<14> Vorstellungskraft ihnen das Für und Wider nie mit gleicher Stärke veranschaulichen kann, wird ihre Entscheidung stets durch Schwäche bestimmt, und die Wahrheit entzieht sich ihren Blicken.

„Gesetzt, eine Stadt läge in einer Ebene, wäre ziemlich lang und bestände nur aus einer Straße. Gesetzt, ein Reisender, der nie von dieser Stadt gehört hat, käme dahin und sähe sie in ihrer ganzen Länge. Er wird sie für ungeheuer halten, well er sie nur von einer Seite sieht, und sein UrteU wird grundfalsch sein, da wir ja wissen, daß sie nur aus einer Straße besieht. Ebenso geht es mit den Wahrheiten, weil wir sie nur stückweise betrachten und daraus auf das Ganze schließen. Die einzelnen Teile werden wir richtig beurteilen, aber über die Gesamtheit werden wir merklich irren. Um zur Erkenntnis einer allgemeinen Wahrheit zu gelangen, muß man sich zuvörderst einen Vorrat von Einzelwahrheiten geschaffen haben, die uns leiten oder als Stufen zur Erreichung der gesuchten zusammengesetzten Wahrheit dienen. Grade das fehlt uns. Ich rede nicht von Mutmaßungen, sondern von offenbaren, sicheren, unwiderruflichen Wahrheiten. Philosophisch genommen, kennen wir garnichts. Wir ahnen gewisse Wahrheiten, machen uns unklare Begriffe davon und bringen je nach unsren Sprachwerkzeugen gewisse Laute hervor, die wir als wissenschaftliche Ausdrücke bezeichnen. Ihr Schall befriedigt unser Ohr. Unser Geist glaubt sie zu erfassen, aber genau genommen bieten sie unsrer Vorstellungskraft nichts als wirre und unklare Begriffe. Unsre Philosophie ist also im Grunde nichts als die Gewohnheit, dunkle, uns unverständliche Ausdrücke zu brauchen, als ein tiefes Nachsinnen über Wirkungen, deren Ursachen uns völlig unbekannt und verborgen bleiben. Die klägliche Zusammenstellung solcher Träumereien wird mit dem schönen Namen „vortreffliche Philosophie“ beehrt, und der Verfasser preist sie mit der Prahlerei eines Marktschreiers als die seltenste, dem Menschengeschlecht nützlichste Entdeckung an. Die Wißbegier treibt uns zu näherem Eingehen auf diese Entdeckung, und wir glauben Tatsachen zu finden. Welch unbillige Erwartung! Nein! Die so seltene, so kostbare Entdeckung ist nichts als ein neugeprägtes Wort, das noch barbarischer ist als die alten. Dies Wort drückt nach der Behauptung unsres Marktschreiers eine bisher unbekannte Wahrheit vottrefflich aus und macht sie uns sonnenklar. Man sehe, prüfe und wickle seine Idee aus dem Wortgepränge, das sie umhüllt — und es bleibt nichts. Stets herrscht die gleiche Dunkelheit und Finsternis. Eine Theaterdekoration verschwindet, und das Blendwerk der Täuschung zerrinnt.

„Die echte Erkenntnis der Wahrheit muß ganz anders sein als die eben gezeichnete. Man müßte alle Ursachen angeben können, bis zu ihrem Ursprung zurückgehen, ihn kennen und sein Wesen entwickeln. Das fühlte Lukrez wohl, und darum sagte dieser Dichterphilosoph:“

Felix qui potuit rerum cognoscere causas.1


1 Glücklich preis' ich den Mann, der den Grund der Dinge erkannt hat. (Der Vers stammt nicht von Lukrez, sondern von Virgil, Georgica II, 490.)