„<16>fahrt ihrer Familie. Sie werden sich leicht sagen können, daß die Logik dieser Art Menschen zu ihrer Philosophie paßt. Sie ist denn auch erbärmlich. Ihre ganze Dialektik besieht darin, daß sie allein das Wort führen, über alles selbst entscheiden und keinen Einwand dulden. Diese kleinen Hausgesetzgeber sind von Anfang an darauf erpicht, ihren Sprößlingen ihre eignen Ideen einzuprägen. Eltern und Verwandte streben nach Verewigung ihrer Irrtümer. Kaum verläßt das Kind seine Wiege, so ist man schon bemüht, ihm einen Begriff vom Knecht Ruprecht und vom Werwolf zu geben. Auf diese schönen Lehren folgen dann gewöhnlich andre von gleichem Werte. Die Schule trägt das ihre dazu bei. Man wird von den Visionen Platos zu denen des Aristoteles geführt. Dann wird man mit einemmal in die Geheimnisse der Descartesschen Wirbeltheorie eingeweiht. So verläßt man die Schule. Das Gedächtnis ist mit Worten belastet, der Geist voller abergläubischer Vorurteile und voller Ehrfurcht vor alten Hirngespinsien. Das vernünftige Alter kommt. Entweder schüttelt man das Joch des Irrtums ab oder man überbietet die Eltern noch. Waren sie einäugig, so wird man selbst blind. Haben sie gewisse Dinge geglaubt, weil sie sich einbildeten, sie zu glauben, so glaubt man sie nun aus Starrsinn. Dazu kommt noch das Beispiel so vieler, die zäh an einer Meinung hängen. Ihr Beifall besitzt für uns hinreichende Autorität; ihre große Zahl fällt in die Wagschale. Der im Volk verbreitete Irrtum macht Proselyten und feiert Triumphe. Schließlich werden die eingewurzelten Vorurteile durch die Zeitdauer riesengroß. Denken Sie sich einen jungen Baum, dessen dünner Stamm sich vor der Gewalt der Winde biegt. Er wächst und erstarkt, bietet mit seinem stolzen Wipfel den Wolken Trotz und setzt der Axt des Holzfällers einen unerschütterlichen Stamm entgegen. „Wie!“ sagt man. „So hat mein Vater gedacht, und seit sechzig, siebzig Jahren denke ich ebenso. Mit welchem Rechte kannst du verlangen, daß ich mein Denken jetzt ändere? Soll ich etwa wieder zum Schüler werden und mich von dir gängeln lassen? Laß ab! Ich will lieber auf der allgemeinen Heerstraße dahinschleichen, als mich mit dir wie ein neuer Ikarus in die Lüfte schwingen. Denke an seinen Sturz! Das ist der Lohn für die neuen Lehren, die Strafe, die deiner harrt!“ Oft tritt zum Vorurteil noch Starrsinn, und eine gewisse Barbarei, die man falschen Eifer nennt, stellt unfehlbar ihre tyrannischen Grundsätze auf.
„Das sind die Wirkungen der vorgefaßten Meinungen der Kindheit. Bei der Aufnahmefähigkeit des Gehirns in jenem zarten Alter schlagen sie um so tiefer Wurzel. Die ersten Eindrücke sind die lebhaftesten. Alle Urteilskraft erscheint dagegen nur schwach.
„Sie sehen also, lieber Philant, der Irrtum ist das Erbteil der Menschheit. Nach allen meinen Ausführungen werden Sie gewiß begreifen, daß man von seinen Ansichten sehr aufgeblasen sein muß, um sich über den Irrtum erhaben zu wähnen, und daß man selbst sehr fest im Sattel sitzen muß, will man es wagen, andre aus dem Sattel zu heben.“