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Gedächtnisrede auf La Mettrie
Gelesen in der Akademie am 19. Januar 1752

Julien Offray de La Mettrie wurde am 25. Dezember 1709 in St. Malo geboren, als Sohn des Julien Offray de La Mettrie und der Marie Gaudron. Sein Vater war Großkaufmann und konnte seinem Sohne eine gute Erziehung zu, teil werden lassen. Dieser erhielt seine erste Schulbildung im College von Coutances, kam dann nach Paris ins College Duplessis und machte die Klasse für Rhetorik in Caen durch, wo er dank seiner großen Begabung und Einbildungskraft alle Preise gewann. Er war ein geborener Redner, ein leidenschaftlicher Verehrer der Dicht, tunst und der schönen Wissenschaften. Aber sein Vater meinte, ein Priester brächte es weiter als ein Poet, und bestimmte ihn zur geistlichen Laufbahn. Im folgenden Jahre sandte er ihn wieder nach Paris ins College Duplessis, wo er seine Logik unter Herrn Cordler absolvierte, der mehr Iansenist als Logiker war1.

Es ist ein Zeichen glühender Einbildungskraft, die Dinge der Vorstellung kraft, voll zu erfassen, wie es ein Zeichen der Jugend ist, die ersten ihr eingeprägten Meinungen als Evangelium zu betrachten. Jeder andre Schüler hätte sich die Ansichten seines Lehrers zu eigen gemacht. Das aber genügte dem jungen La Mettrie nicht. Er wurde Jansenist und schrieb ein Werk, das bei jener Partei begeisterte Aufnahme fand.

Im Jahre 1725 studierte er Physik im College Harcourt, wo er große Fortschritte machte. Als er nach St. Malo zurückgekehrt war, riet ihm der dortige Arzt Hunauld2, Mediziner zu werden. Man überredete den Vater, seine Zustimmung zu geben, indem man ihm versicherte, die Arzneien eines mäßigen Arztes brächten mehr ein als die Absolutionen eines guten Priesters. Der junge La Mettrie studierte zunächst Anatomie, sezierte zwei Winter lang und erwarb sich 1728 in Rheims den Doktorhut und das Diplom als Arzt.

Im Jahre 1733 ging er nach Leiden, um unter dem berühmten Boerhave3 zu studieren. Der Lehrer war des Schülers würdig; bald machte sich auch der Schüler


1 Die HJansenisten, Anhänger des niederländischen Theologen Cornelius Jansen (1585—1638), wurden vom Papst 1719 in den Bann getan.

2 François Joseph Hunauld (1701—1742), berühmter Anatom.

3 Vgl. S. 81.