Da zerteilte sich eine Wolke vor meinen Blicken, und ich sah alles, was je war, ist und sein wird. Die Stadt schien mir voller Aufruhr. Ströme von Blut flossen, und jeder Aufstand endigte mit Vertreibung etlicher Familien. Der Geist nannte mir die Namen der Verbannten. Die einen hießen Nestorianer, die andren Arianer, wieder andre Manichäer. Bei diesen einschläfernden Namen fielen mir die Augen zu. „Aber warum vertreibt man sie denn?“ fragte ich. — „Sie sehen nicht wie die übrigen, sondern anders.“ — „Sehen sie besser?“ fragte ich. — „Nein,“ erwiderte der Geist, „sie sind schielend, einäugig oder blind. Aber auf andre Weise als die Einwohner der Verruchten.“
Da erblickte ich Kriegsleute mit verbrämten Mützen; sie waren gerüstet und gewappnet mit Argumenten und zogen Ballisten und Katapulte hinter sich her. Die hießen in barbara, dario, celarent und in ferio1. Und ich fragte: „Was ist das?“ Und der Geist antwortete: „Große Kämpfe stehen bevor. O Verruchte, wieviel Feinde hast du! Du verdienst sie! Die auf dich eindringen, sind die Vorposten der Vernunft. Sie haben kein Heer hinter sich, sie werden nur gegen dich plänkeln, und du wirst sie verdammen! Siehst du jenen Helden? Das ist Gottschalk2. Du wirst sehen, wie sie ihn behandeln. Der dort nennt sich Valla3. Dies ist Berengar4, der dort ist Waldus5; er reißt eine kleine Bresche in die Mauer. Der dort, der stolzer Gekleidete, das ist der berühmte De Vinea6. Ihn wird man fälschlich beschuldigen, Pfeile geschossen zu haben. Der dort heißt Gerson7 und wird seine Tapferkeit beweisen. Dies ist der berühmte Sarpi, auch Fra Paolo genannt8, der Feind der Herrschaft und des Herrschers der Verruchten. Siehst du, wie er sie angreift?“ Nachdem das Geplänkel vorüber war, sah ich Scheiterhaufen errichten, und ich wandte den Blick ab; denn die Verruchte hatte eine starke Prätorianergarde von Henkersknechten; und wer die Gewalt in Händen hat, der besitzt von jeher und bis an das Ende der Zeiten eins der bündigsten Argumente, um recht zu behalten.
Da kam ein andrer Held daher. „Oh, den glaube ich zu kennen“, sprach ich. „Ich sah ihn in Rotterdam. Ist's nicht Erasmus?“ — „Ganz recht“, antwortete der Geist. „Doch er plänkelt nur in der frommen Vorstadt der Pediculosi9. Man schont ihn;“
1 In der älteren Logik gebräuchliche Formeln für Vernunftschlüsse.
2 Der Mönch Gottschall von Orbais († 868), Anhänger der Augustinischen Prädesiinationslehre, 848 als Ketzer zu lebenslänglichem Kerker verurteilt.
3 Laurentius Valla (1407—1465), Humanist und päpstlicher Sekretär, behauptete zuerst die Unechtheit der Konstantinischen Schenkung.
4 Berengar von Tours († 1080), Scholastiker, focht die Transsubstantiationslehre an.
5 Petrus Waldus oder Valdez, der Gründer des Waldenserordens (nach 1170).
6 Petrus de Vinea († 1249), Kanzler des Hohenstaufenkaisers Friedrich II.,. von der Kirche exkommuniziert, 1249 als Hochverräter verhaftet und geblendet.
7 Jean Charlier de Gerson (1363—1429), Kanzler der Universität Paris, in Pisa und Konstanz Verfechter de.- Lehre der Präeminenz der Konzile vor dem Papste.
8 Fra Paolo Sarpi (1552—1625), italienische: Historiker, Verfasser der „Geschichte des Tridentiner Konzils“ (1619).
9 Anspielung auf die Schrift Voltaires: „Instruction du gardien des Capucins de Raguse à frère Pédiculoso partant pour la terre sainte.“