Predigt über das Jüngste Gericht (1759)1
Teure Gemeinde!
Bin ich je mit Worten des Heils und des Friedens vor Euch getreten, habe ich je die Pflichten meines heiligen Amtes erfüllt und je Eure Aufmerksamkeit verdient, dann geschieht es heute, wo ich Euch die wichtigsten Dinge vorzutragen habe, von denen nicht die Freuden eines vergänglichen Daseins abhängen, nicht die Befriedigung eitlen Stolzes oder niederen Eigennutzes, Gebäude, die eine Laune des Glückes bald aufrichtet, bald niederreißt; sondern ich rede von einem dauernden, ewigen Gut, gegen das der Neid nichts vermag, an dem Ränke und Listen zuschanden werden, das alle Macht und Herrschaft der Erde, so weit sie auch reiche, nicht wandeln, vermindern und rauben kann.
O Gott! Verleihe gnädig meinen Worten Kraft, daß sie treffen, rühren, meiner Gemeinde zu Herzen dringen! Sei meine Zunge, die Dein Wort verkündet, gleich dem scharfen Schwerte, das die schlimmen Wurzeln der Sünde aus ihren Seelen schneidet! Gib mir, daß ich die einen durch die Bande Deines unendlichen Erbarmens fessele und die andren durch die Furcht vor den schrecklichen Strafen zu Boden schlage, mit denen Du, gerechter Gott, alle triffst, die Deine heiligen Gesetze übertreten.
Denkt daran, teure Andächtige, in jeder Stunde Eures Lebens, bevor Ihr das Geringste unternehmt, im Glück wie im Unglück, ob Ihr allein in stiller Sammlung seid oder in Gesellschaft und in weltlichen Zerstreuungen, vor allem aber in den gefährlichen und verhängnisvollen Augenblicken, da die Macht der Leidenschaften den Zügel der Vernunft zu zerreißen droht: — es ist ein Tag, da Gott kommen wird in all seiner Herrlichkeit, zu richten die Lebendigen und die Toten! Ich verkündige Euch einen heiligen, rächenden Gott, der da strafen wird die schlaffen Seelen, die ihn mißachtet oder verkannt haben, die verhärteten Herzen, die semer gespottet und ihn beleidigt haben, die betörten Sterblichen, die sich vor Strafe sicher gewähnt hinter dem Schutzwall undurchdringlichen Geheimnisses, mit dem sie die schwarzen Lasier ihrer Seele umgaben. Aber da ist kein Erbarmen! Er züchtigt den stechen Mut der Gottlosen, die seiner Macht Trotz bieten, deren Leben nichts ist als eine Kette
1 Angeregt durch die Lektüre der „Oraisons funèbres“ von Bossuet und Fléchier, hat der König die obige Predigt im Herbst 1757 begonnen und im Januar 1759 vollendet.