<18> die mir erzählt wurde. Vielleicht wird sie Sie für meine lange, lehrhafte Erörterung schadlos halten.“

„Mein Stillschweigen“, entgegnete Philant, „zeigt Ihnen zur Genüge, daß ich Ihnen mit Vergnügen zuhöre. Ich bin begierig, Ihre Geschichte zu erfahren.“

„Ich will Ihre Neugier befriedigen, Philant. Aber Sie dürfen es dann nicht bereuen, mich zum Plaudern gereizt zu haben. Im Irrenhause zu Paris war also ein Mann von vornehmer Geburt, der alle seine Verwandten durch seine Geisteszerrüttung in tiefe Betrübnis versetzte. Er dachte über alles vernünftig, ausgenommen über seine Seligkeit. Er glaubte sich in Gesellschaft von lauter Cherubimen, Seraphimen und Erzengeln, sang den ganzen Tag im Konzert dieser unsterblichen Geister und wurde mit beseligenden Visionen beehrt. Das Paradies war sein Aufenthalt, die Engel seine Gefährten, das himmlische Manna seine Speise. Dieser glückliche Narr genoß im Irrenhause ein vollkommenes Glück — bis zu seinem Unglück ein Arzt oder Wundarzt die Geisteskranken besuchte. Der Arzt erbot sich der Familie gegenüber, den Seligen zu heilen. Sie können sich denken, daß man ihm alles mögliche versprach, wenn er seine ganze Kunst aufböte und womöglich Wunder täte. Genug! Um es kurz zu machen: es gelang dem Arzte durch Aderlässe oder andre Mittel, den Kranken wieder in den Vollbesitz seines gesunden Verstandes zu bringen. Er war tief erstaunt, sich nicht mehr im Himmel, sondern an einem Orte zu finden, der dem Gefängnis sehr ähnlich sah, und in einer Gesellschaft, die nichts Engelhaftes hatte. Er war wütend auf den Arzt. 'Ich fühlte mich wohl im Himmel', sagte er zu ihm. 'Sie hatten kein Recht, mich herunterzuholen. Zu Ihrer Strafe wünschte ich Ihnen, Sie würden verdammt und kämen leibhaftig in die Hölle1.' Sie sehen daraus, Philant, daß es beseligende Irrtümer gibt. Es wird mir nicht schwer fallen, Ihnen zu zeigen, daß sie auch unschuldig sind.“

„Das soll mir recht sein“, erwiderte er. „Da wir spät zu Nacht essen, haben wir noch mindestens drei Stunden vor uns.“

„Soviel“, entgegnete ich, „brauche ich nicht für das, was ich Ihnen zu sagen habe. Ich werde mit meiner Zeit und mit Ihrer Geduld sparsam umgehen. Sie gaben mir vorhin zu, daß der Irrtum bei den darin Befangenen unfreiwillig sei. Sie wähnen sich im Besitz der Wahrheit und täuschen sich doch. Sie sind in der Tat entschuldbar; denn nach ihrer Meinung haben sie die Wahrheit. Sie gehen ehrlich zu Werke, aber der Schein trügt sie; sie halten den Schatten für den Körper selbst. Bedenken Sie bitte ferner, daß sie aus einem löblichen Beweggrund in Irrtum versunken sind. Sie suchten die Wahrheit, verirrten sich aber auf dem Wege, und wenn sie sie auch nicht fanden, so besaßen sie doch wenigstens den guten Willen. Sie hatten keine, oder was noch schlimmer ist, schlechte Führer. Sie suchten den Weg zur Wahrheit, aber ihre Kräfte versagten vor dem Ziele. Kann man einen Menschen verur-


1 Vgl. Bd. VII, S. 241.