„<13> sein System. Er glaubt zunächst blind an alles, was er beweisen will. Dann sucht er nach Gründen, die seinen Sätzen das Ansehen von Wahrscheinlichkeit geben, und daraus entspringt eine unerschöpfliche Quelle von Irrtümern. Gerade umgekehrt müßte er vorgehen. Mit Hilfe einer Anzahl von Beobachtungen müßte er von Folgerung zu Folgerung schreiten und bloß zusehen, wohin das führt und was daraus hervorgeht. Dann glaubte man ihm nicht so leicht, und indem man den behutsamen Schritten der Vorsicht folgt, lernte man weise zweifeln.“
„Sie müßten Engel zu Philosophen haben,“ versetzte Philant lebhaft; „denn welcher Mensch wäre vorurteilslos und völlig unparteiisch!“
„Mithin“, erwiderte ich, „ist der Irrtum unser Erbteil.“
„Behüte Gott!“ entgegnete mein Freund. „Wir sind für die Wahrheit geschaffen.“
„Ich will Ihnen gern das Gegenteil beweisen, wenn Sie mich geduldig anhören wollen“, sagte ich. „Und da wir hier nahe beim Hause sind, so lassen Sie uns auf dieser Bank Platz nehmen; denn ich glaube, der Spaziergang hat Sie ermüdet.“
Philant ist nicht gut zu Fuße und war mehr zur Zerstreuung und unwillkürlich, als mit Absicht spazieren gegangen. Er freute sich, jetzt sitzen zu können. Wir ließen uns ruhig nieder, und ich fuhr ungefähr so fort:
„Ich sagte Ihnen, Philant, der Irrtum sei unser Erbteil. Ich muß es Ihnen beweisen. Der Irrtum hat mehr als eine Quelle. Der Schöpfer scheint uns nicht dazu bestimmt zu haben, große Kenntnisse zu besitzen und im Reiche des Wissens große Fortschritte zu machen. Er hat die Wahrheiten in Abgründen verborgen, die unsre schwache Einsicht nicht durchforschen kann, und er hat sie mit einer dichten Dornenhecke umgeben. Der Weg der Wahrheit ist rings von Klüften eingefaßt. Man weiß nicht, welchen Pfad man einschlagen soll, um diese Gefahren zu meiden. Hat man sie dann glücklich überstanden, so gerät man in ein Labyrinth, in dem uns Ariadnes Wunderfaden nichts hilft und aus dem man nicht wieder herausfindet. Die einen laufen einem trügerischen Phantom nach, das sie mit seinem Blendwerk täuscht und ihnen statt guten Geldes falsche Münze gibt. Sie verirren sich gleich den Wanderern, die in der Dunkelheit Irrlichtern folgen, deren Schein sie verlockt. Andre erraten die verborgenen Wahrheiten und wähnen der Natur den Schleier abzureißen. Sie ergehen sich in Mutmaßungen, und man muß gestehen, daß die Philosophen in dem Lande große Eroberungen gemacht haben. Die Wahrheiten liegen uns so fern, daß sie zweifelhaft werden und just durch ihre Entfernung ein zweideutiges Ansehen erhalten. Fast keine Wahrheit ist unbestritten; denn es gibt keine, die nicht zwei Seiten hätte. Von der einen Seite gesehen scheint sie unumstößlich, von der andern ist sie der Irrtum selbst. Man nehme alles zusammen, was die Vernunft dafür und dagegen sagt, überlege, erörtere und erwäge es reiflich, und man wird nicht wissen, wofür man sich entscheiden soll. Das ist so wahr, daß nur die Zahl der Wahrscheinlichkeiten den Meinungen der Menschen Gewicht verleiht. Entgeht ihnen nur eine Wahrscheinlichkeit, die dafür oder dagegen spricht, so ergreifen sie den Irrtum, und da die“