<236> Bereiche des menschlichen Geistes liegen, knüpfte die Bande ihrer Freundschaft unlöslich. Sofort gab Frau von Chatelet die „Theodicee“ von Leibniz und die geistvollen Phantasiegebilde dieses Philosophen1 auf, um an ihrer Statt die vorsichtige und besonnene Methode Lockes anzunehmen, die weniger die heftige Wißbegier als die strenge Vernunft befriedigte. Sie lernte so viel Mathematik, um Newton in seinen abstrakten Berechnungen folgen zu können. Ja, ihr Fleiß war so beharrlich, daß sie einen Auszug seines Systems zum Gebrauch ihres Sohnes verfaßte2. Cirey wurde bald die philosophische Zufluchtsstätte beider Freunde. Dort schrieben sie jeder für sich Werke verschiedener Art, die sie sich mitteilten, indem sie sich bemühten, ihren Erzeugnissen durch gegenseitige Kritik den höchsten erreichbaren Grad von Vollkommenheit zu geben. Dort entstanden „Zaire“ (1732), „Alzire“ (1734/36), „Mérope“ (1737), „Sémiramis“ (1748), „Catilina“ (1749), „Électre ou Oreste“ (1749).
Voltaire, dessen Tätigkeit alles umfaßte, beschränkte sich nicht allein auf das Ver, gnügen, das Theater durch seine Tragödien zu bereichern. Er verfaßte eigens für den Gebrauch der Marquise von Chatelet seinen „Essai sur l'histoire universelle“3. Das „Zeitalter Ludwigs XIV.“4 und die „Geschichte Karls XII.“5 waren bereits erschienen.
Einen so genialen Schriftsteller, der ebenso vielseitig wie korrekt war, ließ die französische Akademie sich nicht entgehen. Sie forderte ihn als ein ihr gehöriges Eigentum. Er wurde Mitglied dieser erlauchten Körperschaft (1746) und eine ihrer schönsten Zierden. Auch Ludwig XV. zeichnete ihn aus, indem er ihn zum Kammer, Herrn (1746) und zum Historiographen Frankreichs (1745) ernannte, was er eigentlich durch seine Geschichte Ludwigs XIV. schon war.
Obwohl Voltaire für so glänzende Ehrungen empfänglich war, sprach das Gefühl der Freundschaft doch noch stärker in ihm. Unauflöslich mit Frau von Chatelet verbunden, ließ er sich durch den Glanz eines großen Hofes nicht blenden und zog den Aufenthalt in Luneville6, mehr noch die ländliche Abgeschiedenheit von Cirey der Pracht von Versailles vor. Dort genossen beide Freunde friedlich das den Menschen zugemessene Glück, bis der Tod der Marquise von Chatelet (10. September 1749) ihrem schönen Bund ein Ziel setzte. Das war ein furchtbarer Schlag für Voltaires Zartgefühl. Er mußte seine ganze Philosophie zu Hilfe rufen, um ihm zu widerstehen.
1 Vgl. S. 40 f. 90. 96.
2 „Les principes de Newton.“
3 Die erste Fassung des „Essai sur les mœurs et l'esprit des nations“. Das Werk erschien ohne Wissen und Wollen Voltaires 1753 in Berlin und Holland unter dem Titel „Abrégé de l'histoire universelle“. Erst 1769 gab Voltaire es in der endgültigen Gestalt unter dem Titel „Essai“ usw. heraus.
4 „Le Siècle de Louis XIV“, Berlin 1751, 2 Bände.
5 „Histoire de Charles XII“, 1731.
6 In Luneville residierte König Stanislaus Leszczynski, Ludwigs XV. Schwiegervater, nach seinem Verzicht auf die polnische Krone (1735).