, die zügellose Wildheit dieser barbarischen Horden zu unterdrücken, und oft geht es um Tod und Leben, wenn man ihnen zu seinem Unglück in den Weg kommt.
Dieser Tage schickte mich der Herr Botschafter in Geschäften zum Dragoman der Pforte. Nachdem wir das Geschäftliche erledigt hatten, kam das Gespräch unwillkürlich auf die Mißhandlungen, denen die Fremden in Konsiantinopel ausgesetzt sind. Auf meine Beschwerden antwortete der Dragoman: „Sie würden das weniger befremdlich finden, wenn Sie den Grund für die Erbitterung des Volkes kennten. Das Publikum ist nämlich überzeugt, daß wir mit den Moskowitern nur auf Anstiften eines großen europäischen Königs3 Krieg führen. Man flüstert sich ins Ohr, jener König habe beträchtliche Summen im Diwan ausgeteilt, um den Ausbruch dieses unseligen Krieges zu beschleunigen. Das Volk hält nun alle Fremden für Angehörige der Nation, der es an all seinem Unglück schuld gibt, und will sich an ihnen für das Waffenglück der Moskowiter rächen. Auch läuft ein dumpfes Gerücht um, selbst der“
1 Die obige im Frühjahr 1771 verfaßte Satire bezieht sich auf den Russisch-Türkischen Krieg, der Ende 1768 zum Ausbruch kam. In diesem Kriege standen den Russen die Türken und die vom römischkatholischen Klerus unterstützten polnischen Konföderierten gegenüber (vgl. dazu das satirische Epos „Der Konföderiertenkrieg“ in Bd. IX).
2 Beim Ausmarsch des Großwesirs aus Konsiantinopel im Frühiahr 1769 war der österreichische Gesandte mit seiner Familie von fanatischen Türken mißhandelt worden.
3 König Ludwig XV. von Frankreich.