<142> seinem Willen nicht gehorchte. Aber die Versuchung war so stark, daß sie ihr erlag. Sie nahm also den kleinen Schlüssel und öffnete zitternd die Tür des Gemaches. Erst sah sie gar nichts; denn die Fenster waren verschlossen. Doch alsbald erkannte sie, daß der Estrich ganz mit geronnenem Blute bedeckt war. Darin spiegelten sich die Leichen mehrerer Frauen, die an den Wänden hingen. Das waren alle die Frauen, die Blaubart gefreit und nacheinander ermordet hatte. Sie wäre vor Schreck fast gestorben, und der Schlüssel, den sie aus dem Schloß gezogen hatte, entfiel ihrer Hand. Als sie ein wenig zu Sinnen gekommen war, hob sie den Schlüssel auf, schloß die Tür wieder ab und ging in ihr Zimmer, um sich etwas zu erholen. Doch das gelang ihr nicht, so erregt war sie. Da sie bemerkt hatte, daß der Schlüssel der Kammer mit Blut besteckt war, wischte sie ihn zwei-, dreimal ab, aber das Blut wollte nicht weichen. Umsonst wusch sie ihn und scheuerte ihn gar mit Sand; die Blutspuren gingen nicht ab. Der Schlüssel war nämlich verzaubert und ließ sich nicht völlig reinigen. Verschwand das Blut auf der einen Seite, so kam es auf der andren wieder zum Vorschein.
Noch am selben Abend kehrte Blaubart von seiner Reise heim. Wie er sagte, hatte er unterwegs Briefe erhalten, laut deren das Geschäft, dessentwegen er die Reise angetreten, zu seinen Gunsten erledigt sei. Seine Frau tat, was sie konnte, um ihm ihr Entzücken über seine rasche Heimkehr zu bezeugen. Am nächsten Tage verlangte er die Schlüssel zurück. Sie gab sie ihm, aber mit so zitternden Händen, daß er ohne Mühe erriet, was geschehen war. „Warum“, fragte er, „ist der Schlüssel zur Kammer nicht bei den anderen?“ — „Ich habe ihn wohl oben auf dem Tisch liegen lassen.“ — „Unterlaß nicht, ihn mir bald zu geben“, sprach Blaubart. Nach mehrfachem Aufschub mußte sie ihm den Schlüssel bringen. Blaubart betrachtete ihn und fragte seine Frau: „Warum ist Blut an diesem Schlüssel?“ — „Ich weiß es nicht“, antwortete die Ärmste, bleicher als der Tod. — „Du weißt es nicht?“ wiederholte Blaubart. „Ich aber weiß es. Du wolltest die Kammer betreten. Wohlan, Madame, Sie sollen sie betreten und Ihren Platz neben den Frauen einnehmen, die Sie dort sahen.“ Sie warf sich ihrem Gatten zu Füßen, weinte und flehte ihn um Verzeihung an, mit allen Zeichen ehrlicher Reue ob ihres Ungehorsams. Sie hätte einen Tiger gerührt, so schön war sie in ihrer Betrübnis, aber Blaubarts Herz war härter denn Stein. „Sie müssen sterben, Madame,“ sprach er, „und das sogleich.“ — „Da ich denn sterben muß,“ antwortete sie mit tränenerfülltem Blick, „so gebt mir wenigstens eine Frist, um zu beten.“ — „Ich gebe Ihnen eine halbe Viertelstunde,“ erwiderte Blaubart, „aber keinen Augenblick mehr.“
Als sie allein war, rief sie ihre Schwester und sprach: „Schwester Anna,“ — so hieß sie — „ich bitte Dich, steige auf den Turm und schau aus, ob meine Brüder nicht kommen. Sie haben mir versprechen, mich heute zu besuchen. Siehst Du sie, so winke ihnen, sich zu eilen!“ Schwester Anna stieg auf den Turm, und die arme Schmerzensreiche rief ihr von Zeit zu Zeit zu: „Anna, Schwester Anna, siehst Du nichts nahen?“ Aber ihre Schwester Anna beschied sie: „Ich sehe nichts als die Sonne, die durch den Staub scheint, und das grünende Gras.“ Da schrie Blaubart, ein großes Messer schwingend, seinem Weibe aus voller Kehle zu: „Komm herab oder ich steige hinauf!“ — „Noch ein kleines Weilchen, bitte“, antwortete sie, und sofort rief sie ganz leise: „Anna, Schwester Anna, siehst Du nichts nahen?“ Aber Schwester Anna beschied sie: „Ich sehe nichts als die Sonne, die durch den Staub scheint, und das grünende Gras.“ — „Komm rasch herab,“ schrie Blaubart, „oder ich steige hinauf!“ — „Ich komme schon“, antwortete die junge Frau. Dann schrie sie: „Anna, Schwester Anna, siehst Du nichts nahen?“ Und Schwester Anna beschied sie: „Ich sehe eine große Staubwolke daherkommen.“ — „Sind's nicht meine Brüder?“ — „Ach nein, Schwester, es ist eine Schafherde.“ — „Willst Du nicht herablommen?“ schrie Blaubart. „Noch ein kleines Weilchen“, bat seine Frau. Dann rief sie: „Anna, Schwester Anna, siehst Du nichts nahen?“ — „Ich sehe“, beschied jene, „zwei Reiter daherkommen, aber sie sind noch weit fort.“ — „Gelobt sei Gott!“ rief sie kurz darauf. „Es sind meine Brüder. So gut ich vermag, winke ich ihnen, sich zu eilen.“ Blaubart begann so laut zu schreien, daß das ganze Haus erzitterte. Die Ärmste stieg hinab und warf sich, in Tränen gebadet und mit aufgelöstem Haar ihrem Gatten zu Füßen. „Was soll das?“ sprach Blaubart. „Du mußt sterben.“ Dann packte er sie mit einer Hand bei den Haaren und mit der andren zückte er das Messer, um ihr den Kopf abzuschneiden. Die Ärmste wandte ihm das Antlitz zu, blickte ihn mit brechenden Augen an und bat ihn, ihr noch ein kleines Weilchen zu vergönnen, um sich zu sammeln. „Nein, nein“, rief er, „empfiehl Deine Seele Gott!“ und erhob seinen Arm... In dem Augenblick ward so stark an die