<280>nisse angeeignet, und das macht Ihre Unterhaltung so reizvoll und fesselnd, daß man, von Ihnen getrennt und Ihren Worten entrückt, wenigstens den Trost haben möchte, Sie zu lesen. Wenn Sie die Güte haben wollten, meine Wißbegier zu befriedigen und mir Ihre Anschauungen mitzuteilen, so würden Sie den Gefühlen der Achtung und Freundschaft, die ich für Sie hege, noch das der Dankbarkeit Hins zufügen. Vale!
2. Brief des Philopatros
Die liebenswürdigen Ausdrücke, mit denen Sie mich bedenken, waren mir äußerst schmeichelhaft. Ich verdanke sie allein Ihrer Höflichkeit und nicht der Aufnahme, die ich Ihnen bereitete. Sie erkennen meine gute Absicht an, obwohl die Taten ihr nicht so entsprachen, wie ich es gewünscht hätte. Ich hätte Sie durch muntere und aufgeräumte Plaudereien erheitern sollen. Statt dessin lenkte ich die Unterhaltung auf ernste und wichtige Gegenstände. Ich allein trage die Schuld daran. Ich führe eine sitzende Lebensweise, bin von Krankheit geplagt und dem Treiben der großen Welt entrückt. Durch die Lektüre hat sich mein Geist allmählich dem Nachsinnen zugewandt; mein Frohsinn ist dahin und die trübe Vernunft hat ihn ersetzt.
Unwillkürlich sprach ich mit Ihnen so, wie ich denke, wenn ich in meinem Arbeitszimmer allein bin. Ich hatte den Kopf voll von der Republik von Sparta und Athen, deren Geschichte ich gelesen hatte, und von den Bürgerpflichten, über die Sie eine ausführlichere Erklärung wünschen. Sie tun mir zuviel Ehre an. Sie halten mich für einen Lykurg, einen Solon, mich, der nie Gesetze gegeben, sich nie mit einer andren Regierung befaßt hat als der meiner Güter, auf denen ich nun schon seit Jahren in tiefster Zurückgezogenheit lebe. Da Sie indes zu erfahren wünschen, worin nach meiner Meinung die Pflichten eines guten Bürgers bestehen, so seien Sie überzeugt, daß ich diesem Wunsche nur willfahre, um Ihnen zu gehorchen, nicht aber, um Sie zu belehren.
Die neuere PHUosophie verlangt mit Recht, daß man Begriff und Sache zuerst definiere, um Mißverständnissen vorzubeugen und die Gedanken auf bestimmte Gegenstände zu richten. Ich definiere also den guten Bürger, wie folgt. Er ist ein Mann, der es sich zur unverbrüchlichen Regel gemacht hat, der Gesellschaft, deren Mitglied er ist, nach besten Kräften zu nützen, und zwar aus folgendem Grunde. Der Mensch kann als Einzelwesen nicht bestehen. Selbst die barbarischsten Völker bilden kleine Gemeinwesen. Die gesitteten Nationen, die ein Gesellschaftsvertrag1
1 Diese von J. J. Rousseau in seinem „Contrat social“ (1762) gebrauchte Bezeichnung des von der Naturrechtslehre angenommenen Vertrages kommt auch in der Abhandlung über die Regierungs, formen und Herrscherpflichten (vgl. Bd. VII, S. 225 ff.) vor.