<240> den Zuschauer hin, und von gewaltigen Leidenschaften erschüttert, vergißt er über so großen Schönheiten kleine Mängel. Man wird also einräumen, daß Racine den Vorzug größerer Natürlichkeit und Wahrscheinlichkeit im Bau seiner Dramen hat, daß in seiner Versgestaltung eine ununterbrochene Eleganz, Weichheit und Flüssigkeit herrscht, die bis jetzt kein Dichter annähernd erreicht hat. Andrerseits muß man zu, geben, daß Voltaire, von einigen epischen Breiten in seinen Stücken und vom fünften Akt seines „Catilina“ abgesehen, die Spannung von Szene zu Szene, von Aufzug zu Aufzug bis zur Katastrophe kunstvoll zu steigern versieht, und das ist der Gipfel der Kunst.

Sein Universalgenie umfaßte jede Kunstart. Nachdem er es mit Birgit auf, genommen und ihn vielleicht übertroffen hatte, wollte er sich mit Ariost messen. Er verfaßte die „Pucelle“ im Stil des „Rasenden Roland“, jedoch ohne ihn nachzuahmen. Die Fabel, die Wundergeschichten, die Episoden — alles darin ist Original, alles atmet die Heiterkeit einer glänzenden Einbildungskraft.

Seine Gesellschaftsgedichte bildeten das Entzücken aller Leute von Geschmack. Der Verfasser selbst gab nicht viel darauf, wiewohl weder Anakreon, noch Horaz,. Ovid und Tibull, noch die andren Schöngeister des Altertums uns irgend ein Muster in dieser Gattung hinterlassen haben, das er nicht erreicht hätte. Sein Geist gebar diese Werke mühelos; das befriedigte ihn nicht. Er glaubte, ein wohlverdienter Ruf müsse durch Überwindung der größten Hindernisse erworben werden.

Nachdem wir in Kürze die Talente des Dichters aufgezählt haben, gehen wir zu denen des Historikers über. Die „Geschichte Karls XII.“ (1731) war sein erstes Geschichtswerk. Er wurde der Quintus Curtius dieses Alexanders1. Die Blumen, die er über seinen Stoff ausstreut, verändern die Grundlage der Wahrheit nicht. In den leuchtendsten Farben malt er die glänzende Tapferkeit des nordischen Helden, seine Festigkeit bei manchen Gelegenheiten, seinen Starrsinn bei andren, sein Glück und Unglück. Nachdem er seine Kräfte an Karl XII. versucht hatte, wagte er sich an die Geschichte des „Zeitalters Ludwigs XIV.“ (1751). Hier finden wir nicht mehr den romanhaften Stil des Quintus Curtius, sondern den Stil des Cicero, dessen Rede Pro lege Manilia2 zur Lobrede auf Pompejus wird. Als Franzose hebt er mit Begeisierung die berühmten Ereignisse jenes großen Zeitalters hervor und setzt die Vorzüge ins hellste Licht, die seinem Volke damals das Übergewicht über die andren Nationen gaben: die Fülle großer Geister, die unter der Regierung Ludwigs XIV. erstanden, die Herrschaft der Künste und Wissenschaften unter dem Schutze eines so glänzenden Hofes, die Fortschritte des Gewerbfieißes aller Art und die innere Kraft Frankreichs, die den König gleichsam zum Schiedsrichter Europas machte. Dies einzig dastehende Werk mußte Voltaire die Zuneigung und Dankbarkeit des ganzen französischen Volkes erwerben, dem er mehr Ansehen verschaffte als irgend ein andrer


1 Vgl. Bd. VII, S. 33.

2 Vgl. S. 182.