<260>nehmen — warum nicht lieber die trefflichen Werke von Boerhave1 erklären, der die menschlichen Kenntnisse über die Ursachen der Krankheiten und ihre Heilmittel anscheinend so weit gefördert hat, als unsre Fassungskraft reicht? Ein gleiches gilt von der Astronomie und Mathematik. Es ist nützlich, alle Systeme von Ptolemäus bis Newton durchzugehen, aber der gesunde Menschenverstand gebietet, bei dem letzteren stehenzubleiben, da es das vollkommenste und von Irrtümern am meisten gereinigte ist. Halle besaß vorzeiten einen großen Mann, einen geborenen Lehrer der Philosophie. Sie erraten, daß ich den berühmten Thomasius meine2. Man braucht nur seine Methode zu befolgen und ebenso zu lehren. Überdies haben die Universitäten die Philosophie noch nicht vom Roste der Pedanterie gesäubert. Man lehrt zwar nicht mehr den Aristotelischen Formelkram noch die Universalia a parte rei. Aber der doctissimus sapientissimus Wolffius3 hat in unsren Tagen den alten Schulhelden ersetzt, und an die Stelle der substantiellen Formen sind die Monaden und die prästabilierte Harmonie getreten, ein ebenso widersinniges und unverständliches System wie das aufgegebene4. Unverändert wiederholen die Professoren diesen Wust, weil sie sich mit den Kunsiausdrücken vertraut gemacht haben und weil es Mode ist, Wolffianer zu sein.
Eines Tages war ich in Gesellschaft eines jener Philosophen, des starrsten Vertreters der Monadenleyre5. Ich wagte ihn bescheidentlich zu fragen, ob er nie einen Blick in die Werke von Locke getan hätte. „Ich habe ihn ganz gelesen“, erwiderte er barsch. — „Ich weiß, mein Herr,“ entgegnete ich, „daß Sie dafür besoldet werden, alles zu wissen. Aber was halten Sie von Locke?“ — „Er ist ein Engländer“, erwiderte er trocken. — „Und wenn er auch zehnmal ein Engländer ist,“ fuhr ich fort, „er kommt mir doch sehr weise vor. Stets hält er sich am Faden der Erfahrung, um sich in den Finsternissen der Metaphysik zurechtzufinden. Er ist vorsichtig, er ist verständlich, was ein großes Verdienst für einen Metaphysiker ist, und ich glaube durchaus, daß er wohl recht haben könnte.“ Bei diesen Worten stieg dem Professor das Blut ins Gesicht. Ein sehr unphilosophischer Zorn drückte sich in seinem Blick und in seinen Gebärden aus, und mit erhobener Stimme dozierte er mir: wie jedes Land sein verschiedenes Klima hätte, so müßte auch jeder Staat seinen nationalen Philosophen haben. Ich erwiderte, die Wahrheit wäre in allen Ländern zu Hause, und es sei zu wünschen, daß recht viel davon zu uns käme, sollte sie auch an den Universitäten für Kontrebande gelten.
Übrigens wird die Mathematik in Deutschland nicht so gepflegt wie in den andren europäischen Ländern. Man behauptet, die Deutschen hätten leine Begabung für Mathematik, was gewiß falsch ist. Die Namen von Leibniz und Kopernikus beweisen das Gegenteil. Der Grund ist meines Erachtens der, daß es dieser Wissen-
1 Vgl. S. 81 und 218.
2 Vgl. S. 92.
3 Vgl. S. 86.
4 Vgl. S. 40 f. 90. 96. 236.
5 Wahrscheinlich der Philosophieprofessor Georg Friedrich Meyer in Halle, den der König bei seinem dortigen Besuche am 16. Juni 1754 lennen lernte.