<239> daß der Zauber der Dichtung jeden Gegenstand zu veredeln vermag. Voltaire war der einzige, der mit seiner Dichtung unzufrieden war. Er fand, sein Held hätte weniger große Gefahren zu bestehen als Äneas und könne darum nicht so fesseln wie dieser, der aus einer Gefahr stets in die nächste gerät.
Prüft man ebenso unparteiisch die Tragödien Voltaires, so wird man zugeben, daß er hier und da Racine übertrifft, an andrer Stelle aber hinter dem berühmten Dramatiker zurücksieht. Sein erstes Theaterstück war „Ödipus“. Seine Phantasie war damals erfüllt von den Schönheiten des Sophokles und Euripides, und sein Gedächtnis gemahnte ihn fortwährend an die flüssige Eleganz Racines. Dank diesem doppelten Vorzug wirkte sein Stück auf der Bühne als Meisterwerk. Einige wohl zu strenge Kritiker fanden daran zu tadeln, daß die fast erloschene Leidenschaft der alten Jokaste in Gegenwart des Philoktet wieder aufflammt. Hätte der Dichter aber die Rolle des Philottet beschnitten, so hätte er uns die Freude an den Schönheilen genommen, die der Gegensatz zwischen dem Charakter des Philottet und des Ödipus zeitigt. Seinen „Brutus“ hielt man für passender auf der Londoner als auf der Pariser Bühne; denn in Frankreich wird ein Vater, der seinen Sohn kalt, blutig zum Tode verurteilt, als Barbar gelten, während in England ein Konsul, der sein eignes Fleisch und Blut der Freiheit des Vaterlandes opfert, als Gott an, gesehen wird. Seine „Mariamne“ und eine Anzahl andrer Stücke zeugen noch für die Kunst und die Fruchtbarkeit seines Schaffens. Jedoch darf man sich nicht verhehlen, daß manche, vielleicht zu strenge Kritiker unsrem Dichter vorwerfen, der Bau seiner Tragödien reiche an die Natürlichkeit und Wahrscheinlichkeit der Racineschen nicht heran. Bei der Aufführung von „Iphigenie“, „Phädra“ und „Athalie“, sagen sie, entwickelt sich die Handlung ungezwungen vor unsren Augen, wogegen man sich bei der Aufführung der „Zaire“ über die Wahrscheinlichkeit hinwegsetzen und gewisse auffällige Fehler übersehen muß. Der zweite Akt fällt nach ihrer Meinung aus dem Ganzen heraus. Man muß das Geschwätz des alten Lusignan über sich ergehen lassen, der in seinen Palast zurückgekehrt ist, aber nicht weiß, wo er sich befindet, und von seinen früheren Waffentaten spricht, wie ein Oberstleutnant vom Regiment Navarra, der Gouverneur von Péronne geworden ist. Man weiß nicht recht, wie er seine Kinder wiedererkennt. Um seine Tochter zum Christentum zu bekehren, erzählt er ihr, sie sei auf dem Berge, wo Abraham seinen Sohn Isaak dem Herrn opferte oder opfern wollte. Er redet ihr zu, sich taufen zu lassen, nachdem Chatillon bezeugt hat, daß er sie selbst getauft habe — und das ist der Knoten des Stückes! Nach dieser kalten und matten Handlung stirbt Lusignan am Schlagfluß, ohne daß irgend jemand an seinem Schicksal Anteil nimmt. Da die Handlung des Stückes einen Priester und ein Sakrament nötig machte, hätte die Taufe wohl durch die Kommunion ersetzt werden können. So begründet aber auch diese Einwendungen sein mögen, man verliert sie im fünften Akt aus den Augen: das Interesse, die Furcht und das Mitleid, die der große Dichter so meisterlich zu erregen weiß, reißen