<245>zigen Zug für sich, er verdiente unter die kleine Zahl der wahren Wohltäter der Menschheit versetzt zu werden. Philosophie und Religion lehren also übereinstimmend den Weg der Tugend. Urteilen Sie selbst, wer christlicher ist, die Behörde, die eine Familie grausam aus dem Vaterlande stößt, oder der Philosoph, der sie aufnimmt und unterstützt? Der Richter, der mit dem Schwert der Gerechtigkeit einen Unbesonnenen mordet, oder der Weise, der das Leben des Jünglings retten will, um ihn zu bessern, der Henker des Calas oder der Beschützer seiner verzweifelten Familie? Solche Züge werden das Andenken Voltaires für ewig allen denen teuer machen, die mit gefühlvollem Herzen geboren sind und am Los ihrer Mitmenschen Anteil nehmen. Wie köstlich die Gaben des Geistes und der Einbildungskraft auch seien, wie hoch der Genius stiegen, wie umfassend die Kenntnisse sein mögen — diese Geschenke, die die Natur nur selten in Fülle austeilt, erheben uns doch nie über Taten der Menschenliebe und Wohltätigkeit. Jene werden bewundert, diese aber werden verehrt und gesegnet.

Wie schwer es mir auch wird, meine Herren, mich für immer von Voltaire zu trennen, ich fühle doch den Augenblick nahen, wo ich den Schmerz erneuern muß, den sein Verlust Ihnen verursacht. Wir haben ihn ruhig in Ferney gelassen. Geldgeschäfte riefen ihn nach Paris, wo er noch zeitig genug einzutreffen hoffte, um den Rest seines Vermögens aus einem Bankrott zu retten, in den er verwickelt war. Er wollte nicht mit leeren Händen in sein Vaterland zurückkehren. Indem er seine Zeit abwechselnd in den Dienst der Philosophie und der schönen Wissenschaften stellte, brachte er eine Fülle von Werken hervor und hatte stets einige in Vorrat. Da er eine neue Tragödie „Irene“ verfaßt hatte, wollte er sie in Paris aufführen lassen. Er pflegte seine Stücke der strengsten Kritik zu unterwerfen, bevor er sie an die Öffentlichkeit brachte. Diesem Grundsatz getreu, beriet er sich in Paris mit allen ihm bekannten Leuten von Geschmack und opferte eitle Eigenliebe dem Wunsche, seine Werke des Nachruhms würdig zu machen. Gelehrig folgte er den klugen Ratschlägen, die man ihm erteilte, und mit einzig dastehendem Feuereifer ging er an die Verbesserung seiner Tragödie. Ganze Nächte verbrachte er mit ihrer Umarbeitung. Sei es nun, um den Schlaf zu verscheuchen oder seine Sinne zu beleben, er genoß unmäßig viel Kaffee: fünfzig Tassen täglich reichten kaum hin1. Dies Getränt setzte sein Blut in heftige Wallung und erhitzte es derart, daß er zur Beschwichtigung des Fiebers Opium nahm, und zwar in so starten Dosen, daß es, statt sein Übel zu lindern, sein Ende beschleunigte. Bald nach diesem mit so wenig Vorsicht angewandten Mittel stellte sich eine Art Lähmung ein, dann ein Schlagfiuß, der seinem Leben ein Ende machte.

Obgleich Voltaire von zarter Konstitution und seine Natur durch Kummer, Sorgen und anstrengende Arbeit geschwächt war, erreichte er doch ein Alter von


1 D'Alembert, aus dessen Berichten der König die Darstellung von Voltaires Tobe schöpft, spricht nur von „viel Kaffee“.